Intuition zeigt „wo a Radl im Dreck rennt“

Stephanie Doms
eins
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8 min readJan 15, 2021

Wie sieht jemand, der Punk Rock hört und eine sehr unverblümte Sprache pflegt, das manchmal etwas esoterisch-blumig besetzte Thema Intuition? Um das herauszufinden, habe ich den Andersmacher, Art Director und Corporate Designer Max Niederschick befragt.

Markus Niederschick © Peter Draxl

Lieber Max, Intuition — was heißt das für dich?

Die heute übliche Definition geht von einer spontanen Idee aus. Für mich ist genau das Gegenteil der Fall. Der Begriff bedeutet aus dem Lateinischen übersetzt „etwas ansehen, betrachten“. Für mich heißt das: Ich setze mich mit etwas auseinander und das führt dann zu einer Lösung oder Idee. Das kann natürlich spontan funktionieren, muss es aber nicht. Manchmal weiß ich vielleicht schon nach 10 Minuten Briefing mit einer Kundin/einem Kunden, wie das neue Logo aussehen wird. Ein andermal wieder bedeutet Intuition, dass ich zwar nicht sofort die Lösung finde, aber mir der Weg dorthin aufgezeigt wird. Dann sagt mir die Intuition: Dort und da musst du nochmals genau hinschauen und vielleicht auch etwas verändern.

Von was hängt Intuition dann deiner Meinung nach ab, wenn nicht von einer spontanen Eingebung?

Nennen wir es „intuitives Handeln“. Intuitives Handeln hat für mich viel damit zu tun, was man in seinem Leben bereits mitgenommen hat, also welche Erfahrungen man gemacht hat. Da spielt Ausbildung ebenso eine Rolle wie Lebensstil und Werte. Ich bin seit 30 Jahren in diesem Job tätig. Ich schleppe also bereits einen großen Rucksack mit — im positiven Sinn. Das prägt mein intuitives Handeln. Ich krame in meinem Rucksack, und was ich darin finde, gleiche ich automatisch mit der Situation ab, die sich mir stellt.

Wann handelst du in deinem Job intuitiv?

Intuition ist in allen Bereichen relevant. Am meisten dann, wenn ich Neues schaffen darf. Manchmal ist es auch ein Muss: Dann ist die Herausforderung, etwas zu gestalten, groß. Grundsätzlich spielt Intuition immer dann eine Rolle, wenn ich eine Lösung finden darf. Das kann in der visuellen Gestaltung genauso der Fall sein wie im Beratungsgespräch. Es geht immer darum zuzuhören und dann entsprechend zu reagieren. Einmal haben wir einen Neukunden betreut. Es ging zwar in erster Linie um Unternehmensberatung, aber ich wurde als Gestalter für einen halben Tag zum Workshop dazu geholt, um Kreativitätstechniken einzubringen. Nach einer halben Stunde war für mich völlig klar, was passieren würde. Ich habe mich zurückgelehnt und beobachtet. Nach drei Stunden kam die Geschäftsführung zu mir und meinte: „Warum bist du eigentlich hier? Seit drei Stunden sitzt du hier und sagst kein Wort.“ Meine Antwort: „Für mich ist die Sache klar. Es geht darum, dass ihr selber draufkommt.“ Kurz vor Schluss des Workshops war es dann wirklich so, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer exakt das formuliert haben, was ich schon nach einer halben Stunde gewusst habe.

Das heißt, Intuition ist mehr als nur der erste, schnelle Geistesblitz?

Manchmal führt mich Intuition rasch zum Ziel. Und dann wieder hilft mir die Intuition, mehr herauszufinden, um die Sache besser einschätzen zu können und herauszufinden, was der Weg ist. Manchmal kommt die Bestätigung, dass etwas gut ist, schnell, und manchmal erhält man im Prozess die Bestätigung für das Gefühl, dass etwas noch nicht ganz klar ist und man sich etwas genauer ansehen muss. Aber wenn dann eine Kundin/ein Kunde schlussendlich auch nach 25 Jahren immer noch erfolgreich mit dem Logo ist, das ich gestaltet habe, passt das dann insgesamt ja auch.

Kann die Intuition auch falsch liegen?

Es gibt natürlich immer auch Entscheidungen, von denen man rückblickend weiß, dass sie nicht die richtigen waren. Schwer wird’s, wenn mir meine Intuition sagt, dass ich etwas tun soll, was aber in eine völlig andere Richtung geht als anfangs angenommen. Einmal kam ein Kunde und sagte: „Ich brauche einen Folder.“ Keine große Sache. Doch drei Wochen nach dem Briefing hatte ich immer noch keine Ahnung, wie ich es angehen sollte. Die Gespräche im Team und die Intuition sagten: „Ich glaube, der Kunde braucht keinen Folder.“ Das habe ich ihm gesagt und ihn gebeten, die Sache nochmals zu besprechen. Und wir kamen drauf: Der Kunde brauchte wirklich keinen Folder. In Wahrheit hatte der Inhaber die Firma von seinem Vater übernommen und war mit dem gesamten Auftritt unzufrieden. Schlussendlich haben wir das komplette Erscheinungsbild neu aufgezogen. Und alle waren happy. Einen Folder hat der Kunde übrigens heute noch nicht.

