Was ist weibliche Mobilität?

Einflüsse auf die Mobilität von morgen

Bellmann, Polack, Ypma
Female Mobility
8 min readSep 6, 2020

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This is a German excerpt from the original English version that can be found here.

Autoren: Lieke Ypma, Diana Polack, Frieda Bellmann
Dieser Artikel ist im
Karuna Kompass #17 erschienen. Mehr zum Thema Female Mobility findest du hier.

Lange Zeit war von Verkehr und Transport die Rede. Technisch. Logisch. Automobil. Ist das heutige Mobilitätssystem von Männern für Männer gestaltet? Sind Frauen anders mobil als Männer? Gibt es eine weibliche Mobilität? Frieda Bellmann, Diana Polack und Lieke Ypma haben sich mit dem Thema beschäftigt und sind dabei auf neue, überraschende Erkenntnisse gestoßen.

Der Artikel ist im Karuna Kompass #17 erschienen. Mehr Informationen über Karuna hier.

Auf dem Heimweg von der Arbeit nach Hause noch schnell ein Paket abholen und danach im Supermarkt nebenan Milch kaufen. Sich am Samstag mit den Kindern und Gepäck durch die Stadt quälen, um das eine Kind zum Hockey und das andere zum Kindergeburtstag zu bringen, und dazwischen noch schnell was in die Reinigung bringen. Nachts ein Taxi rufen, weil man nicht mit der U-Bahn nach Hause fahren möchte. Diese und andere Situationen gehören zu dem, was Experten “weibliche Mobilität” nennen. Denn in der Tat nutzen Frauen Mobilitätsangebote anders als Männer. Wenn wir uns die Bewegungsmuster von Frauen genauer ansehen, können wir Unterschiede erkennen und davon lernen. Bisher wurde in der Männerdomäne Mobilität das Mobilitätssystem meist technisch gedacht. Viele Straßen- und ÖPNV-Systeme sind zum Beispiel sternförmig aufgebaut, um das tägliche Pendeln zwischen der Arbeit in der City und dem Wohnort in der Vorstadt zu ermöglichen. Menschen, die jedoch neben der Arbeit weiteren Verpflichtungen im Leben nachgehen, haben eine komplexere Mobilität. Diese Komplexität wird in Statistiken kaum abgebildet, weil die Daten auf traditionellem Wege nur schwer bzw. fragmentarisch zu erheben sind (siehe z. B. Wegeketten).

Doch wer diese Bewegungsmuster wirklich verstehen möchte, öffnet den Blick für eine vielfältige Mobilität – auch ohne eigenes Auto.

Wieso sind Frauen anders unterwegs?

Frauen arbeiten anders: 75 % der unbezahlten Arbeit weltweit wird von Frauen erledigt. Unter unbezahlter Arbeit versteht man z. B. das Ehrenamt, aber vor allem die Sorgearbeit für Kinder, Eltern und Ehepartner. Da Frauen oftmals unbezahlte und bezahlte Arbeit in Teilzeit kombinieren, steht ihnen weniger Geld zur Verfügung. Um anfallende Verpflichtungen zu erledigen, bilden sich u. a. komplexe Wegeketten heraus. Diese sind eine Aneinanderreihung von zeitlich und räumlich engmaschig abgestimmten Verbindungen mit diversen Zwischenstopps: Morgens die Kinder zur Schule, dann zur Arbeit, wieder zur Schule, zum Schwimmverein und auf dem Weg nach Hause noch zum Bäcker. Wenn es in Familien ein Auto gibt, wird es im alltäglichen Gebrauch oft vom Mann genutzt. Frauen hingegen wählen das Verkehrsmittel je nach Anliegen (multimodal) oder wechseln es je nach Bedarf (intermodal). Auf ihren Wegen sind sie oft in Begleitung von Menschen mit Unterstützungsbedarf (Kinder und Ältere) und haben fast immer Gepäck dabei. Sie stehen oft unter Zeitdruck, stellen weltweit mit 66 % die Mehrheit bei der ÖPNV-Nutzung und gehen viele Wege zu Fuß. Berufstätige Frauen legen in der gleichen Zeit weniger Kilometer als berufstätige Männer zurück. Nachts sind Frauen zudem mehr auf der Hut. Bei den Mobilitätsangeboten zeigt sich, dass Frauen sie weniger nutzen als Männer. Es gibt natürlich auch Männer, die ähnliche Verpflichtungen haben und entsprechende Verhaltensweisen an den Tag legen, doch statistisch gesehen sind es mehrheitlich Frauen, die durch das spezifische Zusammenspiel von Zeit, Geld und Aufgaben diese Art von Mobilität prägen, weswegen wir von weiblicher Mobilität sprechen.

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Im folgenden werden drei typische Situationen, die wir im Rahmen eines Themenworkshops im Sommer 2019 in Berlin mit 40 Mobilitätsexpertinnen erarbeiteten, näher dargestellt: Nachts allein unterwegs, Koordination von Familienarbeit und bezahlter Arbeit sowie Geschäftstreffen in der Stadt.

