Auschwitz begegnen

joana breidenbach
Five Minutes a Day
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13 min readOct 23, 2015

Meeting Auschwitz

Beware: This text about a trip by a meditation group to the concentration camp Auschwitz-Birkenau is in German!

Birkenau

Sich kontemplativ auf Nachrichten Schlagzeilen und Bilder zum aktuellen Zeitgeschehen einzulassen ist eine Sache. Eine andere Möglichkeit eine intensivere Beziehung zur Welt zu etablieren ist es, sich real an prägnante Orte der Geschichte zu begeben und dort die Vergangenheit auf sich wirken zu lassen.

Genau dies machte letzte Woche eine Gruppe von Meditationspraktikern aus dem Umfeld der Academy of Inner Science: wir verbrachten eine Woche in Auschwitz-Birkenau, dem zentralen Schauplatz des Massenmords an Juden, politischen Oppositionellen, Roma&Sinti und anderen, im nationalsozialistischen Deutschland verfolgten Menschengruppen.

Die Tage waren wir zum Teil im Stammlager, in dem wir uns mit vielen anderen Besuchergruppen, die Ausstellungen zum Holocaust ansahen. Die meiste Zeit hielten wir uns jedoch im 3 Kilometer entfernten Vernichtungslager Birkenau auf.

Wir liefen die endlos langen Reihen der Lagergebäude ab, in denen zwischen 1940–45 je 400 Häftlinge unter den menschenunwürdigsten Umständen schliefen. Verbrachten viel Zeit auf der Rampe, auf der die Selektion der Gefangenen stattfand, die mit den Zügen aus ganz Europa angeschleppt wurden. Innerhalb von kürzester Zeit entschieden hier SS-Offiziere, wer direkt in die Gaskammer geführt wurde, oder wer zu den (knapp ein Viertel) Gefangenen gehörte, die zur Zwangsarbeit abgestellt werden sollten, umnd dann meist kurze Zeit später an Entkräftung, Folter oder anderem zu sterben. Wir sahen den Block in dem Dr. Mengele seine sadistischen medizinischen Experimente durchführte und den Komplex in dem die Habseligkeiten der vergasten Menschen sortiert wurden. Die meiste Zeit verbrachten wir jedoch meditierend an den Gaskammern und Krematorien; alleine oder in der ganzen, neuzehnköpfigen Gruppe.

Meditation am Krematorium III

Wie kann man als Mensch dem Horror des Holocaust begegnen? Jeder von uns weiß etwas über die Verbrechen — aus dem schulischen Geschichtsunterricht, aus späteren Büchern, Filmen und Artikeln. Als wir uns zu dieser Reise entschieden, stand jedoch weniger die kognitive Aufarbeitung im Vordergrund; gerade Deutschland hat ja eine ausgesprochen gute Erinnerungskultur. Wir wollten uns vielmehr als ganze Menschen dem Ort und seiner Geschichte öffnen. Nicht nur intellektuell erfahren, was vor einem Dreivierteljahrhundert dort geschehen war, sondern uns emotional und körperlich auf das Unfaßbare einlassen.

Unsere Frage war: Was würden wir an diesem Ort wahrnehmen können, wenn wir uns ganz auf ihn einließen?

Einlassen geschieht auf verschiedenen Ebenen, von der individuell-persönlichen bis hin zur kollektiv energetischen. Jeder in der Gruppe kam mit seiner eigenen Geschichte nach Auschwitz. Die Nachfahren jüdischer Opfer, ebenso wie der Großenkel eines führenden NS-Politikers. Der Großvater einer Teilnehmerin hatte als Wachposten in Mauthausen (dem größten KZ in Österreich) gedient, ein anderer hatte als Bürgermeister in Ostpreußen eine Zwangsarbeiterin aus Stutthof (KZ bei Danzig) als Dienstmädchen. Wir alle konnten als Kriegskinder oder Kriegsenkel in uns Spuren der Nazivergangenheit spüren, die unseren eigenen Lebensweg mehr oder weniger beeinflusst haben.

