Intuition & freier Wille: „Bin Gefühlen nicht ausgeliefert“

Stephanie Doms
eins
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9 min readJan 26, 2021

Einen Pfarrer zum Thema Intuition zu befragen, ist easy, dachte ich. Da weiß man, was kommt: Wir werden über Eingebung sprechen und darüber, dass diese von Gott kommt. Nette O-Töne zu spirituellem Geplänkel. Dachte ich. So klar war die Sache dann aber doch nicht. Im Gespräch mit Tom Stark trafen mich freier Wille und protestantische Nüchternheit recht unvermittelt. Es passierte, was ich gerne mag: Mit ein paar Antworten tauchten viele neue Fragen auf. Und alles bleibt offen.

Lieber Tom, wie definierst du Intuition?

Intuition im gebräuchlichen Sinne wird meist für ein starkes Gefühl von „So und so wird’s laufen“ verwendet. Wenn man dieses Gefühl nicht genau benennen kann, nennt man es halt Intuition. Genauso gut könnte man aber auch Bewusstsein, Wahrnehmung, Vermutung oder ähnliches dazu sagen. Ich verstehe Intuition als Platzhalterbegriff. Entscheidender finde ich die Frage, woher die Intuition kommt. Für manche ist der Grund Empathie, für andere Schwingung, für wieder andere etwas ganz anderes. Für mich wird Intuition klar von der Erfahrung getragen.

Also ist Intuition etwas, das im Kopf passiert?

Intuition heißt für mich, dass Kopf und Bauch in eins fallen. Sonst läuft es ja oft mehr so: Bauch sagt: „Das wär’s!“ Kopf antwortet: „Bist deppert?“ Oder umgekehrt. In intuitiven Momenten treffen sich die beiden. Darum sind manche Menschen wahrscheinlich davon überzeugt, dass die Intuition nicht täuscht. Ich denke, dass es eine große Kunst ist, auf seine Intuition oder seine innere Stimme zu hören. Letztere muss laut genug sein, um gegen Unsicherheit anzukommen.

Intuition wird ja oft als etwas verstanden, dem man spontan folgt. Man nimmt zum Beispiel eine andere Route als sonst zur Arbeit — und wenn man dann hört, dass auf der üblichen Strecke zur selben Zeit ein Unfall passiert ist, denken manche: Puh, intuitiv richtig entschieden. Wie siehst du das? Hält da jemand seine Hand drüber?

Ich nenne das Zufall. (lacht) Trotz meines Jobs haben solche Situationen für mich nichts Mystisches, Romantisches oder Transzendentes. Das war halt einfach Glück, und das nehme ich dann auch so hin. Ich habe mich noch nie dabei ertappt, dass ich dachte: „Wollte mir das Universum damit etwas sagen?“ Ich habe vor einiger Zeit eine Doku über Wünschelrutengeher im Fernsehen gesehen. Ein Mann gab vor, er könne alles Mögliche mit der Wünschelrute aufspüren. Es wurden Gegenstände versteckt und dieser Mann musste sie suchen. Heraus kam: Er lag genauso oft richtig, wie jeder andere ohne Wünschelrute. Also alles eine Frage der mathematischen Wahrscheinlichkeit. Das hat mich beeindruckt.

Wird Intuition also überwertet? Bringt es gar nichts, der Intuition Platz zu geben?

Ich bin sehr wohl überzeugt, dass Begebenheiten an Tiefe und Größe gewinnen, wenn wir ihnen Bedeutung beimessen.

(Sieht zum Fenster hinaus) Jetzt schneit es gerade. Du könntest mich fragen: „Tom, interpretierst du da etwas hinein?“ Und ich würde antworten: „Nein, das ist halt so.“ Kann man ja auch gut erklären, warum es jetzt schneit. Es ist ja nichts, was mich weiterbringen würde, wenn ich da etwas hineininterpretieren würde. Es ist einfach etwas Alltägliches, das halt gerade so passiert. Für mich hat es keine Bedeutung, für dich vielleicht schon.

Kann also alles Gott sein oder auch nicht — ich entscheide?

