Fahrstuhlepisoden

André Spiegel
ferner folgend
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6 min readJun 20, 2021

Dies sind meine Fahrstuhlepisoden der vergangenen fünfzehn Monate, zusammengetragen aus meinem fortlaufenden Blog, eine kleine persönliche Pandemie-Chronik aus der Upper West Side, New York City.

15. März. Hier im Haus ist der Fahrstuhl schwieriges Terrain. Es wohnen viele Asiaten hier, mutmaßlich erfahren im Umgang mit ansteckenden Krankheiten. Eine Frau ist in schwere Wintermäntel vermummt und bugsiert drei riesige Koffer hinein und heraus, die sie kaum manövrieren kann. Eine andere Frau zieht den Kragen der Jacke hoch und quält sich offensichtlich durch jede Sekunde, bis die Fahrt vorbei ist.

4. April. Neue Rituale am Fahrstuhl. Ich komme um die Ecke des Flurs, als gerade die Kabine aufgeht. Eine Frau, unmaskiert, steht davor und tritt einen Schritt zur Seite: »Nimm du ihn ruhig.« — »Nein bitte, selbstverständlich, nimm du ihn, doch, doch.«

Auf dem Weg nach unten hält der Fahrstuhl mehrere Male. Auf jedem Stockwerk erneut die Entscheidung: Sind die Wartenden bereit, zuzusteigen, was halten die schon Fahrenden von dieser Entscheidung.

Es kommen maskierte Leute in den Fahrstuhl, sie drücken mit der bloßen Hand, und der Kuppe des Fingers, auf den Knopf L für Lobby, obwohl dieser schon leuchtet.

7. April. Die Hausverwaltung schreibt, dass ab heute bitte in den gemeinsam benutzten Räumen Masken getragen werden sollen, vor allem in den Fahrstühlen. Irgendein Tuch vor Mund und Nase reicht.

8. April. Ich habe versucht, mir einen Winterschal dreimal ums Gesicht zu legen. Nicht, weil ich an irgendeine schützende Wirkung für mich oder für andere glauben würde, sondern damit die Leute im Fahrstuhl keine Angst vor mir haben. Um meinen guten Willen zu zeigen und der Bitte — oder ist es doch eine Anweisung? — der Hausverwaltung zu entsprechen.

9. April. Als sich die Fahrstuhltür in einem der Stockwerke auf meinem Weg in die Lobby öffnet, steht eine ältere Dame davor. Sie deutet nach unten, ich deute nach unten, die Tür schließt sich, ohne dass sie eingestiegen wäre. Ist die neue Etikette vielleicht, auszusteigen und ihr meinen Platz im Fahrstuhl anzubieten? Ich denke darüber erst nach, als ich schon wieder in Bewegung bin.

14. April. Vor dem Fahrstuhl: Nachbar mit schwarzer, Mund und Nase überdeckender Skimütze, schwarzen Handschuhen, gelbem T-Shirt und Shorts und wollgefütterten Pantoffeln. »Ich fühl’ mich so lächerlich«, sagt er. »Will ich den Doorman überfallen?« Als der Fahrstuhl sich öffnet, biete ich ihm an, ihn alleine zu benutzen. »Ach was, nein, komm rein.« Wir stehen nebeneinander, nicht so, wie es sonst inzwischen üblich ist, dass einer von uns den Kopf der Wand oder der Tür zuwenden würde.

27. Mai. Beim Fahrstuhlfahren gibt es kaskadierende Etikette. Wenn jemand in der Lobby im Begriff ist, loszufahren, und man höflich nicht zusteigt, weil es der drinnen befindlichen Person unangenehm sein könnte, dann könnte diese sagen: »Ach was, macht doch nichts, komm’ rein.« Es könnte aber auch sein, dass man nicht aus Höflichkeit, sondern aus eigener Angst nicht zusteigt, und dann wäre die Aufforderung, es dennoch zu tun, ein Affront. Also sagen alle lieber nichts und lassen schweigend die Tür sich schließen.

17. August. Es lässt sich nicht mehr leugnen, dass es leerer wird. Die Wohnungen gegenüber in meinem Innenhof wurden eine nach der anderen leer, und es zieht niemand neues ein. Immer noch begegne ich in den Fahrstühlen fast jeden Tag Leuten, die ich noch nie hier gesehen habe — es müssen, rein rechnerisch, um die vierhundert Menschen in diesem Haus leben –, aber die Menge scheint insgesamt kleiner zu werden.

6. Dezember. Mit Anstieg der Fallzahlen wird die Fahrstuhletikette komplizierter. Ein älterer Mann mit großer Einkaufskarre ist im Fahrstuhl, als ich mit den Kindern ankomme. Ich sage den Kindern, sie sollen reingehen und will selber hinterhergehen. »Höchstens zwei!« faucht der Mann und schiebt wütend seine Karre aus dem Fahrstuhl. Ich winke die Kinder zurück. Sie kommen verwirrt wieder raus. Der Mann steht wütend im Gang und reißt seine Post auf. Der Fahrstuhl fährt leer ab, keiner drückt auf den Knopf. Der nächste Fahrstuhl kommt, ich bedeute dem Mann, einzusteigen, dieser ist für ihn. Er schiebt die Karre hinein. Noch bevor sich die Tür schließt, kommt ein asiatisches Paar und geht zu ihm in die Kabine. Wieder schiebt der Mann seine Karre wütend aus der Kabine, die Asiaten verstehen nicht, was er meint und fahren alleine los. Keiner drückt auf den Knopf. Als der nächste Fahrstuhl kommt, bedeutet uns der Mann, ihn zu nehmen, was wir tun.