Zugleich wollten wir uns gerade aber auch die kollektive Ebene ins Bewußtsein rufen; was bedeutet dieser Ort energetisch für die Menschheit als solche? Welche universellen Kräfte waren hier am Werk und sind bis heute noch spürbar?

Die meisten Besuchergruppen, die mit uns das KZ besuchten, hatten ihre eigene Agenda: die israelischen Schulklassen, die Juden und andere Nachkommen aus der ganzen Welt — sie gedachten ihrer Opfer. Die deutschen Besucher wiederum versuchen intellektuell zu verstehen, wie solche Verbrechen in ihrem Land geschehen konnten.

Offen für die Opfer ebenso wie für die Täterenergie

Uns war es dagegen wichtig für alle offen zu sein; uns für die unermesslichen Leiden der 1.1 Millionen Opfer, ebenso wie für die mörderische Energie der Täter und die Feigheit und Angst der Mitläufer, emotional zur Verfügung zu stellen.

Unsere Gruppe durchlief die unterschiedlichsten Gefühle — Taubheit, Angst, Panik, Scham, Ekel, Überheblichkeit, Wut usw.. Taubheit und diffuse Betroffenheit waren wahrscheinlich eine der geläufigsten Emotionen, haben wir doch einen fast schon reflexartige Schutzmechanismus, der es verhindert, dass wir uns auf etwas so Grausames wie die systematische Vernichtung so vieler Menschen wirklich einlassen. Empathie — so zeigt auch die jüngste psychologische Forschung — ist oft kein Automatismus, sondern eine Empfindung, die wir erlernen müssen. Denn sie kommt mit einem Preis: wer wirklich mitfühlt, kann oft sein Leben nicht mehr so bequem weiterleben wie bisher.

Für viele von uns waren die im Stammlager ausgestellten Exponate der Vernichtungsmaschine — gigantische Berge von Haar, welches den Opfern abgeschnitten worden war, Tausende von Kinderschuhen, Koffer und Brillengestelle — wichtige Brücken, um sich bewußt zu werden, dass die Verbrechen wirklich stattgefunden haben.

Den gleichen Zweck erfüllten die teilweise sehr guten nationalen Ausstellungen — im israelischen, ungarischen oder französischen Block — die die verfolgten Bevölkerungen auf ihrem Weg von einem lebendigen, vielschichtigen Leben über die Gefangennahme, bis hin zu ihrem Tod dokumentierten.

Auszüge aus den Reflexionen der Teilnehmer

Neunzehn Menschen sind Auschwitz auf ihre je eigene Weise begegnet. Hier ist ein Auszug aus unseren Reflexionen:

Lauschen und bezeugen

Zum vierten Mal habe ich nun Auschwitz-Birkenau besucht. Immer mit der Absicht diesen Ort fühlend zu bezeugen. Dem Holocaust als wesentlichem Teil des deutschen Schattens tiefer und nackter zu begegnen. Gefühlt, gespürt in mir.

Nie bin ich dort hingefahren um zu heilen. Ich für meinen Teil kannte die Wunde nicht.

Natürlich wußte mein Kopf, dass die Wunde des Holocaust da ist, doch ich kannte sie nicht in meinem Herzen und nicht in meinem Becken. Mein erster Aufenthalt in Auschwit-Birkenau war geprägt von Erstarrung, von Dumpfheit und sehr wenigen Momenten emotionaler Bewegtheit. Meine Erfahrung ist, dass es Zeit braucht und andere Menschen und eine spirituelle Praxis um sich dieser Wunde zu nähern.

Meine Erfahrung ist auch, dass dieser Ort nicht nur emotionale Abgründe bereit hält, sondern auch Licht. Licht als innere Erfahrung , ein göttlicher Windhauch, der als Gnade erscheint, als höhere Verbundenheit, als Frieden inmitten des dunklen Schattens.

