Eine Konversation mit Rudolf Steiner über seine Ausstellung Ricochet

Photoforum Pasquart
Flare | Photoforum
Published in
7 min readOct 26, 2020

--

Von Miriam Edmunds

„Ich stelle mir auch immer vor, ich sei das erste Mal in dieser Gegend, um alles neu zu sehen…“

Der Künstler und Fotograf Rudolf Steiner spricht mit Miriam Edmunds, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Photoforum Pasquart, über sein fotografisches Langzeitprojekt Ricochet, das erstmals im Photoforum Pasquart gezeigt wird.

Ricochet © Rudolf Steiner

2013 begann der Bieler Künstler und Fotograf Rudolf Steiner seine Arbeit am Langzeitprojekt Ricochet. Steiner fotografierte die Landschaft und Architektur rund um sein Atelier in Biel und Rondchâtel mit einem für seine Zwecke umgebauten Fotoroboter. Der Fotoroboter erzeugt mehrere dutzend bis mehrere hundert aufeinander folgende Aufnahmen, die von Steiner am Computer zu einem Ganzen zusammengesetzt werden. Durch die 10- bis 30-minütigen Aufnahmezeiten können sich die Licht- und Wetterbedingungen zwischen den einzelnen Fotos verändern und visuelle Aberrationen auf der endgültigen Fotografie erzeugen. So sind die Fotografien Steiners zugleich befremdlich und reizvoll. Symbolisch werden die menschlichen Eingriffe in die Natur widerspiegelt, während gleichzeitig die Unkontrollierbarkeit von Naturphänomenen abgebildet wird. Die Bilder der Serie Ricochet laden den Betrachter so auf subtile Weise dazu ein, über die Prägung der Landschaft durch den Menschen nachzudenken.

Ricochet © Rudolf Steiner

Seit 2013 arbeitest Du an Ricochet. War das Projekt schon immer als Langzeitprojekt angelegt?

Nein. Als ich anfing, mit dem Aufnahmesystem zu experimentieren, bot sich die Landschaft im Umfeld meines Ateliers als einfachste und bequemste Lösung an. Erst mit der Zeit habe ich anhand der Resultate den Reichtum des „Naheliegenden“ entdeckt und habe mir dann die Zeit genommen, das Projekt über Jahre auszudehnen, um verschiedene Jahreszeiten und Lichtsituationen zu sehen und zu fotografieren.

Du verwendest einen Fotoroboter, um Ricochet zu fotografieren. Wie bist Du auf die Idee gekommen, den Fotoroboter zu nutzen?

Ich habe den Gigapan Pro Kameraroboter für einen kommerziellen Auftrag angeschafft. Die Arbeit an hochaufgelösten Gigapixel-Panoramen hat mich dann auf die Idee gebracht, die Möglichkeiten des Kameraroboters mit der extrem reduzierten Schärfentiefe eines 400 mm Teleobjektivs mit maximal geöffneter Blende zu kombinieren. Dieses System gab mir die Möglichkeit, die reduzierte Schärfentiefe eines Teleobjektivs auf den Bildwinkel ein „Weitwinkel-Objektiv“ anzuwenden. Die unglaublich hohe Auflösung gibt’s dann quasi gratis dazu.

Wie darf man sich eine Fotosession mit dem Fotoroboter vorstellen? Gab es Vorbereitungsarbeiten, die aufgrund der Nutzung des Roboters, speziell getroffen werden mussten?

Die Vorbereitung für eine Fotosession waren eher gute Schuhe, warme Kleidung und genügend Batterien in der Tasche sowie viel Geduld denn technische Ansätze. Ansonsten bin ich oft mit dem Roboter im Rucksack, dem Stativ und der Kamera relativ planlos in die Landschaft gewandert, auf der Suche nach Motiven. An manchen Tagen ergab sich kein Bild, an anderen Tagen habe ich während der langen Wartezeit, bis eine Aufnahme getätigt ist, viele neue Motive entdeckt, die mir vorher gar nicht aufgefallen wären.

