Fremde überall

Warum wir alle den Trumps dieser Welt derzeit Rückenwind geben

Ralf Westphal
Gedankliche Umtriebe
10 min readNov 12, 2016

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Bildquellen: Aljazeera, Independent, The Guardian

Pegida, AfD, le Pen, Trump: das erschreckt mich, aber es wundert mich nicht mehr. Ich bin ratlos, aber zumindest wird mir diese Entwicklung jeden Tag plausibler. Ein nur kleiner Trost, doch immerhin.

Natürlich ist die Welt komplex. Und deshalb gibt es keine Patentrezepte für Veränderungen. Alles ist grau, nicht schwarz-weiß. Silberkugeln funktionieren nicht. Ja, ja, ich weiß.

Aber diese scheinbar weise Aussage ist in ihrem Universalitätsanspruch eben auch reflexiv. Wenn sie sich ernst nimmt, muss sie sich selbst relativieren. Das bedeutet: Es gibt sie noch, die simplen Lösungen.

Ja, daran glaube ich, es gibt simple Lösungen, simple Erklärungen. Die sehen nur anders aus, als man sie sich erhofft. Sie schmerzen nämlich, sie gehen ans Eingemachte.

Und hier ist meine simple Erklärung für das, was da gerade politisch im Gange ist in der westlichen Welt: Entfremdung.

Was ist im Gange?

In der westlichen Welt findet ein Ruck statt. Als “Rechtsruck” mag ich ihn nicht bezeichnen. Das würde ihn zu sehr an tradierte Vorstellungen binden. Eher ist es für mich ein Ruck ins Autoritäre und ins Enge und in die Angst.

Ja, Angst steht im Kern der Veränderung. Ob die berechtigt ist, sei dahingestellt. In Angst hört das Denken auf und das reflexartige Handeln beginnt. Mit Angst kann man deshalb nicht diskutieren.

Und was tut man, wenn man Angst hat, wenn man sich einer Bedrohung ausgesetzt fühlt? Fight, flight, freeze.

Der Ruck in der Gesellschaft ist für mich eine fight-Reaktion. Überall erheben Menschen ihre Stimme und/oder auch ihre Körper. Das tun sie, weil sie am Ende von flight und freeze sind. Sie sind lange geflüchtet — in den Konsum oder in die Hoffnung. Sie haben sich lange eingefroren — in Hamsterrad oder Schuldenlast oder Kleinmut.

Doch das hat die empfundene Bedrohung nicht verschwinden lassen. Deshalb brechen sie jetzt aus, weil das ihre letzte Chance ist. Außerdem fühlen sie sich nun durch Gemeinschaft gestärkt. Die kritische Masse der Selbstermächtigung ist erreicht.

Geht es denn nicht aber allen im Grunde gut? Das hier ist die westliche Welt, wir leben in einer Wohlstandsnation. Die Franzosen auch, die Amerikaner auch.

Wirklich? Und ist deshalb alles gut?

Was ist auch “alles”? Was ist denn “gut”? Für wen?

Letztlich ist das jedoch, glaube ich, einerlei. Weil es bei diesen Fragen um Argumente geht. Sie sind intellektuell. Der Ruck jedoch ist körperlich, faktisch, kein Hirngespinst, sondern sichtbar und hörbar. Da geht es um real existierende Gefühle.

So ist das. In Dresden und in Texas.

Und woher kommt das?

Gesichter der Entfremdung

Meine simple Erklärung auch und gerade angesichts der komplexen Welt ist: Entfremdung.

Sie ist passiert, wir haben sie zugelassen. Jeden Tag ein bisschen mehr.

Entfremdung ist, wenn mir etwas fremd wird. Dann verstehe ich etwas weniger und am Ende nicht mehr. Dann verliere ich das Vertrauen. Dann weiß ich nicht mehr, warum ich dazu in Beziehung stehe und weiterhin stehen sollte. Dann wird es sinnlos, dann verliere ich meinen Sinn. Dann schwindet mein Respekt — und im Gegenzug empfange ich auch keinen Respekt mehr. Und schließlich fühle ich mich bedroht von der respektlosen Unbekanntheit.

Das halte ich für so simpel wie natürlich.

Insofern ist die zunehmende Fremdenfeindlichkeit hüben wie drüben auch symptomatisch. Ja, es geht wirklich um das Fremde. Es ist zu viel Fremdes in unseren Leben, zu viel Distanz, Misstrauen, Respektlosigkeit, Drohung.

Das halten nun immer mehr Menschen nicht mehr aus.

Wenn Sie Reden und Fäuste gegen Menschen anderer Herkunft, anderer Hautfarbe, anderen Glaubens, anderer Sexualität schwingen, dann sind diese Aspekte jedoch nur krude Platzhalter für eine viel grundsätzlichere Fremdheit, die sie fürchten.

