Zeithorizont der Digitalisierung in der Logistik

Carsten Fleischer
Evertracker Think Blog
5 min readFeb 21, 2017

Die Digitalisierung ist in aller Munde. Konsens besteht darüber, dass wir vor tiefgreifenden Änderungen durch die Digitalisierung stehen. Konfusion herrscht bei der Frage des Zeithorizonts. 5 Jahre? 20 Jahre? 50 Jahre? Menschen haben Probleme, die Vergangenheit und die Zukunft zuverlässig einzuschätzen. Doch wie beeinflusst diese eingeschränkte menschliche Wahrnehmung die Veränderungen? Was bedeutet das für die Logistik?

Gangnam Style

Hätten Sie gedacht, dass “Gangnam Style” im Jahre 2017 schon 5 Jahre alt geworden ist? Als wenn das nicht schlimm genug wäre, “Rhythm is a dancer” hat gar schon 25 Jahre auf dem Buckel. Als ich Abitur gemacht habe, war die Auflösung der Beatles ebenfalls 25 Jahre her und die liefen bei mir eher unter “Historisches Ereignis” als unter Popmusik.

Psychologen fragten einmal in einer Studie Teilnehmer, wie schnell die letzten zehn Jahre ihrem Empfinden nach vergangen waren. Für Teenager war diese Zeitspanne langsam verstrichen, für junge Erwachsene schneller, für ältere noch schneller.Menschen haben beim Einschätzen von Zeitspannen, die in der Vergangenheit liegen ein Problem. Zeit scheint auch in verschiedenen Lebensabschnitten unterschiedlich schnell zu vergehen.

Vorstellung der Zukunft

Wenn es mit der Einschätzung der Vergangenheit schon schwierig ist, wie ist es um unsere Vorstellungskraft für die Zukunft bestellt?

Zu Jules Vernes Zeiten kam die Idee der Rohrpost auf. Die Vision war ein immer schnelleres und verzweigteres Netz, das irgendwann weltweit funktioniert. Erst kamen die Fax-Geräte, dann das Internet. Das Thema Rohrpost ist heute nicht mehr brandaktuell.

In den 60er Jahren wurde von einem damals bedeutenden Zukunftsforscher vorhergesagt, dass die DDR im Jahr 2000 in Europa die zweitstärkste Volkswirtschaft haben wird, direkt nach der BRD. Nicht allein der Zusammenbruch des Ostblocks kam dieser Einschätzung in die Quere. Schaut man sich Zukunftsvorstellungen der 60er Jahre an, so liest man über total automatisierte Haushalte, wohnen auf dem Mond und kilometerhohe Wolkenkratzer.

Lineares Fortschreiben

Warum wurden diese Szenarien von der Realität eingeholt? Wir neigen dazu, die Probleme unserer Zeit, unsere Ziele und Wünsche linear in die Zukunft weiter zuschreiben. Paradigmenwechsel, also Änderungen in der Weltsicht, sind schwierig in solche Szenarien einzubauen.

Vorstellung über Zukunft und Vergangenheit bei Menschen ist recht schwierig. Die frohe Botschaft lautet, dass das auch für Menschen aus dem Silicon Valley gilt. Den Menschen dieser Region sagt man am ehesten nach, die Zukunft zu antizipieren. Jedoch wird auch dort nicht jeden Tag literweise Wasser aus der Quelle der Erkenntnis getrunken, um die Zukunft perfekt vorherzusagen.

Quelle

Nun ist das Wohnen in kilometerhohen Wolkenkratzern nicht eingetreten und bei einem Umzug auf den Mond musste ich auch noch nicht helfen. Es gab aber Veränderungen, die so abrupt und tiefgreifend waren, dass sie ganze Unternehmen auf der Strecke bleiben ließen.

Das Standardbeispiel dafür ist das Unternehmen Quelle aus Fürth. Man hatte unter anderem nicht rechtzeitig verstanden, dass der dicke, gedruckte Katalog aus der Zeit gefallen war. Die Vision, in ferner Zukunft einmal den Katalog 1:1 im Internet abzubilden, war nicht genug. Am Ende ging es mit Quelle ganz schnell.

Kodak

Ein anderes berühmtes Beispiel ist Kodak, einst Marktführer und Erfinder der Digitalkamera. Die vielen Vorteile der digitalen Fotografie wurden aber scheinbar unterschätzt. Der Konsument genießt es heute, tausende von unnötigen Fotos zu machen und diese auf den immer größer werdenden Festplatten zu speichern. Dazu kam, dass die Menschen mit ihrem Handy permanent einen Fotoapparat dabei hatten. Heute werden Fotos in den sozialen Medien sofort zur Verfügung gestellt. Nicht nur die Technik änderte sich, auch das Verhältnis der Menschen zu Bildern.

