Ringbahn-Roulette: Was macht für Berliner*innen das gute Leben aus?

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Die S-Bahn ist nicht unbedingt ein Ort, um sich über die großen Fragen des Lebens zu unterhalten. Ich habe es trotzdem gemacht.

Von Hannah Grünewald

Einsteigen, bitte. Zurück bleiben, bitte.

Für viele ist sie ein Ort des absoluten Grauens. Stickig, unpünktlich, überfüllt. Klebrig im Sommer, zu kalt im Winter. Und doch einer der poetischsten Orte Berlins. Stoisch zieht sie täglich ihre Kreise. Steht standhaft wie eine Stadtmauer um den Kern Berlins und bildet die Coolness-Grenze zwischen “lebenswert” und “gefühlt schon Brandenburg”. Die Berliner Ringbahn ist Institution und Illusion. Scheinbare Sicherheit in einer Stadt, in der nichts sicher ist. Immer in Bewegung, die dann doch nur im Kreis verläuft. Und das in einer Stadt, in der nichts beim Alten bleibt; die immer nach vorne flüchtet und den Stillstand so sehr fürchtet wie den Schienenersatzverkehr.

Urbane Hiobsbotschaften

Es ist Sommer, es ist klebrig und es riecht nach zu vielen Menschen. Ein abwegiger Ort, um meine Mitreisenden zu fragen, was für sie ein gutes Leben ausmacht. Aber genau das habe ich vor. Eine Stunde Fahrt, 26 Stationen, 8 Lebensgeschichten. Ich rede mit jedem, der sich mir gegenübersetzt. Und fast alle wollen reden.

Was sie glücklich macht? “Arbeiten”, sagt Babsi, “und dann die freien Tage genießen”.

Westkreuz. Babsi Müller, Mitte 60, braun gebrannt, enges Glitzer-T-Shirt, schaut mich musternd an. Ich frage sie, was ein gutes Leben für sie ausmacht. Babsi beugt sich zu mir rüber und senkt ihre Stimme. “Abartig” sei die Ringbahn, in anderen Städten würde alles viel geregelter ablaufen. Es seien zu viele Besoffene hier, zu viele Obdachlose, zu viele Ausländer, zu viele Arbeitslose. Dafür hat Babsi kein Verständnis, jeder könne arbeiten. So wie sie. Alleinerziehend mit drei Kindern hat sie Zeitungen ausgetragen und Nachtschichten im Museum verbracht. Was sie glücklich macht? “Arbeiten”, sagt Babsi, “und dann die freien Tage genießen. Eine Wohnung haben und die Miete bezahlen zu können, am Wasser zu sein, in der Natur.”

Babsi ist schon ausgestiegen, als ich in Tempelhof auf Najah treffe. Najah ist 57 und trägt ein hellgraues Kopftuch. Ihre Sitznachbarin sagt, dass sie jung aussieht. Najah lächelt. Sie kommt von der Arbeit und fährt nach Hause, nach Lichtenberg. Sie arbeitet als Lehrerin mit Geflüchteten. “Ein gutes Leben2, sagt sie, “das ist, wenn Menschen miteinander respektvoll und in Toleranz leben. Achtung voreinander haben und andere Kulturen akzeptieren. Wenn Menschen in Sicherheit leben und es Gerechtigkeit gibt, zwischen Frauen und Männern”. Ich wünschte, Babsi hätte sich mit ihr unterhalten.

Alma, zwölf, und Sara, zwölf, kommen gerade aus dem Schwimmbad. Ihr Haar ist noch strähnig vom Wasser, die Nasen sonnenrot. Was ist für die zwei Freundinnen ein gutes Leben? “Eine Familie haben und Freunde. Eine eigene Meinung haben. Freiheit. Sich um die Umwelt kümmern”, sagt Alma. Sara nickt: “Und einen guten Job zu haben, mit Tieren zu arbeiten, als Tierärztin oder Tierpflegerin”. Ricardo, 39, Almas Vater, sitzt den beiden gegenüber. Ich frage ihn, ob er diesen großen Konzepten noch etwas hinzufügen kann. Er wird ernst: “Die Abschaffung von Ungleichheit macht ein gutes Leben aus, die nur ohne die Kategorien des Konsums gedacht werden kann. Das betrifft alle Lebensbereiche und der Rest ist persönliche Entfaltung und ist jeder Person selbst überlassen.“ Das hätte auch in einer philosophischen Hausarbeit stehen können, denke ich mir. Alma und Sara siezen mich, als sie mir einen schönen Abend wünschen, und steigen in Schöneberg aus.

Auf die Ungleichheit, die Ricardo anspricht, treffe ich ein wenig weiter auf der Strecke. Hermannstraße, ich spreche wieder mit einem Familienvater. Abdul ist erst 25 Jahre alt, genau wie ich. Ein gutes Leben? Er schluckt. Er wäre gerne professioneller Ringer oder Boxer geworden, aber nach einem doppelten Jochbeinbruch musste er damit aufhören. Er hätte blind sein können. Jetzt arbeitet er als Sicherheitsfachangestellter. Sein Glaube hat ihm geholfen, erzählt er, der steht an erster Stelle, dann kommt die Familie. Er hat zwei Kinder, sein Sohn ist fünf Jahre alt und seine Tochter gerade erst drei Monate. Ich gratuliere ihm, er lächelt mich an. Er wünscht sich mehr Geld, sagt er. Nicht mehr von Monat zu Monat kämpfen zu müssen, sondern seiner Familie ein besseres Leben bieten können, das wäre für ihn ein gutes Leben. Ich denke an Ricardo. Über Ungleichheit nachdenken zu können, ist ein Privileg, sie zu erleben Abduls Alltag.

Mathilde und Basti auf dem Weg zum KLunkerkranich

Schönhauser Allee. Mir gegenüber sitzen Basti, 27, und Mathilde, 22. Etwas “tipsy”, wie Mathilde selbst einräumt. Die beiden wirken wie aus einem Lehrbuch über meine Generation. Basti ist freier Videoproduzent aus Berlin. Mathilde kommt aus Schweden und studiert Soziologie und Politikwissenschaft in Paris. Die beiden sind auf dem Weg nach Neukölln und wollen in den Klunkerkranich. Seid ihr ein Paar? “Most of the time”, sagt Basti und lacht. Was ist ein gutes Leben für Euch? “Gesundheit und Familie”, sagt Basti, “Geld ist nicht wichtig”. “Mit den Menschen, die man liebt, Zeit zu verbringen”, sagt Mathilde und schaut Basti mit großen Augen an.

Westkreuz. Ich steige aus. Ganz benommen vom Ringbahn-Roulette. Das gute Leben? Vielleicht utopisch, danach ausgerechnet in der Ringbahn zu suchen. Aber es wäre nicht Berlin, wäre nicht in dem dunkelsten Winkel, der dreckigsten Ecke auch eine Menge Ehrlichkeit und Leben zu finden. Die Ringbahn zieht weiter ihre Kreise, nimmt alle und alles mit. Kein Lebensentwurf, kein Traum, keine Hoffnung, die nicht schon einmal auf einem der grün-gemusterten Sitze Platz genommen hätte.

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