Okay, also Woody Allen

André Spiegel
ferner folgend
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3 min readMar 11, 2020
Image: Mike Lawrence, CC-BY 2.0

Eigentlich wollte ich diesen Monat über etwas anderes schreiben, aber jetzt kam dieser Offene Brief zu Woody Allen, der mich so verstört hat, dass ich mich auf den anderen Text nicht mehr konzentrieren konnte. Schreibe ich also über den Brief.

Er verstört mich aus zwei Gründen.

Erstens, weil ich letztes Jahr selber wegen ähnlichen Dingen vor Gericht gestanden habe und freigesprochen worden bin. Es waren schlimme Anschuldigungen, schlimm vor allem darum, weil sie meine Familie, meine Kinder betrafen. Nach einem quälenden Verfahren wurde das alles vom Gericht zurückgewiesen, dismissed with prejudice. Ich habe mir erklären lassen, dass das die stärkste Form der Zurückweisung ist. Sie bedeutet, dass die Anschuldigungen nichtig sind und auch in keinem zukünftigen Verfahren je wieder gegen mich vorgebracht werden dürfen.

Mir vorzustellen, dass dieser Freispruch nicht gilt, dass er aufgehoben wird mit dem Argument, man sehe keinen Grund, an den Aussagen der Gegenseite zu zweifeln, ist ein Alptraum.

Zu sagen: Solche Anschuldigungen kommen ja nicht aus dem Nichts; wenn jemand sowas sagt, wird da schon was dran sein, oder: Dass alles immer erst bewiesen werden muss, ist der Grund, warum fast nie ein Täter überführt wird — macht es nicht besser.

Die Verlage sollen einen Faktencheck machen, heißt es. Also vielleicht eine Befragung aller Beteiligten, einschließlich medizinischer und psychologischer Gutachten? Also genau das, was schon die Gerichte getan haben?

Die Gerichte machen ihre Arbeit nicht richtig, sie sind voreingenommen, besonders bei berühmten Leuten, und benachteiligen die Opfer. Das allerdings ist kaum zu bezweifeln. Solange ein Faktencheck oder ein investigativer Journalist aber nichts anderes herausfindet, als dass eine Aussage gegen eine Aussage steht, wird das selbstgebaute Gericht sich — hoffentlich — nicht anders verhalten können als jedes andere.

Der Brief verstört mich zweitens, weil er fordert, dass ein Verlag auf die Veröffentlichung eines Buches verzichten soll.

Nicht etwa, um den Inhalt aufzuhalten. In technischer Hinsicht, um die Vervielfältigung und Verbreitung von Gedanken zu bewerkstelligen, sind Verlage weitgehend unnötig geworden. Was sie tun, ist zunehmend rein symbolisch. Es geht darum, ob der Verlag dem Buch seinen Namen leiht oder nicht. Er soll Signale setzen, und zwar die richtigen. Er soll nicht ein Buch B veröffentlichen, nachdem er vorher ein Buch A veröffentlicht hat, in dem das Gegenteil steht.

Man hat den Eindruck: Je weniger der Information technisch entgegensteht, desto entschiedener werden die Linien im Sand gezogen. An einer Universität soll ein Redner A sprechen, aber nicht die Rednerin B, wenn sie das Gegenteil von A sagt. Zwar können alle die Ansichten von A und B jederzeit und augenblicklich herausfinden, aber entscheidend ist das Symbol.

Es ist nicht ungewöhnlich, dass versucht wird, eine Auseinandersetzung zu führen, indem man verlangt, die Gegenseite möge schweigen. Allerdings gibt es Anzeichen, dass sich die Häufigkeit und die Intensität dieser Art von Auseinandersetzung in den letzten zehn Jahren spürbar erhöht hat. Das untersuchen Greg Lukianoff und Jonathan Haidt in ihrem Buch The Coddling of the American Mind.

Ich glaube nicht, dass das gut ist. Eine intellektuelle Auseinandersetzung sollte auf der Ebene von Ideen und Argumenten geführt werden, und ihre Qualität ist umso höher, je mutiger und konsequenter die Widersprüche gegeneinander geführt werden. Die Sorge, dass Ansichten nicht gehört werden, wenn anderen, mächtigeren Ansichten nicht der Raum genommen wird, halte ich für unnötig. Es ist eine Sorge von gestern.

Ja, es sind die Symbole, auf die es ankommt. Das Symbol einer Waage, gehalten von einer Göttin, der die Augen verbunden sind, ist ein gutes Symbol.

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André Spiegel
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Written by André Spiegel

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