Mit meinem freien Willen kann ich nach Gott zu fragen oder auch nicht. Bin ich bereit dieses Gefühl von Intuition mit etwas Größerem zu verknüpfen oder nicht? Selbst wenn das Bauchgefühl mir etwas mitteilt, bin ich meinen Gefühlen ja trotzdem nicht ausgeliefert. Ich kann weiterhin entscheiden: Das ist Zufall und das nicht. Das ist eine Gotteserfahrung und das nicht. Und so ist es dann auch.

Also ist es mehr eine Frage der Interpretation und vielleicht auch der Selbsttäuschung?

Nein, es ist ja deine Erfahrung, deine Wahrnehmung, dein Bewusstsein. Deine Intuition kann für dich etwas sehr Positives sein und für mich völliger Unsinn, und umgekehrt genauso. Ich denke, die eine Intuition gibt es nicht. Es gibt viele verschiedene Realitäten — und es gibt die eine Wahrheit, die für uns nicht zugänglich ist. Wir erhalten manchmal klitzekleine Fäden, die uns einen Eindruck vermitteln können, wie die Wahrheit aussieht. Diese Fäden können wir aufnehmen, wenn wir wollen, oder auch nicht.

Ein Beispiel wäre meine erste Gotteserfahrung: Ich war damals 10 oder 11. Mein Vater und ich waren auf Schiurlaub. Es einem Tag hat es geregnet und das Wetter war nicht wirklich gut fürs Schifahren. Also sind wir mit der Gondel auf den Ötscher rauf und von da aus zu Fuß weiter Richtung Gipfel. Ich habe die ganze Zeit so vor mich hin gebetet: „Gott, ich rede mir hier den Mund fusselig. Wenn es dich gibt — dann gib mir doch bitte mal ein Zeichen.“ Und da riss die Wolkendecke auf und ein Sonnenstrahl fiel zur Erde. Nicht auf mich, das wäre kitschig gewesen. Aber es war doch so, dass ich es als Antwort auf meine Frage verstand. Es war Antwort genug zu wissen: Ich bin mit Gott auf einer Wellenlänge. Diese Erfahrung hat mich zu dem Zeitpunkt und für den Rest meines Lebens beeindruckt und nachhaltig verändert.

Das Spannende: Mein Vater war ja auch dabei. Der hat das auch erlebt — aber für ihn war derselbe Moment nichts als ein zufälliges Ereignis. Schön zwar — sofern er es überhaupt zu dem Zeitpunkt wahrgenommen hat — aber keine Gotteserfahrung. Zwei Menschen, zwei unterschiedliche Erfahrungen.

Du hast dich also auf die Antwort mental vorbereitet. Theoretisch hätte ja alles Mögliche passieren können und du hättest es als Zeichen verstanden. Du hast gesucht, also hast du auch etwas gefunden.

Genau. Glauben ist eine Verknüpfungsleistung. Ich gewinne Eindrücke und mache Erfahrungen — und diese bringe ich mit Gott oder etwas Höherem in Verbindung. Vielleicht auch mit der Intuition. Die Begriffe sind dann ja austauschbar. Es braucht in jedem Fall eine Erwartungshaltung und die Bereitschaft, Ergebnisse offen anzunehmen.

Man hört ja aber doch auch immer wieder von Menschen, die keine Erwartungen an Gott, die Intuition oder anderes haben — und die dann trotzdem solche Erfahrungen machen, die ihnen Gewissheit vermitteln. Woher kommt diese Eingebung?

Wenn es Gott gefällt, kann er in das Leben eines jeden Menschen einsteigen — auch in das Leben von Menschen, die nicht darauf vorbereitet sind. Warum nicht?! Ich kann mir gut vorstellen, dass Gott das gefällt. Ist ja sein freier Wille. (lacht) Ich kenne einen Mann, der lange Zeit keinerlei Berührung mit dem Glauben hatte. Dann wurde er krank und musste operiert werden. Er bekam eine Wurschtigkeitsspritze, und kurz bevor er wegdämmert, sah er plötzlich — Jesus an seinem Bett stehen. Und der sagte: „Hey, es wird alles gut.“ Dann war die OP, sie verlief gut, der Mann genas. Und das erste, was er tat, als er aus dem Krankenhaus kam? Er ging zum Pfarrer und sagte: „Ich glaube!“ Dieser Mann hat sich nicht ausgesucht, dass Jesus da erscheint. Bei jemandem, der in der DDR aufgewachsen ist, wäre eine Erscheinung von Erich Honecker ja naheliegender gewesen. Aber es war Jesus.

