Die Gebrüder Michelin: Von Content, Kautschuk und Essen

Florian Born
Fifteen Seconds
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3 min readDec 1, 2015

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Content scheint seit gut zwei Jahren das Ding schlechthin zu sein: „Jedes Unternehmen sollte Content produzieren. Content ist die Zukunft des Marketings.“ Content, Content, Content. Seit dieser Paradigmenwechsel im Gang ist, stehen viele Marketer vor der Frage, welcher Zugang zu ansprechendem Storytelling für ihre Arbeit wohl der richtige sein könnte. Was ist erlaubt, was nicht und wie weit darf man sich dabei von der Kernexpertise des Unternehmens entfernen?

Vor diesen Fragen standen 1900 schon die Gebrüder Michelin. Die französischen Kautschukfabrikanten waren zur Jahrhundertwende seit etwa zehn Jahren im Geschäft und hatten im Laufe dieser Jahre die Möglichkeit von Kautschuk zur Produktion von Luftreifen erschlossen. Die groß angelegte Expansion scheiterte nur noch an einem: an der geringen Zahl an Autofahrern in Frankreich.

Der Guide Michelin

Noch nicht ahnend, welche Ausmaße diese Publikation langfristig annehmen würde, brachten die Michelin-Brüder deshalb den Guide Michelin heraus. Dieser enthielt Tipps für Autofahrer und war erstmals nur als Werkstättenwegweiser konzipiert. Ziel dessen: Das Verlangen nach Autos in der Gesellschaft zu stärken — nicht mal 3000 Autos gab es in Frankreich zu diesem Zeitpunkt — und dadurch indirekt und smart die Nachfrage der eigenen Luftreifen anzukurbeln.

Während der Guide anfangs nur in Frankreich verlegt wurde, erschien vier Jahre später auch eine Version für Belgien. 1910 wurde die erste deutsche Variante verlegt. Weiterhin konzentrierte sich Michelin in der jährlichen Publikation ausschließlich auf Autofahrer und deren Wünsche.

Fest der Sterne

Mit der langsamen, praktischen Veränderung des Autos vom Freizeitgerät zum Transportmittel und dadurch, dass das Ziel wichtiger wurde als die Fahrt selbst, veränderte sich auch der Inhalt des Guides. 1923 enthielt der Guide Michelin deshalb auch erstmals Empfehlungen zu Restaurants und Hotels. Die ersten Sterne für ausgesprochen gute Küche hielten 1926 Einzug.

Anfangs wurde jeweils nur ein Stern vergeben, im Laufe der nächsten zehn Jahre kamen die anderen beiden dazu. Restaurantkritik und Reifenherstellung haben zwar nicht viel miteinander gemein, das Ziel der Gebrüder Michelin — mit Ersterem die Lust am Autofahren zu steigern — blieb aber stets dasselbe. Gut erkennbar auch an der bis heute gültigen Definition der begehrten Sterne:

„Eine sehr gute Küche, welche die Beachtung des Lesers verdient“ ★
„Eine hervorragende Küche — verdient einen Umweg“ ★★
„Eine der besten Küchen — eine Reise wert“ ★★★

Internationale Bedeutung

Die Michelin-Sterne haben über die Jahrzehnte hinweg immer mehr Macht und Einfluss auf die Gastronomie bekommen. Einer oder gar mehrere der Sterne gehören zu den größten Auszeichnungen, die ein Gastronom erhalten kann und können tatsächlich zum Grund für einen Umweg oder eine extra dafür geplante Reise werden.

Dabei behandelt der Führer längst nicht mehr bloß Frankreich. Oder Europa. Es gibt heute Ausgaben für Städte rund um den Globus. Die Stadt mit den meisten Michelin-Sternen? Tokio. Paris hat nicht mal halb so viele.

Wenn die Gebrüder Michelin damit eins bewiesen haben — mal abgesehen davon, dass sie sich neben Autoreifenproduktion auch für gutes Essen begeistern können -, dann dass der ungewöhnlichste Zugang zum Thema oft der beste ist. Schon vor über 100 Jahren hatten sie es geschafft, den Erfolg ihres Business mit relevanten Inhalten zu steigern, die zwar gar nichts mit dem eigentlichen Produkt zu tun hatten, es aber über Umwege — wortwörtlich — zu einem äußert gefragten gemacht und gleich ein zweites Business mitbegründet haben.

Französisches Content Marketing aus 1900, das sich nicht auf die Kernexpertise des Unternehmens bezieht, es dennoch beflügelt und gleich ein zweites miteröffnet? Spannender Ansatz, der gerne eigenständig zu Ende gedacht werden darf. Vielleicht macht Old School ja bald wieder Schule und der nächste Paradigmenwechsel steht uns bevor.

Originally published at fifteenseconds.co on December 1, 2015.

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Florian Born
Fifteen Seconds

Schreibt auf #phanwelten und am ersten Buch. Themen: Fantasy, SciFi und Innovationen.