Gelehrt hat mich Auschwitz-Birkenau, und lehrt mich noch, Demut und Hingabe. Da ich nichts machen kann außer mich auf den Weg dorthin zu machen. Und dort — lauschen und bezeugen.“ (Stefan)

Die Ehrlichkeit des Platzes

Die Ehrlichkeit des Platzes bewegt mich am meisten. Die Unbegreiflichkeit des Horrors dort führte mich in eine sehr direkte Begegnung mit Auschwitz und Anteilen in mir. Es zeigte mir Extreme menschlichen Seins und in Momenten, in denen ich mich darauf einlassen konnte, bin ich auch mir in mehr Radikalität begegnet. Ungeschminkt, ohne Raum zu flüchten. (Martin)

Dem größten Verbrechen “ins Gesicht schauen”

Wieder habe ich die Reise nach Auschwitz mit mehreren Menschen gemacht und wieder hat sich mir gezeigt wie wichtig es ist mit einer Sangha an diesen Ort zu gehen. Diese Unterstützung hat es mir ermöglicht dem Ort des größten Verbrechens der Menschheit “ins Gesicht zu schauen”, da zu sein mit meinem Bezeugen, meiner Präsenz. Unglaublich — wieder hat mein Herz sich dabei tief öffnen können für die Liebe. (Andrea)

Der Mut, mit dem zu sein, was (nicht) ist

Ich nehme Auschwitz als einen Ort wahr, der fortlaufend besucht sein will, der es braucht, dass Menschen dort hin fahren und bezeugen.

Meine Herausforderung war immer wieder aufs neue, mich auf das einzulassen, was auftaucht oder nicht auftaucht. Die Erwartungen und Vorstellungen als solche zu erkennen und dann zu sehen, was wirklich da ist. Alles da sein lassen und immer wieder den Mut zu finden, mit dem zu sein, was (nicht) ist.

Was für mich aufgetaucht ist:

eine Ahnung dieser tiefsten Entmenschlichung, Entwürdigung,

ein Gefühl von Kälte

die Ruinen als Zeugnis, dass der Plan nicht aufgegangen ist

ein Gefühl von Frieden

viele Fragen

Was nicht aufgetaucht ist:

Tränen

Entsetzen

Wut

Den Austausch mit einzelnen oder in der Gruppe empfand ich wie einen Spiegel, in dem meine eigene Wahrnehmung erst klar hervortrat. (Christiane)

My feeling awareness expands

What really stayed with me after this week in Auschwitz with our group of 19 is a much stronger ability to confront myself with reality. It feels like the space inside myself, that is needed to face what is going on around me, “out there” in the world, is much bigger than it has ever been before.

No, I still can´t face the whole range of what happened in Auschwitz. But the ability to look at the photos, pictures, films, the places where “it” (mass murder, extreme cruelty, etc) all happened, grew. My feeling awarness seems to expand.

I´m much more interessted in what´s going on in the world right now. I´m much more in an emotional contact with what i´m reading in the newspaper, listening to on tv. not fully, but closer.

After being at that place, where the dark side of being human is so enormous, I´m not willing to shut down again, close my eyes. And, suprisingly, i felt closer to “god”, more connected with the people, who went on that trip together with me, than before. The darkest shadow and a very strong experience of light, that´s what Auschwitz means to me.

I´m deeply touched and grateful for the people in our group and every single person that went there with on open, feeling heart. My protctive shield melted, my heart feels broken in a good way. There is pain and a deep trust in life at the same time. (Monika)

Present, palpable, powerful

I was surprised that during the days we spent in Auschwitz I didn’t descend into the horrors, either through mental pictures or by being swamped in emotional seas. My experience was mostly a feeling of mutual support and solidarity with my German companions, whether they felt pain, shame, or the powers of the perpetrators. God bless them. They went where they had to go and they brought me along with grace. Mostly, I felt Light, Joy, and a resolute determination for life, all of which are qualities that I believe to have been nascent in my energetic stream. Auschwitz/Birkenau is an incredible place or energy field. So present, palpable, powerful. The whole range is there, low horrors to high holy. (Russell)

Heilung meiner eigenen Geschichte

Für mich bedeutet die Reise nach Auschwitz jetzt im Nachhinein ein Stück Heilung meiner eigenen Geschichte. Ich habe das Gefühl “ganzer” zurückgekommen zu sein. Interessanterweise fühle ich mich in einem tiefen Frieden, trotz all der unfassbaren Bilder und Informationen, die ich in Auschwitz aufgenommen habe.