“Ich klimpere mit meinem Schlüsselbund, damit er denkt, ich wohne hier und die Nachbarn passen auf.” Illustration: Iza Bułeczka

Nachts allein unterwegs

»Wir haben es akzeptiert, dass wir uns nachts oft unsicher fühlen, aber wissen damit umzugehen.«

Im Allgemeinen sind Frauen aufgrund ihrer Physis Männern gegenüber kräftemäßig unterlegen, weshalb potenzielle Konfliktsituationen mit körperlicher Auseinandersetzung als bedrohlich wahrgenommen werden. Daher ist vor allem die Wahl von Transportmitteln, Verbindungen und Orten sehr auf den Aspekt der Sicherheit ausgerichtet, wenn Frauen nachts allein unterwegs sind. Viele Frauen nehmen eine detaillierte Planung vor, bevor sie einen nächtlichen Ausflug unternehmen. Die Fragen, die sie sich häufig dabei stellen, sind: Wie komme ich hin und zurück? Wie sicher sind die Gegend und der Weg dahin?

Ist es überhaupt möglich, von dort nach Hause zu kommen? Mit welchen Transportmitteln fühle ich mich nachts auf dem Weg sicher? Werde ich später mit anderen nach Hause bzw. einen Teil des Weges gehen oder werde ich allein am dunklen Park vorbeigehen müssen? Wie viel Geld möchte ich für den Transport ausgeben? Ist die letzte Meile, also zum Beispiel der Weg von der U-Bahn nach Hause, sicher, die Straße beleuchtet und sind dort noch andere Menschen unterwegs? Wie kann ich mich im Falle eines Angriffs verteidigen? In der Nacht stellt die letzte Meile oft die größte Herausforderung dar. Straßen, Plätze oder U-Bahnausgänge sind oft schlecht beleuchtet, uneinsehbar und leer. Einige Frauen machen extra Umwege, um belebtere und breitere Straßen zu nutzen und Parks zu meiden. Andere klimpern mit ihrem Schlüsselbund, so dass der potenzielle Angreifer denkt, sie leben im Gebiet und die Nachbarn passen auf. In der U-Bahn neigen Frauen dazu, nach sicheren Orten zu suchen und sich von verdächtigen Personen fernzuhalten. Sie versuchen, langes Warten in den U-Bahn-Stationen zu vermeiden. Und wenn möglich, stellen sie sich zu Gruppen, meist mit anderen Frauen, die vertrauenswürdig aussehen.

Für viele Mütter sind Wegeketten mit Zwischenstopps, sogenannte Tripchains, eine Selbstverständlichkeit. Illustration: Iza Bułeczka

Koordination von Familienpflege und bezahlter Arbeit

»Wir kümmern uns um unsere Kinder, tragen den Kinderwagen und die Taschen hoch und runter, und alles, was wir uns wünschen ist, rechtzeitig anzukommen und dabei freundlich zu bleiben.«

Wie bereits erwähnt, kombinieren viele Frauen unbezahlte Sorgearbeit mit ihrer bezahlten Arbeit. Dass sie in diesem Fall durch den erhöhten Koordinationsbedarf unter Zeitdruck stehen, ist einleuchtend. Dieser Zeitdruck ist besonders am Morgen spürbar, wenn die Kinder in die Schule und die Eltern zur Arbeit müssen. Aber auch auf dem Nachhauseweg, denn Kindergärten und Schulen haben feste Öffnungs- und Schließzeiten, die eingehalten werden müssen. Für viele Mütter sind Wegeketten mit Zwischenstopps, sogenannte Tripchains, eine Selbstverständlichkeit. Das heutige Mobilitätssystem ist allerdings nicht darauf ausgelegt, weshalb es viel Raum für Verbesserungen gibt. Dies gilt unabhängig davon, welches Transportmittel gewählt wird — ob Fahrrad, Scooter oder Auto; shared, privat oder öffentlich. Shared Services wie DriveNow oder ehemals Coup gelten als eine solide Option zur Optimierung der individuellen Mobilität, doch haben wir herausgefunden, dass sie für den täglichen Gebrauch zu teuer und zu intransparent sind. Die Kostenstrukturen für das Parken oder Pausieren eines Shared-Fahrzeugs während der Besorgungen sind für viele unserer Probandinnen unklar. Und ohne passendes Fahrzeug, mit einer Tasche voll mit Lebensmitteln, einem Laptop unterm Arm und Kindern, die abgeholt werden wollen, ist das Risiko zu groß, zu spät zu kommen. Ein zuverlässiger Service ist aus dieser Perspektive entscheidend — denn egal was passiert: the show must go on.