Selbstverständlich macht dem Menschen das, dem er nicht ins Gesicht blicken kann, was ihm also nicht körperlich und/oder wahrnehmbar nah ist, Angst.

Bildquellen: Tour Magazin, Spiegel, Legal Tribune Online

Da hilft keine Beteuerung, dass die Verhüllung doch nur Schutz oder Glaubenssache sei. Wer sein Gesicht nicht zeigt, entfernt sich vom anderen. Das halte ich für ganz basal, ganz biologisch.

Das Gesicht ist hier allerdings auch nur ein Stellvertreter. Es geht um den ganzen Menschen. Entfremdung entsteht, wenn der sich vor uns verbirgt. Das ist auch der Fall bei allen anonymen Nachrichten, seien das Hasskommentare bei Facebook oder positive Rezensionen bei Amazon. Egal. Anonymität entfremdet. Immer.

Ich finde es daher bemerkenswert, dass Vermummung bei den Pegida-Anhängern und Wutbürgern zumindest auf der Straße eher kein Thema zu sein scheint. Sie zeigen Gesicht. Sie sagen damit: “Seht her, ich bin es. Ich zeige mich dir — zeige deshalb du dich auch mir.”

Bildquelle: Die Zeit

Hier haben Menschen genug von der Respektlosigkeit, der Fremdheit, der Distanz. Sie nähern sich. Angesichts einer empfundenen Bedrohung ist das ein Akt der Verzweiflung.

Ob ihr Verhalten und ihre Wortwahl geeignet sind, das zu überwinden, was ihnen Angst macht, sei dahingestellt. Ich sehe hier jedenfalls etwas ganz Fundamentales wallen. Deshalb ist der Ruck für mich auch so verständlich. Das Fundamentale ist immer simpel, sonst wäre es nicht das Fundamentale. (Allerdings hat fundamentale Simplizität das Potenzial, bei seiner Entfaltung große Komplexität herzustellen.)

Perfide wird es nun mit der Anonymität, wenn sie sich hinter Gesichtern und Namen verbirgt. Der Träger einer Guy-Fawkes-Maske…

…unterscheidet sich nicht sehr vom Träger einer CEO-Maske:

John Cyran, CEO Deutsche Bank, Bildquelle: Deutsche Bank

Beide Masken verbergen den Menschen. Beide Masken machen den Einzelnen austauschbar. Er entzieht sich damit der Konsequenzen seines Handelns, wird unangreifbar.

Unangreifbarkeit schafft Distanz, weil sie entmenschlicht.

Als Menschen sind wir ja grundsätzlich verletzlich, körperlich wie seelisch. Gemeinschaft, also Nähe, ist daher nur in Vertrauen möglich, dass diese Verletzlichkeit vom Nahen und Nächsten nicht ausgenutzt wird. Gemeinschaft dient dazu, die persönliche Verletzlichkeit zu kompensieren.

Vertrauen ergibt sich ultimativ durch Verlässlichkeit. Solange Verlässlichkeit jedoch aufgrund von Kontaktmangel nicht hergestellt werden kann, braucht sie einen Stellvertreter. Das ist Ähnlichkeit, also ein Mangel an wahrnehmbarer Fremdheit. Je ähnlicher uns jemand körperlich und/oder geistig und/oder seelisch ist, desto größer der Vertrauensvorschuss, den wir bereit sind zu geben, als Bedingung für die Möglichkeit des Aufbaus von Vertrauen auf Verlässlichkeit in Nähe.

Masken und Rollen entrücken jedoch. Sie sind Panzer gegen Verletzung. Sie verbergen jede möglicherweise vorhandene Ähnlichkeit. Die unausweichliche Folge: Erosion des Vertrauens, Entfremdung.

Hier sehe ich auch das Erfolgsrezept von Donald Trump: Gesicht zeigen. Donald Trump trägt aus Sicht seiner Wähler keine Maske. Das zeichnet ihn aus vor allen anderen. Ob man mag, was dann so maskenlos auf der Bühne steht, ist in Zeiten der Entfremdung fast zweitrangig. Viel, viel wichtiger ist, dass Trump nah ist, greifbar, sogar angreifbar. Trump ist das Gegenteil von Anonymität. Dafür hat ihn die anonyme Masse gewählt. Er zeigt sein Gesicht und gibt damit den vielen Gesichtslosen, denen, die sich entfremdet und respektlos behandelt fühlen, ein Gesicht.

Wohlstand durch Entfremdung

Die wahren Fremden sind nicht Menschen anderer Hautfarbe oder anderer sexueller Orientierung. An sie heftet sich das Gefühl der Bedrohung durch Entfremdung nur, weil sie äußerlich auch noch so unähnlich sind. Sie sehen anders aus, sie verhalten sich anders, sie haben ihre eigenen Orte, an denen sie sich versammeln — und dadurch distanzieren.