Unendlich dankbar bin ich für den Rückhalt unserer Gruppe. Alles durfte sein, alles wurde angenommen …. Ich fühlte und fühle mich gehalten. Ich sehe mich heute als Zeugin und betrachte das Zeugenbewusstsein als sehr wichtigen Teil unserer Geschichte. (Ines)

Zwischen Erstarrung und Wut

Ich hatte schon Tage vor unserer Reise Angst davor, was mich in Auschwitz erwartet, welche Gefühle mich durchlaufen werden und was der Ort und die dort stattgefundene Massenvernichtung in mir auslöst. Die Hilfe vieler Menschen, die uns von Zuhause aus unterstützten sowie unsere individuellen Gebete gaben mir Kraft und Zutrauen.

Die immense Grenzüberschreitung durch zutiefst würdelose Behandlung bis zum grausamen Tod sowie die Schutzlosigkeit so unglaublich vieler Menschen, aber vor allem der Kinder erzeugten zunächst Fassungslosigkeit und Erstarrung und später viel Wut und Traurigkeit in mir, was mir nur durch den Halt und den Kontakt der Gruppe möglich war, in Ansätzen zu fühlen. Während der Tage entstand immer wieder wie ein Wechselspiel zwischen kollektiven und eigenen inneren Themen. Sehr tief berührte mich meine letzte Meditation am Krematorium, in der ich erfahren durfte, dass das Göttliche immer da ist — auch bei all den Menschen, die in Auschwitz gestorben sind. (Britta)

Ich sehe Dich

Langsam gehe ich durch Block 4 und 5 im Stammlager, jetzt werde ich zur Zeugin, lese nicht nur darüber. Berge von Haaren, Brillen, und noch viel mehr. Den Anblick der Kinderschuhe halte ich nicht aus. Schnell verlasse ich den Raum. Tränen mindern die Spannung

in mir. Es tut mir gut, immer wieder auf Menschen aus unserer Gruppe zu treffen, ein Händedruck, ein Blick, eine Umarmung geben mir Halt.

In Auschwitz Birkenau hatten wir uns auf der Rampe aufgestellt. Männer und Frauen getrennt, vorne die, die direkt in die Gaskammer geschickt wurden, wertlos, gedemütigt, misshandelt, zu nichts mehr zu gebrauchen.

Ich stand in dieser vorderen Reihe, spürte nichts von dem kalten Wind, sondern fühlte eine große Kraft in mir, die mich während der 30minütigen Meditation würdevoll aufrecht stehen ließ, wissend, dass mich dieser Weg in den Tod führte, den ich nicht fürchtete. Es erfüllte mich mit Schmerz, dass ich nichts mehr für meine Kinder und Enkel tun konnte.

Wir meditieren mit der ganzen Gruppe in dem Wäldchen direkt neben der Gaskammer und dem Krematorium. Hier wurde die Asche von unzähligen Menschen verstreut. Vor meinem inneren Auge sehe ich wie ein nicht endender Menschenstrom in die Gaskammer hinein fließt. Einem Mantra gleich wiederhole ich still in meinem Inneren „Ich sehe dich“ und aus dem Menschenstrom werden einzelne Gesichter sichtbar .

Am nächsten Tag am gleichen Ort nehme ich eine tiefe Stille, einen weiten Raum und Frieden in mir wahr. Darf das sein? (Irmtraut)

Die Rampe mit Bahnwagon in Birkenau

Ein Auschwitz-Birkenau Tagebuch

Und zum Schluss noch ein paar längere Auszüge aus dem Tagebuch eines der Teilnehmer:

(…)

