“Man sollte Minderheiten selbst zu Wort kommen lassen.”

Klauende Polen und kopftuchtragende Frauen mit Aldi-Tüten: Viele Migranten leiden darunter, dass sie in den Medien nur als Klischee vorkommen. Dass es auch anders geht, zeigt ein VICE-Journalist.

Sie alle haben etwas zu sagen. Doch der Journalismus in Deutschland ist noch immer sehr weiß.

Mennas* Stimme klingt gereizt: “Obwohl ich in einem muslimischen Land lebe, werde ich manchmal für mein Kopftuch diskriminiert”, sagt sie. Menna ist 22, lebt in Ägypten und würde gerne als Touristenführerin arbeiten. Doch da sie Kopftuch trägt, hat ihr Chef sie zur Seite genommen: Viele westliche Tourist*innen wollten mit kopftuchtragenden Frauen nichts zu tun haben, argumentierte er. Und viele würden beim Kopftuch gleich an Terror denken. Menna blieb standhaft, das Kopftuch setzte sie nicht ab. Stattdessen wartet sie jetzt darauf, ihre Lizenz zu erhalten.

Menna ist meine Freundin. Ich habe sie während eines Praktikums in Ägypten kennen gelernt, deshalb reden wir am Telefon. Es ist bekannt, dass Frauen mit Kopftuch viel mit Diskriminierung zu kämpfen haben. Aber selbst in einem islamischen Land? Das scheint überraschend.

Menna gibt den US-amerikanischen und europäischen Medien die Schuld. Immer gehe es nur um Terrorismus, Tod, ISIS. Um gewalttätige muslimische Männer und zwangsverschleierte Frauen. Doch: “So ist das nicht”, sagt Menna naserümpfend. “Wir werden nicht gezwungen, Hijab zu tragen. Es ist unsere Entscheidung.” Ich habe Menna lange nicht gesehen. Trotzdem erinnere ich mich daran, wie viele verschiedene Kopftücher sie getragen hat, mit Mustern und in bunten Farben, immer ein Lächeln auf den Lippen. Egal in welcher Situation, sie wirkte immer glamourös. Sie schien den Hijab mit Stolz zu tragen.

Artikel über türkische Migranten werden mit kopftuchtragenden Frauen mit Einkaufstüten bebildert — das ist nicht repräsentativ

Mennas Eindruck ist nicht falsch, zumindest in Bezug auf deutsche Medien. Allein in den Jahren 2015 und 2016 befassten sich öffentlich-rechtliche Talkshows 117 Mal mit Themen wie Integration und Islamismus. Hinzu kommt, dass meistens nur schlechte Nachrichten berichtet werden, gerade beim Thema Islam. Laut Kai Hafez, Medienwissenschaftler an der Universität Erfurt, befassen sich etwa 60 bis 80 Prozent der Beiträge in der überregionalen Presse mit dem Islam im Kontext körperlicher Gewalt und anderen Negativthemen. So wird eine ganze Religion — samt all ihren Anhängern — in den Köpfen allmählich zu einer Bedrohung. Verschleierte Frauen werden zu deren sichtbaren Symbol.

Verbände kritischer Medienschaffenden wie die „Neuen Deutschen Medienmacher“ kritisieren seit Jahren, dass Medien Klischees transportieren: in Worten, aber auch in Bildern. Viele Berichte über türkische Migranten etwa werden mit Frauen mit Kopftuch und Einkaufstüten in der Hand bebildert — meist von hinten fotografiert. Dabei ist gerade dieses Bild nicht repräsentativ: “Nur 28 Prozent aller Musliminnen tragen hierzulande ein Kopftuch“, schreibt Ferda Ataman, Mitgründerin der Neuen Deutschen Medienmacher in diesem Beitrag. Die türkischstämmige Jura-Studentin, der Abgeordnete, die völlig areligiöse Krankenschwester: Sie alle bleiben in solchen Bildern unsichtbar.

“Jedes Mal, wenn ich zu Besuch war, stand ich unter dem Verdacht, etwas verbrochen zu haben”

Muslime mögen derzeit im Fokus der Aufmerksamkeit stehen — doch auch andere Einwanderergruppen erfahren Diskriminierung. Und auch viele von ihnen glauben, dass das etwas mit ihrem Bild in den Medien zu tun hat. So etwa Robert Meyer*, dessen Name auf den ersten Blick nicht auf seine polnische Herkunft schließen lässt. “Als ich klein war, gab es im Fernsehen die üblichen Polen-Witze”, sagt er. Und die Klischees fanden ihren Weg aus dem Fernsehen in seinen Alltag: “Ich habe als Kind oft stereotype Polen-Sprüche gehört. So etwas wie: ‘Muss ich jetzt meine Sachen vor dir verstecken?’ oder ‘Bitte klau mir nichts’”, erzählt der 30-Jährige. Am schlimmsten sei der Vater eines Freundes aus der Nachbarschaft gewesen. “Jedes Mal, wenn ich zu Besuch war, stand ich unter dem Verdacht, etwas verbrochen zu haben. Ein Mal hat er mich gefragt, ob ich seinem Sohn etwas klauen wollte. Ein anderes Mal, ob ich etwas im Haus kaputt gemacht hätte.“

Meyers polnischer Hintergrund war für den Vater des Freundes offenbar Grund genug ihn so zu behandeln. Wie fühlt man sich als Kind dabei? “In dem Alter konnte ich das Ganze noch nicht einordnen”, sagt Meyer. “Trotzdem wusste ich: ‘Das, was gerade passiert, ist nicht korrekt.’”