Solche Veränderung kann man nun moralisch diskutieren, man muss aber auch eine betriebswirtschaftliche Antwort haben. Die blieb aus.

Verständnis für Technik

Was kann man aus der Fehleinschätzung der Geschäftsführung ableiten? Man kannte seit Jahrzehnten das Geschäft. Darüber hinaus wage ich zu behaupten, dass man bei Quelle und Kodak genug Leute hatte, die die neu aufkommende Technik verstanden. Wäre die einzige Neuerung im E-Commerce gewesen, gedruckte Inhalte online abzubilden, hätte sich wahrscheinlich ein sehr langsamer Wandel des Geschäfts vollzogen. Auch Kodak hätte sich nur auf einen allmählichen Wandel einstellen müssen, wären sie mit rein technischen Änderungen in der Fotografie konfrontiert gewesen. Aber die Branche wandelte sich tiefgreifend.

Wie lang sind 20 Jahre?

Es hatte sich ein Paradigmenwechsel vollzogen, ohne dass er sich höflich bei allen vorgestellt hätte. Er kam für einige handelnde Personen quasi über Nacht.

Zeithorizonte die Dekaden umfassen werden bei Diskussionen häufig mal im Nebensatz eingeworfen. Beliebte Aussagen zu selbstfahrenden Autos, die „noch mindestens 20 Jahre dauern” sind Charthits. Autonomer Transportverkehr auf langen, geraden Strecken ist nun verhältnismäßig einfach zu realisieren. Innerstädtische Spielstraßen mit Kindern sind sicherlich etwas schwierigeres Terrain. Was genau wird jetzt also 20 Jahre dauern?

20 Jahre bedeutet „irgendwann“

Autonom fahrende Fahrzeuge sind für die Logistik wie der E-Commerce für Quelle oder digitales Fotografieren für Kodak. Sie werden das gesamte Ökosystem umkrempeln.

Warenströme, die heute per Telefon und Stift gelenkt werden, werden automatisch gesteuert. Die logische Weiterentwicklung ist die Anpassung der kompletten Infrastruktur. Waren und Paletten werden selbstständig kommunizieren, der Weg zum Kunden wird sich „verkürzen“. Die Wahrnehmung und Nutzung durch den Kunden wird sich ändern. Mit anderen Worten: die Lieferung einer Palette Dosenbier zum Champions League Finale innerhalb der nächsten Stunde wird selbstverständlich.

Noch einen Schritt weiter beschleunigen zusätzliche Technologien wie Blockchain und 3D-Printing den Paradigmenwechsel der Logistik. Dem ganzen Markt werden neue Spielregeln aufgedrückt.

Ich arbeite bei dem Startup Evertracker. Wir beschäftigen uns mit der Transparenz von Logistikketten unter der Verwendung von Echtzeitdaten. Sie ahnen bei dem Wort Start-Up, dass 20 Jahre kein Zeithorizont ist mit dem man dort rechnet. Auch nicht 10 Jahre.

Vergessen Sie 20 Jahre

Vergessen Sie die 20 Jahre. Das ist sowieso keine Zeitspanne, die der Mensch allzu gut überblickt. 20 Jahre ist ein Synonym für “irgendwann”. Es wird nicht ausreichen die Gegenwart einfach linear in die Zukunft weiter zu schreiben. Nur die Technologie zu verstehen wird viel zu wenig sein um zu bestehen. Beschäftigen wir uns nicht mit allen Auswirkungen des Wandels, wird es jemand anders für uns tun. Diese Vorstellung löst bei mir Unbehagen aus.

Wir werden eine noch ungeahnte Flexibilität von Logistikketten durch Daten erleben. Wenn das passiert, wird das Thema plötzlich sehr viel Fahrt aufnehmen. Früher hat man eine tolle Geschäftsidee in seiner Stadt, dann auf seine Region, dann auf sein Land und vielleicht den Kontinent ausgedehnt. Da ging es verhältnismäßig beschaulich zu. Geschäftsmodelle heute sind radikaler und sie sind meistens global.

Wenn Sie jetzt den Wunsch verspüren, in der Zeit zum Tag X zurück zu reisen, um Kodak zu erklären, wie Facebook, Instagram und Snapchat heute funktionieren, muss ich Sie enttäuschen. Das wird auch mit dem Fortschritt der Digitalisierung nicht funktionieren. Für die Logistik ist der Tag X heute. Was passiert, wenn ein Paradigmenwechsel nicht 20 Jahre auf sich warten lässt?

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