13.10.2015 — Birkenau am Nachmittag

Ich gehe auf den Gleisen bis zur „Rampe“. Das ist die Stelle, an der arbeitsfähige Menschen ins Lager und alle anderen direkt in die Gaskammer geschickt wurden. In der Luft liegt ein permanenter Geruch von verbrannter Kohle. Mit jedem Schritt werde ich innerlich fester. An der Rampe geht ein Weg zwischen Stacheldraht-Wänden quer durchs Lager und zu den Gaskammern 4 und 5. Am Eingang stehend blicke ich bis zum Ende des Weges, das im Nebel verschwindet. Gruselig, außer zunehmende Kälte in meinem Körper spüre ich nichts. Diese Dumpfheit bleibt den ganzen Nachmittag in mir, auch als ich mich meditierend an die zerstörte Gaskammer 3 setze. In dieser Kammer wurden über 100.000 Menschen getötet. Unvorstellbar. Ich versuche, am Eingang in die Gaskammer die Menschen mir vorzustellen, wie sie die Treppe hinunter in das Gebäude gingen. Ein emotionaler Bezug zu dem Bild gelingt mir nicht. Innerlich dumpf und zurückgezogen von meinem Begleitern verlasse ich Birkenau in der Dunkelheit. (…)

14.10.2015 — Stammlager am Abend

Noch eine Stunde bis zum Schließen des Stammlagers bleibt mir. Ich möchte unbedingt das Israelische Haus sehen und gehe allein hin. Fast alle Besuchergruppen sind schon weg, somit ist es unerwartet ruhig in diesem Haus. Gleich am Eingang umfassen mich die Klänge eines Hebräischen Gebetsgesangs. Ich fühle mich irgendwie gehalten.

Im nächsten Raum laufen Filme und Bilder des Jüdischen Lebens vor dem Holocaust. Sie sehen teilweise wie die alten Super 8 Filme aus meiner Kindheit aus. Themenwechsel im nächsten Raum. Bildschirme mit Nazipropaganda. Ich stelle mich an einen Monitor mit englischer Übersetzung. Ein Schreck durchfährt mich, ich muss die Übersetzung nicht lesen, die Filme sind in meiner Muttersprache. Deutsch!!!

Der nächste Raum findet wie ohne mein Dasein statt. Bilder des Holocaust, wie ich sie in der Kompaktheit des Tötens und der Toten noch nicht gesehen habe. Ich kann nur schauen, lesen, schauen. Mechanisch verlasse ich den Raum, blicke durchs Fenster nach draußen, als mich Wellen von Tränen durchschütteln. Wie kann Mensch dies machen? Der nächste Raum lässt mich nicht mehr los. An den Wänden sind Bleistiftzeichnungen von Kindern aus dem KZ-Lager. Die Bilder verschwimmen immer wieder unter meine Tränen, ich kann einfach nur Weinen. Jedes Bild ein Kind, jedes Bild ist ein Zugang zu dem Erleben und Sterben dieses Kindes. Ich schaue mir jedes Bild an. Das ist das Mindeste, was ich tun kann. Die Tränen fließen einfach weiter. 1,5 Millionen Kinder wurden im Holocaust getötet!

(…)

15.10.2015 — Birkenau am Nachmittag

Wir stehen als ganze Gruppe auf der Rampe und hören einen hebräisch gesungenen Psalm. Gespürt steht die Selektion uns bevor. Wer wird direkt in den Tod geschickt, wer ist arbeitsfähig? Die Trennung von Frau und Mann, Kind und Eltern, Bruder und Schwester, von geliebten Menschen. Diese Mischung aus Schmerz, Ohnmacht und Wut war schon in der gestrigen Abendrunde in unserer Gruppe spürbar und thematisiert. Wir stellen und getrennt auf die Rampe, links die Männer, rechts Frauen direkt auf dem Weg in die Gaskammer und Frauen, die arbeitsfähig sind. Für 30 min blieben wir in kaltem Wind und leichtem Regen getrennt stehen. Ich erwartete Trennungsschmerz, Angst vor dem nahen Tod. Und Wut taucht auf. Worte, wie „weg mit ihnen“, „schafft sie von der Rampe runter“, „ich mach meine Arbeit“, „hör auf mit dem Gewinsel“ tauchen in mir auf. Ich kämpfe dagegen an, will Mitgefühl spüren, mich für diesen Trennungsschmerz öffnen, stell mir Bilder meiner Familie vor, wie ich von ihnen getrennt werde. Es gelingt mir nicht. Mir ist kalt, ich will den Job erledigen, die Rampe frei kriegen. Weg mit ihnen!!!