Welche Schwierigkeiten musstest Du überwinden, um mit dem Fotoroboter arbeiten zu können?

Eine Schwierigkeit war sicher die Umständlichkeit und das Gewicht der Ausrüstung. Daneben gab es eine längere und auch frustrierende Versuchsphase, bis ich die richtigen Einstellungen und Arbeitsabläufe beim „Stitchen“ der vielen Fotos auf dem Computer herausgefunden hatte. Ich gehe beim Fotografieren eher intuitiv vor, aber hier war regelrechte Knochenarbeit am Computer gefragt. Zudem war ich über längere Zeit sehr unsicher, wie ich diese Art von Fotografie einschätzen sollte und ob der ganze Aufwand sich überhaupt lohnt.

Ricochet © Rudolf Steiner

Christophe Fovanna schrieb über Ricochet[1]: „Es gibt immer eine innere Dimension — psychologisch, metaphysisch, philosophisch usw. — die den Ausschlag für eine Landschaftsaufnahme gibt.“ Würdest Du dieser Aussage zustimmen? Was hat bei Dir dazu geführt, dass Du Dich mit Landschaftsfotografie auseinandersetzt?

Dieser Aussage kann ich so zustimmen, auch wenn die Wahl eines bestimmten Motives, wie schon gesagt, ein intuitiver Prozess ist. Die „innere“ Dimension, von der Fovanna schreibt, kommt dann vor allem bei der Selektion der „gültigen“ Aufnahmen zum Zuge, wo man sich — kill your darlings — von liebgewonnenen Bildern verabschieden muss, um ein kohärentes „Ganzes zu schaffen, das über die eigene Wahrnehmung und Sentimentalität hinaus Gültigkeit hat.

Der Aufnahmeprozess mit dem Gigapan Gerät eignet sich natürlich kaum für Portraits, und wie in meinem Buch und der Ausstellung ersichtlich, sind meine Motive nur im weitesten Sinne dem Genre Landschafts-Fotografie zuzuordnen. Es gibt ebenso Interieurs, Architektur oder urbane Situationen, banale Details, Wegränder etc.

Du fotografierst Rund um Dein Atelier in Rondchâtel, in Biel und der näheren Umgebung. Wie findest Du Deine Bildsujets?

Durch Aufmerksamkeit. Oft spricht mich eine bestimmte Lichtsituation an, eine farbliche Konstellation, der Schatten einer Brücke auf den Büschen, die roten Äpfel im Baum, die Wolken über den Felsen. Ich stelle mir auch immer vor, ich sei das erste Mal in dieser Gegend, um alles neu zu sehen und jedem Detail die richtige Aufmerksamkeit zu schenken.

Ricochet © Rudolf Steiner

Welche Bedeutung haben die in Deinen Fotografien sichtbaren Aberrationen?

Die waren ganz in der Anfangsphase fast ein Grund, das Projekt zu begraben, da sie meinen Bildvorstellungen zuwider liefen. Erst mit der Zeit und nach einigen Überlegungen/Lektüre/Recherchen zum Medium Fotografie habe ich den ästhetischen und inhaltlichen Wert dieser „Fehler erkannt und sie bewusst in meine Vorgehensweise einbezogen.

Hast Du manchmal komplett unerwartete Veränderungen im Bild entdeckt, nachdem Du es via Computer zusammengesetzt hast?

Der Zufall war allgegenwärtig und ein verlässlicher Mitarbeiter: die Motive sind mir „zu-gefallen“, und die Überraschung/Erwartung war jedesmal gross, wenn sich das fertige Bild auf dem Bildschirm manifestierte. Fast wie in der analogen Fotografie, wo sich das Bild als Negativ oder Positiv auch erst beim Entwickeln zeigt.

Gab es auch Momente, in denen Du das Ergebnis nach dem Zusammensetzen der Fotografien enttäuschend fandest?