Intuition ist einerseits etwas sehr Positives, aber manchmal kann sie auch echt brutal sein und dich so richtig runterholen, weil sie dir zeigt: Da rennt a Radl im Dreck und es ist nicht alles Halligalli. Das kann weh tun. Aber wenn mich die Intuition darauf stößt, ich genauer hinschaue und erkenne, was besser wäre, dann ist das ja auch wieder etwas Gutes.

Reagiert jedes Gegenüber gleich gut auf schonungslose Richtungswechsel?

Es ist leicht zu sagen: „Das und das biete ich dir in meinem Bereich als Lösung an. Was davon brauchst du?“ Schwerer ist es zu sagen: „Mit dem, was ich biete oder was du glaubst zu brauchen, liegst du völlig falsch.“ In unserer Branche geht es immer noch häufig darum, dass einer zahlt und einer leistet, was gefordert wird. Aber das Geforderte muss nicht immer das sein, was Erfolg bringt. Das ziehen wir hier in unserer Agentur durch: Wir gehen nicht mit fertigen Lösungen ins Gespräch, sondern erarbeiten alles zumindest in Kleinstworkshops. Auch wenn wir Gefahr laufen, dass wir ohne Auftrag wieder zur Tür rausspazieren, kann es sein, dass wir sagen: „Ich vermute, dass ich deshalb nicht weiterkomme, weil das, was du willst, nicht das ist, was du brauchst.“ Andere Sichtweisen sind wichtig. Darum schaut in solchen Situationen meist auch nochmals eine Kollegin drauf. Bisher war es aber nie so, dass sie zu einer anderen Einschätzung kam als ich nach einer ersten intuitiven Betrachtung.

Was würde passieren, wenn man den Richtungswechsel, den die Intuition vorschlägt, nicht durchführt? Beispielsweise, weil die Kundin oder der Kunde nicht mitspielt?

Wenn Menschen mit ähnlichen Werten zusammenkommen, geht man den Weg auch dann zusammen weiter, wenn sich die Richtung ändert. Wenn eine Kundin/ein Kunde aber all meiner Expertise zum trotz sein Ding durchziehen will, ist das Ergebnis in der Regel qualitativ schlechter. Zu dem Zeitpunkt merkt es dann meist auch die Kundin/der Kunde und man holt sich als Dienstleister die Watschn ab. Darum sind uns Workshops so wichtig. Die Auftraggeberin/der Auftraggeber muss schon auch bereit sein zu kommunizieren und Zeit zu investieren.

Hilft die Intuition dabei, besser einzuschätzen, was das Gegenüber braucht?

Wie schnell man das einschätzen kann, hat weniger mit Intuition zu tun, sondern mit einem ähnlichen Wertebild. Dieses muss nicht mal direkt ausgesprochen werden. Das findet oft in einer ganz anderen Form von Dialog statt. Wenn die Wertebilder zusammenpassen, tut man sich leichter beim Kommunizieren. Es ist einfacher, Ideen einzubringen und umzusetzen, weil man Gedanken nicht von 0 auf erklären muss. Aber auch wenn die Wertebilder nicht zusammenpassen, hilft mir die Intuition zumindest dabei, einfühlsam zu sein, genau hinzuhören und hinzuschauen.

Wir sitzen uns gerade per Bildschirm gegenüber. Beeinflusst das die intuitive Kommunikation?

Uh, eine gefährliche Frage heutzutage. (lacht) Wir leben in einer digitalen Welt. Das macht vieles erst möglich, zum Beispiel, dass wir dieses Gespräch trotz Lockdown führen können. In vielen Bereichen ist es für mich aber trotzdem ein billiges Substitut und definitiv keine dauerhafte Lösung. So wie Lachsersatz: Der ist zwar dreimal so rot wie richtiger Lachs, schmeckt aber trotzdem scheiße. Ich bin überzeugt: Die Intuition braucht das Körperliche und Präsente. Beispielsweise muss ich mich während Gesprächen und Workshops durch den Raum bewegen können. Auch die körperliche Präsenz des Gegenübers ist im digitalen Raum eine andere. So wie wir hier sitzen, sind wir zwei Torsi, die miteinander reden. Theoretisch könnte ich gerade unterm Schreibtisch einen Rock tragen oder Daumenkino spielen.