“Ziehe ich mich zum Radfahren oder für das Geschäftstreffen angemessen an?” Illustration: Iza Bułeczka

Geschäftstreffen in der Stadt

»Wir wollen effizient und umweltfreundlich von A nach B kommen – und gleichzeitig immer gut vorbereitet sein.«

In diesem Beispiel betrachten wir die Situation, in der frau an mehreren Meetings in verschiedenen Stadtteilen teilnehmen muss. Die Ausgangssituation ist für Männer wie Frauen gleich: Wo befinden sich die Veranstaltungsorte? Was ist die schnellste und komfortabelste Verbindung?Wie wird das Wetter aussehen? Kann ich dort parken? Wie weit ist der Weg vom Parkplatz zum Veranstaltungsort? Dabei haben unterschiedliche Transportmittel ihre jeweiligen Vor- und Nachteile, die je nach Kontext abgewogen werden. Fahrradfahren birgt zwar die Gefahr, dass frau ihre Geschäftskleidung ruiniert, völlig verschwitzt ankommt oder ihre Frisur zerstört, sich allerdings sportlich betätigen kann. Somit stellen sich typische Abwägungsfragen: Ziehe ich mich zum Radfahren oder für das Geschäftstreffen angemessen an? Brauche ich einen Regenschutz? Wo kann ich den Regenschutz bei der Ankunft aufbewahren? Muss ich mich noch vorbereiten? Unsere Teilnehmerinnen bestätigen, dass sie ihre Reisezeit zur Vorbereitung von Geschäftstreffen oder zur Koordination des Familienlebens nutzen. Statussymbole und auch das “Image”, das vermittelt werden soll, sind insbesondere bei der Arbeit und der Wahl der Mobilitätsform nach wie vor sehr wichtig. So schafft ein shared E-Scooter ein junges und urbanes Erscheinungsbild, Fahrradfahren hingehen eher ein sportliches und umweltfreundliches. Frauen, die häufig unter Zeitdruck stehen, nutzen ihre Reisezeit zum Geschäftstreffen: Ein Vorteil der U-Bahn ist, dass frau arbeiten oder private Dinge organisieren kann. Die Pendelzeit im Auto wird hingegen oft für Telefonate genutzt. Zusammenfassend kann man sagen, dass frau vor Geschäftstreffen verschiedene Entscheidungen treffen muss. Entscheidet sie sich für Stil oder Sicherheit? Sind ihr Status oder Auswirkungen auf die Umwelt wichtiger? Muss sie sich auf dem Weg auf ihr Treffen vorbereiten und wählt somit ein Transportmittel, das vielleicht langsamer und weniger komfortabel ist? Oder ist absolute Zuverlässigkeit und eine pünktliche Ankunft ihre Priorität?

Wir brauchen zuverlässigere, effizientere und elegantere Mobilitätslösungen!

Frauen bewegen sich anders, und das ist in Ordnung. Vielfalt bringt die Welt in Schwung. Frauen haben im Allgemeinen ein größeres Bedürfnis nach Flexibilität und Verlässlichkeit. Sie erzeugen diverse Bewegungsmuster, indem sie das für den jeweiligen Zweck geeignete Transportmittel wählen und mehrere miteinander kombinieren. Sie bewegen sich in Wegeketten und sind dabei oft auf alternative Verkehrsmittel (öffentlich, shared oder privat) angewiesen, da sie seltener das eigene Auto nutzen. Das ist gut für jede Stadt. Wenn wir auf diese Art der Fortbewegung reagieren und alternative Mobilitätsformen zuverlässiger, effizienter und eleganter gestalten, könnten wir die Lebensqualität in unseren Städten verbessern.

Über die Autoren und die Illustratorin:

Frieda Bellmann ist Service Designerin im Bereich Mobilität und beschäftigt sich leidenschaftlich mit der Erforschung des menschlichen Verhaltens.
Diana Polack arbeitet in der Stadt Berlin im Bereich Stadtplanung, in ihrer Freizeit beschäftigt sie sich mit neuen Gestaltungsmethoden und historischen Stadtplänen.
Lieke Ypma arbeitet als Strategin im Bereich Mobilität und unterrichtet Master-Studierenden Designmethoden.
Die Illustratorin und Künstlerin
Iza Bułeczka ist bekannt für ihre geometrischen Darstellungen von Frauen, in denen sie den weiblichen Körper in all ihrer Kraft aber auch mit ihren Mängeln treffend thematisiert.

Karuna Kompass #17

Herausgeberin
KARUNA eG, Paul-Lincke-Ufer 21, 10999 Berlin

KARUNA eG
Jörg Richert, Genossenschaftsregister GUR 821 B, Amtsgericht Berlin — Charlottenburg, Tel.: 0177 221 843 2, E-Mail: karunadeutschland@gmail.com

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Bellmann, Polack, Ypma
Female Mobility

FRIEDA BELLMANN is a mobility service designer. DIANA POLACK works in city planning. LIEKE YPMA is a mobility strategist.