Nein, die wahren Fremden sind wir alle. Alle, die den Nachbar im Hause nicht kennen. Alle, die den Produzenten ihrer Nahrungsmittel nicht kennen. Alle, die den Chef des Unternehmens nicht kennen, in dem sie abhängig beschäftigt sind. Alle, die den Kunden nicht kennen, für den sie Produkte herstellen. Alle, die das Tier und die Pflanze nicht kennen, die sie verzehren. Alle, die Müll in den Wald kippen. Alle, die Abwässer direkt in Flüsse leiten.

Die Entfremdung ist überall und immer. Wir haben sie hereingelassen. Denn sie gehört zum Gefolge des Wohlstands, den wir haben wollten.

Wie es anders hätte gehen sollen, weiß ich nicht. Ich denke, die Entfremdungssituation ist in der Größenordnung und in der Ursache historisch einmalig.

Außerdem ist sie tragisch, weil ja das Gute gewollt war: ein besseres Leben für viele, am Ende sogar alle.

Das hat auch gerade in den letzten 70 Jahren funktioniert — nur nicht für so viele, wie gedacht, und nicht so nachhaltig wie gewünscht.

Während früher große Entfremdung vielleicht auf das Fehlverhalten weniger zurückführbar war, scheint es mir heute so, dass solches Fingerzeigen nicht möglich ist. Wir alle sind verantwortlich.

Wir sind verantwortlich, wenn uns der Nächste egal ist. Und angesichts unserer physischen Mobilität und des Internets ist der Nächste nicht nur der Nachbar im Haus, sondern auch die Fabrikarbeiterin in Bangladesch oder der Minenarbeiter im Kongo.

Das ist natürlich überwältigend. Wer kann das begreifen, erfühlen?

Gerade erfühlen ist aber so wichtig. Mitfühlen, mit dem anderen fühlen. Mitgefühl, Empathie, ist der Klebstoff jeder Gemeinschaft. Ohne Mitgefühl, also Resonanz zwischen Menschen, keine Grundlage für Vertrauen und Respekt.

Wer kein Mitgefühl zeigt, ist uns unheimlich, böse, ein Soziopath. Zurecht. Doch wie viel Mitgefühl zeigen wir denn alle selbst? Wie viel können wir überhaupt zeigen, wenn uns alles andere und alle anderen so fremd sind, so fern?

Mit einer Maske haben wir genauso zurecht kein Mitgefühl.

Masken braucht es jedoch, wenn der Wohlstand auf die Weise wachsen soll, wie er gewachsen ist: durch Ausbeutung, durch Gewalt. Kein Ausbeuter hält es lange aus, ohne eine Maske aufzusetzen. Ausbeutung funktioniert nur mit (emotionaler) Distanz und Entmenschlichung.

Ausbeutung war und ist am Werk, wo wir Ressourcen und Potenziale nutzen, ohne uns über deren Zukunft Gedanken zu machen. Das gilt für Bodenschätze, Wälder, Fischbestände, die Atmosphäre und natürlich auch für Menschen. Das ist schon vom Ansatz her respektlos. Das halten Menschen deshalb nur aus, wenn sie sich distanzieren und also bewusst entfremden.

Massentierhaltung in Ställen, Massenmenschenhaltung in Häusern, Städten, Unternehmen führt notwendig zu Entfremdung. Der Einzelne ist nicht mehr wahrnehmbar.

Monokulturen auf Feldern und in Ställen, Gleichschaltung und Standardisierungen von Sprache, Kleidung, Verhalten in Gruppe, Unternehmen, Nation führt notwendig zu Entfremdung. Das Individuelle ist nicht mehr wahrnehmbar.

Wir haben in unserem Streben nach einem besseren Leben einfach das Maß verloren. Nicht nur mehr Auto/Haus/Yacht/Steak ist erstrebenswert.

Es gibt auch noch andere Werte, anderes, das wertvoll ist. Das ist eine gewisse Mindestnähe zwischen den Menschen. Wir müssen in touch bleiben. Ohne Band zwischen uns werden wir alle zu Fremden.

Das sehen wir derzeit. Es ist ein Band erodiert und am Ende für manche auch zerrissen. Jeden Tag auf dem Weg zu wachsendem Wohlstand ist es ein bisschen dünner geworden. Das gilt es zu verstehen.

Genauso wie es zu verstehen gilt, dass davon niemand in Deutschland oder der westlichen Welt ausgenommen ist. Wir haben alle unsere Fremden, in deren Nähe wir nicht sein wollen, die wir womöglich sogar hassen.