(Bei mir läuft das Kopfkino. Aber ich bemühe mich um eine schlaue Frage:) Hängt das mit Authentizität zusammen? Und welche Rolle spielt Authentizität in Bezug auf Intuition?

Authentizität unterstützt intuitives Handeln. Das hat was mit Offenheit zu tun: Je offener ich bin, umso authentischer werde ich wahrgenommen. Ist mein Gegenüber offen, können Fragen leichter gestellt und beantwortet werden.

Bist du immer gut mit deiner Intuition verbunden?

Grundsätzlich ja. Aber das hat mit meiner ganzheitlichen Verfassung zu tun. Wenn ich mich kränklich fühle, nicht ausgeschlafen bin oder Sorgen habe, dann ist die Intuition schwerer erreichbar. Kreativitätstechniken können dann helfen.

Welche Techniken nutzt du am häufigsten?

Analoges Handeln hilft mir sehr, um intuitiver und kreativer zu sein. Im kleinsten Maßstab: Skizzenbuch und ein paar Stifte. Im besten Fall: A1 und A0 Blätter und meine Tuschefedern. Damit zeichne ich am liebsten geometrische Formen. Was mit Tuschefedern a ziemliche Hackn ist. Da werden Kreise oft unvollständig. Dort und da fehlt etwas. Aber das macht es aus: Wenn ich das Vollkommene im Unvollkommenen sehe, öffnet mir das auch im Denken neue Wege und Möglichkeiten.

Ich gehe auch gerne raus in den Wald, an dem unser Büro liegt. Ohne Handy. Einfach rausgehen und eine halbe Stunde, Stunde in der Natur verbringen. Das hilft mir, die Gedanken klarer werden zu lassen und sie zu sortieren. Grundsätzlich ist es gut, die Gedanken auszumisten. So entsteht überhaupt erst Platz für neue Ideen und neue Wege. Darum ist es wichtig, gut für mich zu sorgen, sonst wird dieser Platz von anderen Themen besetzt, wie beispielsweise Sorgen.

Wovon hängt es ab, welche Kreativitätstechnik du auswählst?

Von der Intuition. (lacht) Für mich persönlich nutze ich gerne die klassischen Techniken, wie Mindmaps und alles, was das verknüpfte Denken fördert. Für unsere Kund*innen haben wir unterschiedliche Canvases entwickelt, aber da wechseln wir die Techniken in der Regel. Wir greifen in der Agentur auf ein Repertoire an gut 100 Methoden zurück. Sie alle unterstützen das Zuhören und das Hinschauen. Wichtig bei der Auswahl ist die Frage: Was soll beantwortet werden? Passend zur Aufgabenstellung wähle ich dann intuitiv die Technik, mit der ich mich am wohlsten fühle. Und damit fühlt sich dann auch in der Regel die Kundin/der Kunde am wohlsten.

Sich Zeit nehmen und Klarheit schaffen, verbindet dich also mit deiner Intuition und Kreativität?

Ja. Darum mag ich auch Holz- und Linolschnitte so gerne. Dafür braucht es Zeit. Eine wunderschöne Erfahrung. Die wenigsten Kund*innen können und wollen das heute noch bezahlen. Aber für einen Freund habe ich vor einigen Jahren viel Herzblut in die Gestaltung eines Posters gesteckt. Das hängt heute in einer permanenten Ausstellung in Berlin. Zwar sehe ich mich nicht als Künstler, aber manchmal habe ich so ein Gefühl von „Das muss jetzt einfach sein“. Das ist Teil der Intuition, ein Gefühl von Antrieb, das mich Ideen und Lösungen näherbringt.

Hast du schon immer intuitiv gehandelt?

In gewisser Form war das sicher von Anfang an so. Ich wollte schon immer etwas machen, womit ich anderen Menschen im besten Fall eine Freude machen kann. Und anderen zu beruflichem Erfolg zu verhelfen, ist da für mich ganz ähnlich. Freude, Spaß — das sind wichtige Triebfedern. Dann ist es einfach, intuitiv zu leben und das zu kultivieren. Wenn ich weiß, was ich gerne mache und das dann auch mache, treibt das die Intuition so richtig voran.

Markus Niederschick wurde seinerzeit vom Rektor höchstpersönlich von der Schule geschmissen. Hat aber nichts geändert an seiner Leidenschaft: Seit über 30 Jahren ist er als Art Director mit Schwerpunkt Magazin und Corporate Design tätig — ein Beruf, den er als Berufung versteht. Weil er nicht nur große, sondern auch kleine Menschen ein bisschen glücklicher machen möchte und der Überzeugung ist, dass das Unbeschwert-Kindliche bewahrt gehört, schreibt er auch Kinderbücher.

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Stephanie Doms
eins
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Wortspielerin und Freudentänzerin. Texterin, Autorin, Yoga- und Mentaltrainerin. www.stephaniedoms.com