Gutes Gefühl als Machtmittel

Ralf Westphal
Gedankliche Umtriebe
8 min readNov 2, 2017

Es klingt toll, was der geschäftsführende Gesellschafter der MINISTRY Group R. David Cummins da sagt:

Das klingt nach Freiheit, Selbstbestimmung. Das klingt nach Konzentration auf das Wesentliche: gute Arbeit für den Kunden. Denn zufriedene Kunden braucht es, wenn Geld fließen soll, mit dem man Wohnung, Auto, Urlaub, Hobby finanzieren will.

Ich habe mich bei dem Tweet sofort auch an ROWE erinnert gefühlt: das Results-Only Working Environment. Mit Genuss habe ich Why Work Sucks and How to Fix It gelesen. Als Selbstständiger weiß ich, wie gut sich Resultatsorientierung anfühlt. Ich arbeite auch mit Leidenschaft — und hoffe, dass meine Kunde die Ergebnisse toll finden.

Leider habe ich bei dem Tweet aber auch gezuckt. Mir blieb aufsteigende Freude, dass sich in der Arbeitswelt doch etwas zum Positiven verändere, im Halse stecken.

Us vs. Them

Gestolpert bin ich über das “uns” und das “wir”. Denn wenn einem “uns” egal ist, wie lange und wo Kollegen arbeiten… dann steht das “wir” diesen Kollegen gegenüber. Die Kollegen sind dann nicht wirklich Kollegen, sondern Mitarbeiter.

Wenn ich diese Begriffe so fein unterscheide dann deshalb, weil Kollegen für mich auf Augenhöhe sind, Mitarbeiter jedoch nicht. Mitarbeiter untereinander sind Kollegen. Aber Mitarbeiter stehen für mich per definitionem einer Leitung gegenüber.

Leitung hat der inne, der darüber bestimmt, ob jemand Mitarbeiter ist oder nicht. Leitung hat die “disziplinarische Macht” in einem Unternehmen inne.

Im Tweet spricht also die Leitung aus ihrer Sicht. Was auch nicht verwunderlich ist, denn Cummins ist ja Geschäftsführer.

Das bedeutet nur, die, über die er da spricht, sind eben nicht seine Kollegen. Es sind seine Mitarbeiter. Ob in seinem Unternehmen der Arbeitsort egal ist, ob es Tischkicker gibt oder einen Feel Good Manager, ob alle Türen immer sperrangelweit offen stehen… das ändert alles nichts daran, dass das Unternehmen fundamental zweigeteilt ist. Es existiert in einer Dichotomie.

Leitung und Mitarbeit mögen sich ergänzen und brauchen. Trotzdem ist das Verhältnis nicht auf Augenhöhe. Leitung sagt ultimativ immer an. Mitarbeit muss sich ultimativ immer fügen.

Solange Mitarbeiter in einem Unternehmen bleiben wollen, um von ihm Geld oder anderes zu bekommen, unterwerfen sie sich dessen Leitung. Das ist per definitionem so.

Ob das gut oder schlecht aus welchem Blickwinkel ist, sei dahingestellt. Mir geht es hier nicht um ein Urteil, schon gar nicht um ein moralisches. Anlässlich des Tweets ist mir lediglich ein Wirkzusammenhang klar geworden.

Die Macht der Leitung

Als Selbstständiger, allemal als Freelancer ist man für seine geschäftlichen Geschicke komplett selbst verantwortlich. Das Gegenüber ist der Kunde.

Kunde ist der, der das Geld hat. Das lässt er an den Selbstständigen fließen, wenn er mit dessen Leistung zufrieden ist. Geld gegen Ware oder Service. Der Kunde ist Auftraggeber, der Selbstständige ist Auftragnehmer.

In dieser Beziehung gilt: Wer zahlt, sagt an.

Der Kunde hat als Auftraggeber und somit Initiator der Beziehung immer die Macht, dem Selbstständigen das Geld zu versagen, indem er ihm Aufträge versagt. Egal, wie nah sich Kunde und Auftragnehmer stehen, dieses Machtverhältnis ist fundamental.

“Der Kunde ist König” lautet das Sprichwort nicht umsonst. Es sei zwar dahingestellt, in welchem Umfang der Kunde seine königliche Macht ausnutzen bzw. der Auftragnehmer sich untertänig verhalten sollte, doch das ändert nichts an der grundsätzlichen Asymmetrie der Beziehung. Solange der Auftragnehmer kein Monopol hat, liegt beim Kunden die Macht.

Dieses Verhältnis ändert sich auch nicht, wenn der Auftragnehmer kein Selbstständiger ist, sondern ein Unternehmen. Ob natürliche Person oder juristische Entität, ist für die Macht des Kunden nicht ausschlaggebend.

Ein Unternehmen ist allerdings ein soziales System, d.h. es wird durch Menschen konstituiert. Die Mitglieder der Leitung des Unternehmens repräsentieren es nach außen. Sie sind mithin die menschlichen Gegenüber des Kunden.

