Evolution der Dysfunktion — Teil 2

Ralf Westphal
Gedankliche Umtriebe
9 min readDec 12, 2017

Im ersten Teil meiner Erkundung, wie es zu Dysfunktionen in Unternehmen kommt, habe ich versucht nachzuzeichnen, wie sich die grundsätzlichen Verhältnisse der Erbringung von Leistungen entwickelt haben.

Zunächst geht es um den selbstversorgenden Ausgleich von Mangel. Dann um den gegenseitigen Ausgleich von Mangel über Tausch. Dann um den Tausch von Leistung gegen Geld.

Das habe ich volle Kopplung genannt, weil hier zwei Akteure — der Produzent als Quelle und der Konsument als Senke einer Leistung — selbstbestimmt in Co-Evolution ihre eigenen Bedürfnisse befriedigen.

In solch bilateraler Beziehung lässt sich allerdings Mangel nur mit recht simplen Leistungen ausgleichen. Wenn Konsumenten mehr wünschen, dann müssen Leistungen durch eine Kette von Produzenten erbracht werden.

Jedes Kettenglied ist bereit, Geld zu bezahlen für eine Leistung, die ihm von upstream zufließt. Selbst leistet es wiederum nach downstream, um Geld zu empfangen.

Leistungen fließen downstream, Geld fließt upstream.

So ist das zumindest, wenn die Leistungskette am Markt besteht. Wird sie jedoch in einem Unternehmen als autonomen Akteur höherer Ordnung aufgespannt, ändern sich die Verhältnisse grundlegend.

Das Unternehmen ist nun selbst voll gekoppelter Akteur in Austauschbeziehungen, seine internalisierten Leistungserbringer jedoch nicht mehr. Sie sind nur noch Produktionskerne in Teilkopplung.

Die Teilkopplung in der Leistungskette besteht vor allem in einem unidirektionalen Resultatsfluss und kulminiert in der Leistung gegenüber dem Kunden.

Die Betonung liegt auf Unidirektionalität, weil eben keine bidirektionale Aushandlung mehr zwischen den Kettengliedern stattfinden soll. Unternehmen ersetzen diese Aushandlung durch explizite, ebenfalls unidirektionale Koordination so weit es geht, um einen Effizienzgewinn einzustreichen.

Die vormalig vollständige Autonomie der Kettenglieder am Markt reduziert das Unternehmen bei der Internalisierung auf eine Teilautonomie.

„Nicht lang’ schnacken, Kopf in’ Nacken!“ ist das Motto in Unternehmen, würde ich sagen. In der Leistungskette soll nicht lange geredet werden, sondern produziert werden. Jeder Mitarbeiter an seiner Position in der Leistungskette soll sich auf sein Spezialgebiet konzentrieren und Resultate gemäß Koordinationsanweisung nach downstream schieben. Je mehr nur in eine Richtung fließt, desto besser.

Außerdem hat die Entkopplung der Leistungskettenglieder untereinander und vom Konsumenten, der kollektiv erbrachten Leistung zur Folge, dass die Verteilung des Geldes organisiert werden muss. Mitarbeiter bekommen ihr Geld nicht vom externen Konsumenten; sie lassen es auch nicht unter sich in der Leistungskette gegen Erhalt von Resultaten upstream fließen. Stattdessen wird es von der Unternehmensführung verteilt.

Zu beachten ist dabei, dass eine Beziehung, in der Geld fließt, immer eine in voller Kopplung ist! Geld wird ja nicht verschenkt. Der Geldgeber ist Konsument bzw. Kunde der Geldempfänger. Sie produzieren immer irgendetwas für ihn als Antwort auf einen Auftrag.

Innerhalb von Unternehmen besteht der Auftrag in einem Regelwerk und die Leistung in Einhaltung der Regeln. Dafür werden Mitarbeiter entlohnt.

Unternehmensdimensionen

Die Organisation in Unternehmen entfaltet sich also in drei Dimensionen:

  • In der Produktion wird die Leistung für den externen Konsumenten hergestellt.
  • Koordination ist nötig, weil die Produktionskettenglieder ansonsten zu wenig Informationen haben in Bezug auf die insgesamt zu erbringende Leistung.

Zusammen stellen Produktion und Koordination für mich die Operation des Unternehmens dar.

  • Führung lenkt die Operation mittels Rahmenbedingungen, Regeln, Policies — und versorgt sie mit Geld.

Für die Bedeutung des Unternehmens als Tauschpartner gegenüber seinen Konsumenten ist natürlich die Produktion die wichtigste Dimension. Dort wird der Wert, der Nutzen für den Kunden hergestellt.

Wenn es nötig ist, dann soll das gern explizit koordiniert geschehen. Aus Sicht des Kunden ist das egal. Für ihn ist vor allem wichtig, dass die ganze Operation effizient und effektiv leistet. Dafür ist er bereit, Geld auszugeben.