Also hat Intuition doch nicht so viel mit Erfahrung zu tun? Ist es also überflüssig, sich mental vorzubereiten, Glaubensfragen auf den Grund zu gehen, zu üben und zu beten, wenn ich die innere Weisheit auch einfach so finden kann?

Es gibt so viele Zugänge und Türen. Übung und ständige Wiederholung sind sicher probate Mittel, um diese Erfahrungstüren aufzustoßen. Aber es kann eben auch anders laufen. Für mich hätte diese erste Gotteserfahrung, die alles in andere Bahnen gelenkt hat, gereicht. Davon zehre ich heute noch. Ich hatte dann zwar noch zwei weitere, ganz andere Erfahrungen, die ich klar mit Gott verknüpfe. Aber nötig wären sie nicht mehr gewesen. Ist wahrscheinlich meiner protestantischen Nüchternheit geschuldet. Sensation, Ekstase, Versenkung — das brauch ich nicht jeden Tag. Verwehren tue ich mich zwar nicht, aber ich suche nicht danach. Die erste Gotteserfahrung war verändernd genug.

Im Gegensatz zu dem Mann im Krankenhaus warst du aber vorbereitet. Was entscheidet bei Menschen, die nicht suchen, darüber, ob sie etwas finden und intuitiv sagen: „Boah, das ist ES?“

Moses zum Beispiel hatte keine Frage. Zumindest nicht nach Gott. Seine einzige Frage war vermutlich: Wo bekomme ich Gras für meine blöden Schafe her? Er war nicht auf einer spirituellen Reise, sondern stand mitten im Alltag, der ihn wahrscheinlich sogar ziemlich angezipft hat. Und da platzt plötzlich ein brennender Dornbusch hinein. Brennende Dornenbüsche hatte er ja schon viele gesehen. Aber dieser eine da, der verbrannte nicht. Das hat ihn überrascht. Und er ist intuitiv seiner Neugier gefolgt. Das brachte ihn zu einer völlig neuen Tiefe, es zeigten sich neue Facetten außerhalb seiner bisherigen Erfahrungen. Einfach weil er intuitiv einen Moment länger hingeschaut hat als sonst und etwas Neues erkannt hat. Wahrscheinlich braucht es für Intuition die Fähigkeit sich zu wundern.

Und wenn nun jemand diese Fähigkeit nicht besitzt?

Du meinst, was Menschen daran hindert, in etwas Gutem Gott zu sehen? Gute Frage. (überlegt) Es gibt da diese Geschichte in der Bibel: Jesus fährt mit seinen Jüngern in einem Boot auf den See Genezareth hinaus. Er schläft ein. Ein Sturm kommt auf. Es gibt in dieser Geschichte ein interessantes Detail. Es heißt dort: „Es waren noch andere Boote bei ihnen.“ Und alle waren in Seenot. Die Männer, die in Jesus Boot waren, weckten ihn, sie baten ihn um Hilfe — und es geschah ein Wundern. Die Menschen in den anderen Boote? Die wurden auch gerettet. Für die war es halt kein Wunder, sondern wahrscheinlich einfach Zufall oder Glück.

Intuition als Platzhalterbegriff kann genauso gut für den Glauben verwendet werden. Das eine wie das andere verändert nicht dein Leben — aber es verändert dich. Du ziehst dir weiterhin Holzsplitter ein, du kannst weiterhin Krebs bekommen — aber deine Reaktion darauf verändert sich, deine Resilienz, dein Bewusstsein, deine Einstellung zu den Dingen.