16. Dezember. Ein junger Mann geht vor mir in den Fahrstuhl, ich hinterher. Er drückt sich mit dem Gesicht, soweit es nur geht, in die Ecke der Kabine. »Oh, sorry about that«, sage ich ärgerlich und verlasse den Fahrstuhl wieder. Wo kriege ich soviel Schweigen her, wie ich bräuchte.

2. Januar. »Fährst du nach oben? Würdest du für mich bitte den Fahrstuhlknopf drücken?« — Ich rätsele, was für ein völlig neues Pandemie-Verhalten das sein könnte, dann erst sehe ich die Kippa und reime mir den Wochentag zusammen. Er ist groß, hager, etwa in meinem Alter, wirkt überhaupt nicht orthodox. »Dritter Stock, bitte.« Normalerweise nehme er nicht den Fahrstuhl, auch sonst nicht, aber sein Hund hätte heute zuviel Exercise gehabt. Ein ferngesteuertes Feuerwehrauto im Park, dem er hinterhergejagt ist. Ich drücke die Knöpfe mit dem Fingerrücken, drei und neun.

13. Januar. Mikroskopische Veränderungen: Beim Laufen wollte ich bis in den Herbst keine Maske aufsetzen oder dabei haben. Ich bin schon extra nachts laufen gegangen, damit ich niemand zu nahe käme. Auch im Fahrstuhl nach unten hatte ich also keine Maske dabei. Es war schließlich spät abends, und Leute, denen das nicht behagte, mussten ja nicht zusteigen. Manchmal nahm ich auch die Treppen aus dem neunten Stock nach unten. Inzwischen nehme ich immer die Maske mit, trage sie auch im Fahrstuhl, trage sie rauf und trage sie runter, und auf den ersten Metern die einundneunzigste Straße entlang, bis ich an den Eingang zum Riverside Park komme. Ich glaube nicht, dass sich das Infektionsrisiko durch das eine oder andere bedeutend erhöht oder verringert. Ich tue es aus Gründen der Etikette, und zu einem kleinen Teil aus Aberglauben.

5. Februar. Fahrstuhl-Einzelfahrer werden häufiger, und man wird geschickter darin, sie zu erkennen und ungefragt ihren Wünschen zu entsprechen.

4. März. Fehlschlag der Fahrstuhl-Etikette: Ich lasse einer kleinen, weißhaarigen Frau den Vortritt. »Is it okay if I come in?« frage ich, während ich schon zu ihr in die Kabine gehe. »As long as you stay in that corner!« Mit einem schnellen Sprung bin ich wieder draußen. »No, I’m joking!« Ich gehe nicht wieder rein. »I was just joking!« sagt sie, während die Tür sich schließt.

29. April. Immer noch Variationen der Fahrstuhletikette. Zwei Frauen sind in der Kabine. Ich schicke mich an, ebenfalls reinzugehen und frage, halb in der Bewegung: »Okay if I come in?« Eine der Frauen sieht in einer Mischung aus Entgeisterung, Hilflosigkeit, Empörung die andere an. Ich hebe die Hand und bleibe draußen.

25. Mai. Ab morgen — wegen eines Datumsfehlers aber eventuell schon seit heute, nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich — müssen Geimpfte in der Firma keine Maske mehr tragen. Die Verlautbarung klingt frevelhaft. Sie wird damit entschuldigt, dass man nur den allgemeinen Richtlinien folge. Aber es könnte doch sein, dass man trotz Impfung jemanden ansteckt. Aber es könnte doch sein, dass es Dinge gibt, die wir noch nicht wissen. Das wären vor Monaten noch unwiderlegbare Argumente gewesen, jetzt nicht mehr. Alles kommt ins Rutschen. Im Hausflur, im Fahrstuhl, in der Lobby trage ich jetzt die Maske, setze sie auf der Straße ab, und auf der Subway-Treppe wieder auf. Auf der anderen Subway-Treppe wieder ab, in der Lobby und im Fahrstuhl wieder auf, in der Firmenetage wieder ab. Ähnlich sorgfältig wie früher, ganz am Anfang der Pandemie, nur dass ich jetzt mit dem Strom schwimme.

28. Mai. Nirgends kann man das Fortschreiten der Geschichte besser beobachten als an den Fahrstuhlepisoden. Diesmal sind wir zu dritt in der Kabine, als noch eine Frau mit Hund dazukommt und höflich fragt, ob es okay ist. Die Frau neben mir hebt abwehrend die Hand. »No, I guess you’ll have to wait.« Die Frau prallt zurück, mit einem Satz bin ich, genervt, ebenfalls draußen. »No, you would have been okay«, ruft die Frau noch, als die Tür sich schließt. Die andere Frau und ich nehmen den nächsten Fahrstuhl. »Hast du eine Ahnung, was die hatte?« fragt sie. »Ist es Corona, oder ist es der Hund?«

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