Aber auch wenn im Außenverhältnis die Operation die wichtigste Dimension ist, so ist zunächst die Führungsdimension zu betrachten. Sie ist im Innenverhältnis die wichtigste. Nur in dieser Dimension besteht ja volle Kopplung, nur hier fließt das von allen Operationsgliedern benötigte Geld. Und ohne Geld sind sie nicht gewillt, sich zu engagieren.

Führung muss deshalb dauerhaft das Kunststücke vollbringen, die natürlicherweise auf sie gerichtete Motivation der Mitarbeiter umzulenken in Richtung des Resultatsflusses in der Operation.

Quellen sind motiviert auf ihren Konsumenten hin. Er verspricht ihren Mangel auszugleichen, hier: mit Geld. In Unternehmen führt das zu einer fundamentalen Spannung zwischen Führung und Operation.

Ich sehe in der Minimierung dieser Spannung die zentrale Aufgabe von Führung. Dysfunktion entsteht, wenn das nicht gelingt. Solange die Aufmerksamkeit von Mitarbeitern darauf gerichtet ist, Wohlverhalten für die Führung herzustellen, um mit Geld entlohnt zu werden, steht die Motivation weder für die Produktion, noch die Koordination, noch für die Veränderung von Produktion und Koordination zur Verfügung.

Bildhaft ausgedrückt ist die Entkopplung der Mitarbeiter vom externen Konsumenten durch die Einführung von Führung als Geldquelle die Erbsünde von Unternehmen. Nach herkömmlicher Vorstellung davon, wie Unternehmen organisiert sein sollten, kommen sie damit auf die Welt.

Sünde deshalb, weil Unternehmen durch die daraus resultierende Spannung dem Versprechen gegenüber ihren Konsumenten nicht voll nachkommen können. Der vertraut darauf, dass alle Kräfte auf eine gute Leistung ihm gegenüber ausgerichtet sind — doch das stimmt nicht. Es kann nicht stimmen, weil die volle Kopplung nicht in der für ihn relevanten Dimension besteht.

Wunsch bzw. Versprechen und Realität gehen auseinander. Konflikte sind vorprogrammiert. Früher oder später.

Zweck der Unternehmensbereiche

Ein Unternehmen besteht aus drei Bereichen:

Ihre Zwecke sind komplementär. Ihre Ausrichtung ist, wie die Dimensionenpfeile schon andeuten, unterschiedlich.

  • Produktion: Mangelausgleich beim externen Konsumenten
  • Koordination: Produktivität durch Effizienz und Effektivität
  • Führung: Steigender Unternehmenswert

Was in den Unternehmensbereichen getan wird, soll den jeweiligen Zweck fördern. Alles andere ist Verschwendung.

Wirkung der Unternehmensbereiche

Das Unternehmen muss nach außen etwas demonstrieren, damit es als attraktive Quelle von potenziellen Konsumenten wahrgenommen wird. Die Unternehmensbereiche müssen also etwas bewirken, um ihre Zwecke zu erreichen.

Mir scheint, das geschieht durch:

  • Nützlichkeit der Leistungen aus sorgfältiger Produktion
  • Verlässlichkeit der Produktion durch geschickte Koordination
  • Anpassungsfähigkeit der Operation durch gute Führung

Eine hochqualitative Leistung, die dem Konsumenten maximal nutzt, steht natürlich am Anfang. Dafür ist jedes einzelne Produktionskettenglied verantwortlich. Ohne gute Produkte kann es keinen dauerhaften Unternehmenserfolg geben. Darin besteht auch die Gründungsidee eines Unternehmens: Qualitätsprodukte im Tausch gegen Geld liefern. (Was Qualität ist, bestimmt natürlich der Konsument. Aktiv formuliert er das in seinem Auftrag an eine Quelle und evtl. später in einem expliziten Feedback. Passiv formuliert er es durch Quellentreue bei zukünftigem Konsum.)

Höchste Qualität in der Leistung nützt jedoch nichts, wenn die nicht zuverlässig hergestellt und zuverlässig geliefert wird. Qualität darf kein Zufall sein, auch wenn die Auftragslast schwankt oder es zu Fehlern kommt. Dafür ist die Koordination zuständig. Die Produktion kann nur so gut sein, wie die Informationen aus der Koordination.

Aber auch zuverlässige hochqualitative Leistung heute nützt nichts, wenn sie morgen oder übermorgen nicht mehr zuverlässig ist. Angesichts von Entwicklungen in der Umwelt bei Konsumenten, Quellen, Arbeitsmarkt, Gesetzeslage, Materialien, Werkzeugen usw. ist anzunehmen, dass sich die Bedingungen für Qualität und Verlässlichkeit verschieben. Dazu kommen gesellschaftliche Veränderungen und eine Alterung aller unternehmensinternen Teile (Mitarbeiter, Werkzeuge, Infrastruktur).