Wenn der Kunde Macht hat, also mächtig ist, dann ist die Leitung prinzipiell ohnmächtig. Sie umwirbt den Kunden direkt oder indirekt, sie will seine Gunst erheischen, um mit Aufträgen bedacht zu werden, für deren Erledigung sie bzw. ihr Unternehmen das ersehnte Geld erhält.

“Geld allein macht auch nicht glücklich” oder “Mit Geld kann man nicht alles kaufen” oder “Geld ist nicht alles” heißt es. Das ist richtig — doch in einer arbeitsteiligen und hoch differenzierten Gesellschaft ist Geld essenziell zur Befriedigung grundlegender wie gehobener Bedürfnisse. Dem Streben nach Geld kann sich kaum jemand entziehen. Wo Geld im Spiel ist, entstehen deshalb Machtverhältnisse.

Doch auch das will ich hier nicht beurteilen. Es ist halt so — und hat Folgen.

Im Außenverhältnis hat das die Folge, dass zwischen Kunde und Leitung ein Machtgefälle besteht. Das ist umso größer, je mehr ein Auftragnehmer auf einen Kunden als Geldquelle angewiesen ist.

In Unternehmen jedoch hat das auch Folgen. Denn Unternehmen existieren, weil ein Selbstständiger allein Aufträge nicht mehr erfüllen kann. Er braucht Hilfe. Unternehmen haben deshalb abhängig Beschäftigte aka Angestellte.

Diese Angestellten gehören zwei Gruppen an: Leitung und Mitarbeiter. Die Leitung repräsentiert das Unternehmen, die Mitarbeiter stellen die Lieferungen an den Kunden her.

Das Resultat ist eine Dreiecksbeziehung:

Und wie jede Dreiecksbeziehung ist auch diese problematisch. Das ist mir (wieder) aufgegangen anlässlich des Tweets.

Vor allem aber war mir plötzlich das Machtverhältnis zwischen Leitung und Mitarbeitern deutlich.

Leitung übt Macht aus, weil sie darüber entscheidet, ob Mitarbeiter zum Unternehmen gehören. Leitung zahlt, also sagt Leitung an. So einfach ist das im Innenverhältnis von Unternehmen.

Im Außenverhältnis mag die Unternehmensleitung ohnmächtig sein — im Innenverhältnis ist sie das ganz gewiss nicht.

Das ist wieder weder gut noch schlecht. Das kann man schon so machen. Nur muss man dann auch mit den Konsequenzen leben.

Alles wird zum Mittel

Das Austauschverhältnis zwischen Kunde und Unternehmen ist klar: das Unternehmen liefert, der Kunde zahlt. Ware/Dienstleistung und Geld fließen.

Im Innenverhältnis jedoch ist es nicht so klar, was ausgetauscht wird. Was wollen Mitarbeiter vom Unternehmen? Ist es nur das schnöde Geld? Schön wär’s.

Andererseits: Was will das Unternehmen bzw. stellvertretend seine Leitung von den Mitarbeitern? Cummins spricht von Leidenschaft und tollen Ergebnissen.

Die tollen Ergebnisse fließen jedoch zum Kunden. Die Leitung hat damit nicht unmittelbar zu tun. Sie kauft keine Ergebnisse von den Mitarbeitern, um sie unter Risiko an ihren Kunden weiter zu verkaufen; Leitung ist kein Händler. Dennoch gibt die Leitung den Mitarbeitern Geld. Sie ist de facto für Mitarbeiter der Kunde.

Daraus speist sich schon ein erster interner Zielkonflikt. Die Leitung sieht den Kunden außerhalb des Unternehmens und will ihre Mitarbeiter darauf ausrichten. Die jedoch haben kein direktes Auftragnehmerverhältnis zu diesem Kunden. Ihr Kunde, ihr König ist die interne Leitung.

Viele Friktionen in Unternehmen sind daher ein Resultat der fundamentalen Dichotomie. Sie entstehen in ständigen Konflikten, wem Mitarbeiter in welcher Situation dienen sollen. Sie bemühen sich darum, den Unternehmenskunden zu ihrem eigenen zu machen — doch immer wieder spüren sie, dass ihr wahrer Kunde im Unternehmen sitzt: die Leitung. Diesem unmittelbaren Kunden zu gefallen ist am Ende für den Erhalt des Gehalts und sonstiger Annehmlichkeiten wichtiger.

Die Leitung auf der anderen Seite weiß das natürlich. Deshalb ist alles, was sie entscheidet, das Mitarbeitern zugute kommt, ein Machtmittel.

Geld ist das erste und allgemein akzeptierte Machtmittel. Doch auch Raumaufteilung, unternehmenseigene Kantine, unternehmenseigener Kindergarten, Tischkicker, kostenlose Getränke, Kleiderordnung, Fortbildungsmaßnahmen, Homeoffice, Geräteausstattung usw. usf. sind Machtmittel. Alles, was Leitung als Stellvertreterin des Unternehmens Mitarbeitern anbietet und auch wieder entziehen kann, dient im Notfall der Kontrolle des Verhaltens von Mitarbeitern.

