Céline Burnand: Retour à Helwan — La Maison des vivants (de)

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4 min readNov 17, 2021

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By Miriam Edmunds

Der tuberkulosekranke Romanheld aus Thomas Manns Der Zauberberg reiste nach Davos zur Kur in einem schicken Sanatorium. Von dort berichtet er, wie die gelangweilte Bourgeoisie in einer “Mischung aus Tod und Amüsement”[1] lebte, während sie auf Heilung wartete.

Ausstellungsansicht “Céline Burnand: Retour à Helwan — La Maison des vivants” © Aline Bovard Rudaz 2021

Entgegen der Vorstellungen, die durch zahlreiche, heute noch bekannte und ehemals luxuriöse Sanatorien geschürt werden, war die Tuberkulose hauptsächlich eine Krankheit der armen Bevölkerung. Diese in beengten Wohnverhältnissen hausenden Menschen konnten sich keine Aufenthalte in den exklusiven Schweizer Sanatorien leisten und erlagen der durch Aerosole übertragenen Krankheit zu Tausenden. Zwischen 1916 und 1925 starben in der Schweiz über 50'000 Menschen.[2]

Im waadtländischen Sanatorium Leysin arbeitete der Tuberkulosespezialist René Burnand (1882–1960) als Direktor. 1926 erfuhr er, dass der ägyptische König Fouad einen Kandidaten zur Einrichtung eines Tuberkulosekrankenhauses in Ägypten suchte. Die neue Klinik sollte in Halwan, 30 Kilometer südlich von Kairo eingerichtet werden. Wie bei den Schweizer Sanatorien war die Lage hervorragend. Auf einem Hügel am Rand der Wüste, das Land überblickend, sollte die neue Klinik eröffnet werden. Der Schweizer René Burnand zog mit seiner Familie nach Ägypten.

Ausstellungsansicht Céline Burnand: Retour à Helwan — La Maison des vivants © Aline Bovard Rudaz 2021

Während seiner Zeit in der Fouad-Klinik nahm Burnand über 700 Fotografien auf und verfasste mehrere Bücher. Céline Burnand (*1987), seine Urenkelin, verfolgte während einer Artist Residency in Ägypten die Spuren ihres Urgrossvaters und verwendete sein Archiv als Grundlage ihrer aktuellen Ausstellung Retour à Helwan — La Maison des vivants. 2016 reiste die Fotografin nach Kairo und begab sich auf die Suche nach den Überresten der Klinik. Helwan hatte sich mittlerweile zu einer Industriestadt entwickelt. Dennoch wurde Céline Burnand von der lokalen Bevölkerung davon abgeraten, alleine zur ehemaligen Fouad-Klinik zu fahren. Das Gebäude gehört heute dem Ministerium für religiöse Stiftungen (Awqaf) und ist in einem desolaten Zustand. Die Ruine wird von streunenden Hunden und Gangstern bewohnt. Das erschwerte den Zugang zum Gebäude für die Fotografin.[3] Dennoch gelang Céline Burnand nach vielen Gesprächen mit den vor Ort lebenden Menschen der Schritt hinein ins ehemalige Sanatorium.

In der Ausstellung sind die Besuchenden eingeladen, diesen Schritt ebenfalls zu tun. Der Zutritt zu den Ausstellungsräumen wird durch einen raumfüllenden Vorhang im Korridor versperrt. Aktiv muss man das Stück Stoff, auf dem eine Fotografie der heute auf dem Gelände des früheren Sanatoriums lebenden Männern, aufgedruckt ist, zur Seite schieben.

Ausstellungsansicht Céline Burnand: Retour à Helwan — La Maison des vivants © Aline Bovard Rudaz 2021

Dahinter verbirgt sich eine interessante Mischung aus historischem Material, inklusive des von René Burnand verfassten Buches Al Hayat. Sanatorium du désert und den neuen fotografischen und filmischen Aufnahmen des Ortes durch Céline Burnand. Die Fotografien zeigen eindrücklich, wie sich der Ort im Laufe der Zeit gewandelt hat. Heute ist es ein Raum des Zerfalls und der Trostlosigkeit, wo Kriminalität, Armut und Elend vorherrschen. Dem gegenüber steht die ehemalige Funktion des Ortes, wo Tuberkulosekranke auf Genesung hofften und ihren Lebensmut wiederfinden konnten. Doch auch Céline Burnand präsentiert Elemente der Hoffnung in ihren Arbeiten. Vor allem die Filme von Tänzerinnen, die sich zwischen den Trümmern des ehemaligen Sanatoriums bewegen, schlagen eine Brücke zur Vergangenheit des Hauses. Die Tänzerinnen versinnbildlichen, wie die ehemaligen Patientinnen durch ihren Aufenthalt in der Klinik wiederaufstehen und Bewegung und Körperbeherrschung zurückerlangen konnten. Die Genesung kommt in Céline Burnands Arbeit tänzerisch zum Ausdruck. René Burnand hatte einen Ort geschaffen, wo Menschen ins Leben zurückgefunden haben. Céline Burnand hat Menschen gefunden, die den Ort wiederbelebt haben.

Ausstellungsansicht Céline Burnand: Retour à Helwan — La Maison des vivants © Aline Bovard Rudaz 2021

Die Ausstellung Retour à Helwan — La Maison des vivants ist vom 12. September bis 21. November 2021 im Photoforum Pasquart zu sehen.

Miriam Edmunds ist Historikerin mit Schwerpunk Fotografie. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Photoforum Pasquart.

Ausstellungsansicht Céline Burnand: Retour à Helwan — La Maison des vivants © Aline Bovard Rudaz 2021

[1] Vgl. Mann, Thomas: Der Zauberberg, 1939, IV.
[2] Vgl. Senti, A./Pfister, H. O.: Tuberkulosesterblichkeit in Zürich, in: Zürcher Statistische Nachrichten, Nr. 3, 1946, S. 139.
[3] Vgl. Burnand, Céline: La Maison des vivants, in: Fabrikzeitung online, 24.01.2019.

Ausstellungsansicht Céline Burnand: Retour à Helwan — La Maison des vivants © Aline Bovard Rudaz 2021

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