Entscheidender als eine Eingebung aus dem Außen ist also, was in mir drinnen passiert, wie ich zu diesen Themen eingestellt bin?

Das Außen braucht es immer als Korrektiv. Sonst läuft man Gefahr, immer nur um sich selber zu kreisen. Menschen, die dieselben Fragen haben, aber Antworten anders hören — solche Gemeinschaften schärfen den Glauben und machen ihn konkreter.

Ob Einzelperson oder Kollektiv: Entscheidend für jede Eingebung ist, welchen Resonanzkörper ich dafür bilde. Wenn ich eine weiche Matratze bin und mich trifft ein Ball, wird dieser einfach liegen bleiben. Bin ich aber eine Wand, passiert mit dem Ball etwas ganz anderes.

Zur Beschäftigung mit der Intuition hat mich ja eigentlich die Frage geführt, ob es eine innere Weisheit gibt, die in allen Menschen in gleicher Weise angelegt und zugänglich ist.

So wie Instinkte?

Ja, vielleicht, zu der Überlegung kam ich auch. Was meinst du, was haben Intuition und Instinkte miteinander zu tun?

Vielleicht ist Intuition das schönere Wort für Instinkt. Intuition für Menschen, Instinkte für Tiere. (lacht) Wenn verschiedene Tiere dieselben Instinkte haben, müsste das mit der Intuition bei Menschen ähnlich sein. Grundsätzlich denke ich schon, dass man Intuition nicht „machen kann“, man muss sie erleben.

Welche Rolle spielt Intuition in deinem Leben?

In der Retrospektive. In der nachträglichen Einordnung von Erfahrungen. Da sage ich dann durchaus über Entscheidungen: „Die habe ich intuitiv getroffen.“ Intuition ist allerdings nichts, was ich vor mir hertrage und wovon ich eine Entscheidung abhängig mache. Intuition heißt für mich nicht: Ich schiebe eine Entscheidung lange vor mir her und irgendwann entscheidet dann der Bauch.

Was würdest du als eine intuitive Entscheidung bezeichnen?

Die Anschaffung des ersten gemeinsamen Hundes. Wir haben nicht zuvor eine Plus-Minus-Liste geschrieben, uns gefragt, wie das unser Leben verändern würde und so weiter. Wir sind zum Züchter gefahren mit der Haltung: Schaun ma mal. Aber schon während der Hinfahrt habe ich gewusst: Das wird passen. Mir war da eigentlich schon klar, dass wir mit einem Hund heimkommen würden.

Warum?

Da war kein Abwägen da, nichts was durchdacht werden musste. Als die Frage nach einem Hund Platz hatte, war die Entscheidung eigentlich schon klar.

Spontaneität spielt also bei Intuition eine Rolle?

Zumindest sind sich Spontaneität und Intuition ähnlich. Beide kennen keine Zurückhaltung, entweder man ist es, oder nicht.

Und trotzdem gibt es Menschen, die sich mit Intuition und Spontaneität schwer tun…

Menschen, die immer alles abwägen, haben genauso das Potenzial, spontan zu sein, wie alle anderen auch. Aber sie erlauben es sich nicht so leicht. Da kommt schneller der Schranken runter: „Stopp! Jetzt denken wir erst mal darüber nach!“

Du inspirierst mit deinen Gebeten zum Tag via WhatsApp und Facebook. Wie wählst du aus, worüber du sprichst?

Intuitiv. (lacht) Ich höre in mich hinein und klopfe die Themen ab. Als würde ich durch den Wald gehen und an verschiedene Stämme klopfen. Von manchen Bäumen fällt ein Thema runter, von anderen nicht. Manchmal fällt mir das Thema spontan zu, und dann wieder muss ich länger klopfen.

Tom Stark, geboren 1977, aufgewachsen in Linz, Punrock („Eh kloa!“), Studium evangelische Fachtheologie, seit 2007 Pfarrer in Ried, verheiratet mit Claudia, Hundeherrl

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Stephanie Doms
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Wortspielerin und Freudentänzerin. Texterin, Autorin, Yoga- und Mentaltrainerin. www.stephaniedoms.com