Das gab es mehr als einmal. Obwohl: im Verlaufe der Zeit haben sich meine Erwartungen auch verändert. Ein Bild, das ich enttäuschend fand, konnte sich nach ein paar Jahren als grossartig erweisen. Ich habe zuerst lernen müssen, meinen Erwartungen zu misstrauen und neue Sichtweisen zuzulassen.

Ausstellungsansicht von Ricochet © Rudolf Steiner

Was bedeutet der Ausstellungstitel „Ricochet“?

„Ricochet“ kommt aus dem französischen und bezeichnet einen Schuss, der zuerst auf dem Boden abprallt, bevor er das Ziel trifft. Man verwendet den Begriff aber auch für abprallen, Queschläger, Schiefern, und im französischen wird der Begriff auch für Fotobücher verwendet, wenn eine Seite oder ein Bild auf ein anderes Bezug nimmt, „cette image fait ricochet à l’autre“.

Die Szenografie von Ricochet erinnert eher an ein Künstleratelier als an einen klassischen Museumsraum. War das Deine Intention?

Hier stellt sich die Frage, was ein klassischer Museumsraum und eine klassische Präsentation eigentlich will und wem er dient. Ich wollte anstelle der gerahmten „Fenster“ in eine andere Welt eine Situation schaffen, wo der Betrachter/die Betrachterin nie sicher ist, wo das Bild eigentlich verortet ist und wie viel es wert ist. Ein Bild, ob auf einem Zeitungspapier oder auf hochwertiges Material gedruckt, bleibt das gleiche Bild — einzig die Wertigkeit verändert sich. In diesem Sinne wollte ich den Bildern Referenz erweisen, nicht allein ihrem Wert. Das Auge geht von einem zum anderen Bild, der Körper folgt im Raum und muss sich in dieser Vielfalt positionieren. Das kann anstrengend sein, aber auch lustvoll. Dafür gibt es nichts zu lesen, die Bilder sprechen für sich.

Ausstellungsansicht von Ricochet © Rudolf Steiner

Dir von Anfang an klar, dass Du die Ausstellungsräume in der heute präsentierten Art und Weise gestalten wolltest?

Nein, aber nachdem die Räume einmal festgelegt waren, war relativ schnell klar, dass es eine Wand mehr braucht, um die Räume nicht zu gross werden zu lassen, und dass der Horizont mit den Bilderschienen festgelegt werden muss. Die Bilderschienen stellen zudem die ganze Präsentation als provisorisch in Frage, da die Bilder jederzeit ausgewechselt werden könnten.

Welche Bedeutung hat die von Dir selbst gestaltete Tapete, die im Ausstellungsraum gezeigt wird?

Die Zeichnungen auf der Tapete sind Darstellungen des „Abprallens“ des Sehstrahls in der Landschaft, einem Sehstrahl, der laut der Wahrnehmungstheorie von Platon vom Auge ausgeht und auf den Gegenstand trifft, nicht umgekehrt. Diese philosophische Dimension ist mir wichtig und konnte mit dieser Umsetzung als Tapete unerkannt und als Fragezeichen im Hintergrund aktiv werden.

Ausstellungsansicht von Ricochet © Rudolf Steiner

Mit welchen Erkenntnissen würde ein_e Besucher_in die Ausstellung Ricochet idealerweise verlassen?

Vielleicht mit der Erkenntnis, dass jedem Augenblick die nötige Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte.

[1] https://sichtbar.art/blog-uebersicht/ricochet

Ricochet wurde am 19. September 2020 im Photoforum Pasquart in Biel (Schweiz) eröffnet. Die Ausstellung ist leider bis auf weiteres aufgrund eines Entscheids der Behörden des Kantons Bern geschlossen, die die Kulturstätten am 23. Oktober 2020 geschlossen haben.

Ricochet © Rudolf Steiner

--

--

Photoforum Pasquart
Flare | Photoforum

Exhibition space dedicated to contemporary photography. We publish selected essays written on the occasion of our exhibitions and research.