Meyer ist keiner, der hinter jedem flachen Witz Rassismus vermutet. “Ich konnte irgendwie verstehen, warum es die Witze im Fernsehen gab, weil an ihnen definitiv auch etwas Wahres dran war. Manchmal musste ich sogar selbst darüber lachen”, sagt er. Man könnte daraus schließen: Nicht der einzelne Witz ist das Problem. Sondern, dass der gelegentliche Witz, das gelegentliche Klischee sich durch Wiederholung zur Wahrheit verdichtet.

Dass bei aller Selbstkritik auch an den Klischees über polnische Migranten im Großen und Ganzen wenig dran ist, zeigt ein Blick in die Statistik: Als zweitgrößte Zuwanderergruppe sind polnische Staatsangehörige laut Bundeszentrale für politische Bildung überdurchschnittlich gut in den deutschen Arbeitsmarkt und die Gesellschaft integriert. Im Vergleich zu anderen Gruppen spielt dabei vor allem die kulturelle Nähe zu Deutschland eine Rolle. Außerdem legen viele Polinnen und Polen großen Wert auf Bildung. Trotzdem, sagt Meyer, sei “polnisch” bis heute ein Synonym für billige Hilfsarbeit und schlechte Qualität.

“Viel zu oft schreiben privilegierte Leute über unprivilegierte Leute”

Es ist offensichtlich, dass Medien Einfluss darauf haben, wie Minderheiten wahrgenommen werden. Und damit auch darauf, wie sie behandelt werden. Tim Geyer, Senior Editor bei VICE Deutschland, sieht vor allem “Framing” als Problem.

Framing bedeutet, dass über eine Formulierung Einfluss auf die Wahrnehmung oder sogar das Verhalten des Lesers genommen wird. Darüber, wie eine Information oder ein Thema präsentiert wird (“Deutungsrahmen”), wird bereits eine Interpretation vorgenommen. Ein Beispiel dafür ist das halbleere/halbvolle Glas. Je nachdem, ob es als “halbvoll” oder “halbleer” präsentiert wird, wird es als Gewinn oder Verlust bewertet.

Als Beispiel führt Geyer eine Leser-Debatte unter einem Artikel auf Twitter an; in dem geteilten Artikel ging es um junge männliche Migranten. Darin hieß es unter anderem, dass die Männer “aus archaischen Gesellschaften” kämen. Geyer kritisiert die Wortwahl: So entstehe ein pauschal-negatives Bild von Migranten, als würden sie generell nicht in diese Gesellschaft passen.

Journalisten müssen also auf ihre Sprache achten, auch und gerade wenn es um Minderheitenberichterstattung geht. Die Neuen Deutschen Medienmacher haben ein Glossar mit Formulierungshilfen dazu entwickelt. Offenbar eine gute Idee. Auch die VICE hat inzwischen einen Guide zu diskriminierungsfreier Sprache angelegt, erzählt Geyer. Was es sonst noch braucht? Redaktionen müssten vielfältiger werden, sagt Geyer: “Viel zu oft schreiben privilegierte Leute über unprivilegierte Leute“. Er fügt hinzu: “Man sollte nicht nur über Minderheiten schreiben, sondern sie auch selbst zu Wort kommen lassen.”

Was das nicht heißt: Dass nur Menschen, die selbst von Diskriminierung betroffen sind, sensibel darüber schreiben können. Ein guter Journalist oder eine gute Journalistin sollte fähig sein, sich auch in Menschen hineinzuversetzen, mit denen er oder sie vielleicht gar nichts gemein hat. Manchmal helfe es schon, sich die richtigen Fragen zu stellen: Welche Protagonisten wähle ich aus? Zeige ich eine Frau mit Kopftuch nur dann, wenn es um den Islam geht? “Warum nicht auch dann, wenn man einfach eine Frau im Foto braucht?”, sagt Geyer. Er fügt hinzu: “Es wäre so einfach, dass Minderheiten mehr repräsentiert werden, indem man nicht immer direkt die erstbeste Wahl nimmt.”

Diese Sensibilität war auch bei der VICE nicht immer selbstverständlich. Irgendwann stellte die Redaktion fest, dass auf der Homepage fast nur Männer zu sehen waren. Deshalb gibt es jetzt eine Redakteurin, die dem auf den Grund geht. Regelmäßig prüft sie die Homepage auf Ausgewogenheit; schaut beispielsweise, dass das Verhältnis von männlichen und weiblichen Protagonisten ausgeglichen ist und dass Menschen verschiedener sexueller Orientierungen repräsentiert werden.

Genau diese Sensibilität hat Robert Meyer früher vermisst. “Anstatt sich darüber lustig zu machen, hätte man sich fragen können, warum die Polen angeblich so viel geklaut haben. Viele Leute waren nach dem Ende des Kommunismus verzweifelt und sahen keinen anderen Ausweg.” Statt nur auf das Symptom “Klauen” zu schauen, hätte man also auch nach der Ursache fragen können. Seine Kindheit wäre wohl anders verlaufen.

*Name von der Redaktion geändert

--

--