Cummins sagt es im Grunde sehr deutlich: Die Leitung erlaubt Mitarbeitern selbst über Arbeitszeit und Arbeitsort zu entscheiden, damit sie tolle Ergebnisse produzieren.

Umgekehrt bedeutet es, die Leitung kann diese Erlaubnis auch jederzeit wieder entziehen. So schon geschehen mit einiger Medienaufmerksamkeit bei Yahoo und IBM.

Ohnmächtigkeit ist immer prekär

Ich will niemandem, der Angebote macht wie Cummins unterstellen, das würde nur kalt berechnend geschehen. Wenn die Peitsche nicht mehr wirkt, es einfach mal mit dick bestrichenem Zuckerbrot probieren? Nein, ich sehe eher auf Seiten von Leitung ein Ringen. Man will es für sich und für die Kollegen gut machen. Ja, “Kollegen” schreibe ich, weil dieses Gefühl bestimmt hinter solchen Initiativen steckt. Moderne Leitung versteht sich als Kollege; sie will nicht mehr isoliert in der obersten Etage sitzen und blind über ihre Minions entscheiden. Wer zeitgemäß ein Unternehmen leiten und auch noch gute Presse und tolle Bewertungen bei kununu bekommen will, der organisiert die Arbeit so, wie er es für sich immer gewünscht hat: freundschaftlich, auf Augenhöhe, mit Benefits jenseits eines anständigen Gehalts.

Das finde ich toll. Mehr davon! Nur darf es eben nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Dichotomie weiter existiert. Leitung hat Macht, Mitarbeiter sind ohnmächtig. Das ist in den Eigentumsverhältnissen begründet: Leitung wird vom Eigentümer eingesetzt. (Dass das aus der Dreiecksbeziehung ein Viereck macht mit weiteren Spannungen, sei hier vernachlässigt. Schon im Dreieck ist es komplex genug.)

Deshalb sind die schönsten Verhältnisse in Ohnmächtigkeit immer prekär. Die Mitarbeiter von Yahoo und IBM können davon ein Lied singen.

Zugeständnisse können jederzeit zurückgefahren oder abgeschafft werden. Oder das Zuckerbrot ist alle, weil die Marktlage eben ist, wie sie ist. Dann reicht das Geld nicht mehr für die hübschen Benefits. Oder jedenfalls nicht mehr bei allen Mitarbeitern.

Die Peitsche liegt immer unterm Tisch, solange es ein Machtgefälle in Unternehmen gibt. Und das ist solange der Fall, wie es Angestellte gibt. Denn Angestellte sind abhängig Beschäftigte. Die Bezeichnung ist Programm: Beschäftigte werden beschäftigt, statt sich selbst zu beschäftigen, und sie sind abhängig statt unabhängig/selbstbestimmt.

Nichts Neues in der Arbeitswelt

Insofern gibt es für mich nichts wirklich Neues in der Arbeitswelt. Der Hashtag #newwork ist für mich leer, solange Arbeit in Unternehmen nicht von Selbstständigen verrichtet wird.

Ich als freiberuflich Selbstständiger kann nicht anders. Aber was, wenn ich meine Arbeit nicht mehr allein erledigen will? Bleibt dann für mich nur der Weg in die althergebrachte Dichotomie zwischen Leitung und Mitarbeitern, wenn ich ein Unternehmen gründe?

Wenn es einmal so weit kommen sollte, dann will ich mich bemühen, nicht in dieses Muster zu verfallen. Denn erstens möchte ich nicht so arbeiten und zweitens glaube ich, dass langfristig der Erfolg eines Unternehmens in einer VUCA-Welt größer ist, wenn es keine internen Friktionen durch dichotomieinhärente Zielkonflikte gibt.

Was immer also heute unter New Work oder Arbeit 4.0 angepriesen wird, es ist für mich nichts weiter als ein nächstes Mittel, damit Leitung bekommt, was Leitung will, also ein Machtmittel.

Schlechte Gefühle sind immer schon ein Machtmittel gewesen. Nun sind es gute Gefühle auch. Im Grunde eine perfide Entwicklung.

Erst wenn die überkommene Leitung selbst in Frage gestellt wird, beginnt ein neues Zeitalter der Arbeit.

Ob Unternehmen dafür demokratisch oder soziokratisch oder was auch immer werden müssen, sei dahingestellt. In jedem Fall bedeutet es, dass alle, die darin versammelt sind, am Unternehmen arbeiten, weil es ihnen gehört. Erst die Gleichstellung durch Mitinhaberschaft führt zu Augenhöhe.

Dass das funktioniert und sogar besser als so manches Unternehmen heute, daran glaube ich fest. Inspiration kommt in dieser Hinsicht nicht nur aus der eigenen Arbeit, sondern auch von ganz unwahrscheinlicher Seite: den Piraten der Karibik. Zum Schluss deshalb eine Leseempfehlung: The Invisible Hook von Peter T. Leeson.

Lektüre für moderne Unternehmenslenker

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Ralf Westphal
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