Dem Pegida-Anhänger mag ein Muslim bedrohlich fremd sein. Dem Trump-Wähler mag ein Mexikaner oder ein Homosexueller bedrohlich fremd sein. Dem Merkel-Freund jedoch sind wahrscheinlich Pegida-Anhänger und Trump-Wähler bedrohlich fremd.

Auch ich empfinde immer wieder Bedrohung. Für mich ist auch vieles auf Distanz und fremd. Ich bin nicht in touch mit vielen Aspekten der Welt bis zur Entfremdung.

Zusammenrücken

Wenn Entfremdung der simple Kern des unangenehmen Ruckes ist, der da gerade durch einen Teil der Welt geht, was können wir dagegen tun?

Ganz bewusst Nähe aufbauen.

Nur in Nähe können wir Vertrauen schöpfen. Nur in Nähe können wir Verlässlichkeit und Respekt erfahren.

Solange wir auf Distanz bleiben, bleiben wir auch in unseren Vorstellungen. Und die sind tendenziell bedrohlicher als die Realität.

Und wie bauen wir Nähe auf? Indem wir räumliche und geistige Gräben überbrücken. Dazu bedarf es des Kontaktes und des Gespräches und des gemeinsamen Erlebens.

Insofern beginnt die Gegenbewegung zur Entfremdung vor der Haustür. Mit dem Nachbarn sprechen, die Moschee in der Stadt besuchen, Feste zusammen feiern.

Doch da hört es nicht auf. Entfremdung zwischen Menschen wird genährt durch Entfremdung von Kausalverbindungen. Solange wir uns nicht dafür interessieren, woher unser Wohlstand kommt, wie daran Menschen beteiligt sind, wie daran Tiere, Pflanzen, die ganze (Um)Welt beteiligt sind… solange werden wir die Entfremdung nicht überwinden.

Globalisierung ist insofern nicht per se das Problem. Globalisierung bedeutet ja auch, dass Menschen sich annähern, die sich bis dahin nur fremd sein konnten. Wenn ich heute eine handgearbeitete iPad-Hülle in Bolivien im direkten Kontakt mit dem Handwerker beauftragen kann, ist das für mich ein großartiges Ergebnis der Globalisierung. Dito, wenn ich in Zusammenarbeit mit einem Kanadier ein Video produzieren kann. Dito, wenn ich schon seit Jahren einen Mazedonier coachen kann.

Aber wenn Globalisierung einer Entfremdung Vorschub leistet, dann ist sie “böse”. Dann steigert sie Misstrauen, Respektlosigkeit und schließlich Angst.

Für mich sind verräterische Symptome die Masse, die Einheitlichkeit und die Intransparenz. Massentierhaltung, Ideologie oder Konzerne mögen dafür Beispiele sein.

Das dahinter stehende Streben nach Effizienz im Namen des zu mehrenden Wohlstands vergisst zu schnell, dass Effizienz nicht alles ist. Und Wohlstand drückt sich nicht nur in der Zahl der Smartphones pro Haushalt oder der Größe eines Steaks aus, sondern vor allem in Frieden.

Insofern: Jetzt gilt es! Zusammenrücken für den Frieden. Ohne Ausnahme. Kein Muslim, kein Pegida-Anhänger, kein Karnevalsjeck, kein Homosexueller, kein Reichsbürger, kein Trump-Anhänger, kein Schweinefleischesser, kein Langhaariger, kein Obdachloser, kein Fußballfan, kein Rentner, kein Punk, kein Ugg-Träger sollte uns fremd bis zur Entfremdung sein.

Keine leichte Übung, aber alternativlos.

Ja, so simpel sieht für mich die Lösung für den aktuell problematischen Autoritätsruck aus.

Allerdings will ich damit nicht behaupten, dass sie leicht umzusetzen sei. Die letzten 2000 Jahre haben das schon bewiesen. Nur ändert das für mich nichts an der Notwendigkeit des Zusammenrückens. Wir müssen uns aktiv gegen die Entfremdung, die Distanz in allen Bereichen unseres Lebens zur Wehr setzen.

Jeder mag das auf seine Weise tun. Der eine lächelt sein Gegenüber morgens mal in der U-Bahn an, die andere lässt das Cellophan der Zigarettenschachtel nicht mehr einfach fallen. Der eine lädt den Nachbarn endlich mal ein, die andere organisiert ein Konzert mit Flüchtlingen, der nächste kauft mehr regionale Produkte, die nächste verzichtet auf ein höheres Gehalt als CEO. Es gibt unendlich viele Wege zu mehr Nähe zum anderen Menschen und zur Schöpfung. Wir müssen nur mit einem ersten Schritt auf diesen Wegen beginnen, um uns wieder näher zu kommen.

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Ralf Westphal
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