Unternehmen müssen Zuverlässigkeit und Qualität angesichts von Wandel gewährleisten und tendenziell sogar steigern. Dass es dabei zu Fehlern und Rückschlägen kommt, ist zu erwarten. Das macht jedoch nichts, wenn das Unternehmen daraus gestärkt hervorgeht (Stichwort Antifragilität).

Unternehmen, die anpassungsfähig sind, behalten ihre Attraktivität am Konsumentenmarkt. Die Aufgabe von Führung ist es, diese Wirkung zu erzielen. Nicht nur heute, sondern auch morgen und übermorgen verlässlich in hoher Qualität leisten: damit wird Unternehmenswert geschaffen und gesteigert.

Funktionen der Unternehmensbereiche

Doch was tun diese Bereiche, um ihrem Zweck zu dienen und ihre Wirkung nicht zu verfehlen? Wie funktionieren sie? Je klarer ist, was die Funktion der Bereiche ist, desto einfacher scheint es mir, Dysfunktion bzw. Risiken dafür zu erkennen.

Produktion: Leisten

Produktion soll den Kunden mit einem hochqualitativen Produkt befriedigen, auf dass er dem Unternehmen gern sein Geld zufließen lässt.

Produktion muss daher über die nötigen Fähigkeiten, Werkzeuge und Techniken verfügen, um eine solche Leistung zu erbringen. Und dieses Potenzial muss auf einem aktuellen Stand gehalten werden. Maschinen verschleißen, Wissen veraltet, wenn man dem nicht bewusst entgegenwirkt.

Außerdem muss Produktion in jedem Kettenglied motiviert sein, hohe Produktqualität herzustellen. Alle Produzenten müssen auf den externen Kunden ausgerichtet sein und ihn im Blick haben.

Die Grundlage hoher Qualität am Ende der Leistungskette ist hohe Qualität jedes einzelnen Resultats, das in ihr fließt.

Koordination: Informieren

Koordination löst ein Informationsproblem das entsteht, wenn Leistungen arbeitsteilig in einer Kette erbracht werden. Solange die Kettenglieder voll gekoppelt am Markt agieren, tauschen sie sich direkt aus. Die Informationen fließen eigenmotiviert und bedarfsgetrieben upstream.

Wenn auf diese Weise die Herstellung einer Gesamtleistung jedoch unökonomisch wird oder innerhalb eines Unternehmens ökonomischer erbracht werden soll, dann hilft eine globale Instanz: die Koordination.

Informationen für eine Quelle entspringen nun allerdings nicht mehr direkt dem Bedarf ihrer downstream Konsumenten. Es braucht daher ein neues Vertrauen. Das muss sich ausdehnen über die Leistungsträger auf Augenhöhe in der Produktionskette hinaus auf die Koordination.

Und Koordination muss sich das Vertrauen verdienen durch eine Informationsverteilung, die tatsächlich zu Leistungen gegenüber dem Kunden führt, die ohne sie nicht möglich gewesen wären.

Führung: Sinn stiften

Solange Leistungskettenglieder voll gekoppelt sind, ist ihnen klar, warum sie tun, was sie tun. Konsumenten geben der Arbeit von Produzenten Sinn indem sie einen Mangel bei ihnen ausgleichen. Der kann materieller Natur sein, finanzieller oder auch ideeller.

In Unternehmen sind die Leistungskettenglieder jedoch nicht mehr voll gekoppelt. Je entkoppelter sie sind, je unidirektionaler der Fluss in Richtung externer Konsument, desto besser. Das verspricht Effizienz.

Damit jedoch trocknet auch der ursprüngliche Sinn-Fluss aus. An seiner Stelle entsteht ein neuer, der seinen Ursprung in der Führung hat. Sie gleicht ja einen grundsätzlichen Mangel bei den Leistungskettengliedern aus, den finanziellen.

Sinnstiftung ist jedoch nicht die Funktion der Führung, weil Sinn ihrem Geldfluss zu den Mitarbeitern folgt. Dann wäre die Funktion des Konsumenten ja ebenfalls Sinnstifter.

Nein, Führung muss expliziten und anderen Sinn stiften, weil der ursprüngliche Sinn durch die Entkopplung verloren geht. Sie muss sogar den ganz natürlich von ihr ausgehenden Sinn „herunterspielen“ zugunsten eines durch sie speziell gestifteten. Eine „Sinnprojektion“ muss vom externen Konsumenten ausgehen.

Dieses „Sinn-Bild“ dient der wieder-Ausrichtung der Motivationskräfte der Leistungskettenglieder auf ihre eigentliche Funktion, die hochqualitative Leistung.

Damit einher geht eine Identifikation mit dem Unternehmen, denn das ist der gegenüber dem Kunden sichtbare Leistungserbringer.

Wenn Führung in dieser Weise funktioniert, dann erfüllt sie ihren Zweck: das Unternehmen gewinnt an Wert, da es für Konsumenten wertvolle Leistungen liefert.

Zurück zu Teil 1, oder lesen Sie weiter bei Teil 3 der Artikelserie.

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Ralf Westphal
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