Wir gehen als Gruppe direkt weiter zur Meditation an der Gaskammer 3. Ich sitze im Regen, mir ist kalt, mich ärgert das rumsitzen, nervt das jüdische Herumgesinge, das vom Mahnmal herüberdringt. Habe keinen Bock zum meditieren. Also bete ich, gehe um das Krematorium herum und spreche ein Gebet in jeder Himmelsrichtung aus. Das macht irgendwie Sinn. Etwas rührt mich dabei leicht an. Der Widerstand zum Meditieren bleibt, ich kann mich nicht wieder hinsetzen. Also mach ich eine weitere Runde in der anderen Richtung um das Krematorium und will die Gebete wieder aussprechen. Meine Stimme ändert sich dabei. Ich spüre Ärger im Ton und gehe fast im Stechschritt um das Krematorium. Und von da aus weiter in das beheizte Toilettenhaus. Lass die doch da alle sitzen und frieren. Ich habe mir die warme Stube verdient. „Das Pack kann ja weiter sitzen.“ Die Gedanken überraschen mich, das will ich nicht denken! Zum Ende vereinbarten Zeit komme ich zurück zur Gruppe. Im schnellen Marsch gehe ich vor der Gruppe voran zurück ins Übernachtungszentrum. Dabei zähle ich die Schritte immer bis 7, immer wieder. Denke nichts, fühle nichts. An einer Bushaltestelle stehen vier Jugendliche, die schauen mich an. Ich muss mich beherrschen, dass ich sie in meiner Wut, die im Untergrund anschwellt, nicht angreife. Ich gehe ins Bett, habe keinen Bock auf die Gruppe und das ganze Gelaber.

16.10.2015 — Birkenau ganztags

Dichter Nebel liegt über Birkenau. Es sind fast keine Menschen unterwegs. Einzig eine deutsche Schulklasse geht in kleinen Gruppen über den Platz. Sie legen an zentralen Stellen des Lagers ganz achtsam rote Rosen nieder. Mehrfach auf dem Weg zum Krematorium sehe ich im Nebel eine rote Rose auftauchen. Ich bin ganz ergriffen, wie die Jugendlichen zusammen mit dem Nebel eine fast feierliche Stimmung von Demut, Trauer und Stille erschaffen.

Ich stehe vor dem Eingang in das Krematorium 3, durch den über 100.000 Menschen in den Tod gegangen sind. Eigentlich sollte ich zur Gruppe, zur gemeinsamen Meditation. Doch ich kann nicht weitergehen, muss vor dem Eingang stehen blieben. Der Nebel liegt noch dicht über dem Krematorium, alles in grau getaucht. Am Eingang liegt eine rote Rose. Wellen von Tränen und Trauer zerreißen mich fast. Wie aus dem nichts steht Monika neben mir und nimmt meine Hand. Ich lasse mich tiefer in diesen Schmerz fallen, bin dankbar, nicht allein zu sein. Gemeinsam gehen wir weiter zur Gruppe.

Die Meditation ist besonders. Ein unglaublich starkes Gruppenfeld ist spürbar, ich bin wie weg und doch da. Licht blendet mich fast. Ich dachte, dass die Sonne durch den Nebel gekommen ist. Anderen ging es auch so. Doch dieses Licht kam von wo anders her. Der Nebel war immer noch dicht um uns am Ende der Meditation.

Zum Abschluss des Vormittags stehen wir im Kreis am Krematorium 3 und machen ein Toning mit der Gruppe. Ich spüre die Verbundenheit untereinander, kann gleichzeitig unseren Kreis und das Krematorium mit einer Dankbarkeit wie von oben sehen und spüre den Schmerz an diesem Platz. Erneut durchlaufen mich Wellen mit dieser Mischung von Trauer, Verbundenheit und Dankbarkeit. (Stefan)

N.B. Sehr zu empfehlen ist die Lektüre von Peter Matthiessens letztem Roman In Paradise, über die Reise einer Zen-Gruppe nach Auschwitz-Birkenau.

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joana breidenbach
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