“Niemand hat die Absicht, alles zu automatisieren!”

Wie wollen wir ohne Arbeitszwang leben? Das ist die gesellschaftlich drängendste Frage.

Ralf Westphal
Gedankliche Umtriebe
8 min readDec 10, 2016

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Die Globalisierung kehrt heim

adidas entscheidet sich für das “off-shoring” von Arbeit nach Deutschland: in Ansbach soll ab 2017 eine “Roboterfabrik” Schuhe herstellen.

Zuerst ist die Herstellung in Deutschland zu teuer, also wird die Produktion nach Asien verlagert. Jetzt ist sie sogar in Asien zu teuer, da kommt sie wieder nach Deutschland. Einmal herum um den Globus — und dabei total verändert.

Der Antrieb für die Bewegung um den Globus ist stets derselbe: Kostensenkung. Das Mittel dazu hat sich jedoch verändert. Zuerst so billige Arbeiter in der Ferne, dass die Gesamtkosten trotz Transport um die halbe Welt noch unter denen einer heimischen Produktion liegen. Jetzt noch billigere Roboter, die wieder näher am Zielmarkt produzieren können. Transport ist da kein so großes Thema mehr.

So funktioniert die Welt, genauer: die Wirtschaftswelt. Ihre Obsession sind die die Fragen „Wo kann mehr Umsatz gemacht werden?“ und „Wo können die Kosten gesenkt werden?“

Das schreibe ich frei von Klage. Ich wackle nicht mit dem moralischen Zeigefinger. So ist es halt. Let’s get real. Deshalb schenke ich auch Gerd Manz, Head of Innovation and Technology bei adidas, keinen Glauben, wenn er sagt:

Our goal is not full automatisation.

Selten so gelacht!

Grenzenlose Automatisation

Nach Netflix’ Aussage von 2015, man würde nie Videos zum Download anbieten, nach Walter Ulbricht’s Beteuerung “Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten”, nach Blüms „Die Rente ist sicher!“… Wer würde da noch irgendwem in „politischer Position“ irgendetwas glauben, das im Brustton der Überzeugung gesagt wird?

Und jetzt: Vollautomatisation sei nicht beabsichtigt? Humbug! Ohne Regulation wird alles früher oder später getan, das Kosten senkt oder Umsatz erhöht.

Wo es keine Vollautomatisation gibt, da ist sie entweder nicht möglich oder noch nicht wirtschaftlich genug. Die Bereiche der Unmöglichkeit werden allerdings ständig massiv verkleinert. Die Bereiche der Unwirtschaftlichkeit folgen dem quasi naturgesetzlich. Was automatisiert, was digitalisiert werden kann, wird automatisiert und digitalisiert.

Die Frage ist nicht ob es geschieht, sondern wann es geschieht.

Es wird sich nicht einmal weg regulieren lassen. Die Kraft der Mechanisierung ist zu gewaltig. Sie kommt tief aus dem Menschen heraus. Sie definiert den Menschen gar, würde ich sagen. Denn die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte der Werkzeuge. Werkzeuge haben immer geholfen, Menschen das Leben einfacher zu machen. Sie haben stets die Kraft und die Reichweite von Menschen vergrößert. Die Produktivität ist gestiegen und im letzten Jahrhundert explodiert. Immer weniger Menschen waren unmittelbar oder mittelbar nötig, um dieselben oder gar viel mehr Leistung zu erbringen.

Was für eine zivilisatorische Errungenschaft!

Und nun: Weder der deutsche Mensch noch der asiatische muss noch im Schweiße seines Angesichts adidas Schuhe produzieren. Das tun Roboter. Schneller und besser.

Aber nicht nur das Nähen von Schuhen, sondern auch das Lenken von Fahrzeugen oder das Kassieren im Supermarkt oder das Einräumen von Lagern oder der Umgang mit Kunden in einer Bank oder der Bau von Häusern und vieles mehr stehen zur Disposition. Automatisation is eating the world!

Es passiert. Unweigerlich. Weil es möglich ist.

Deshalb müssen wir aufhören, adidas oder irgendwem sonst zu glauben, wenn sie sagen, man würde nicht alles automatisieren wollen. Vielleicht ist Uber in dieser Hinsicht eine der ehrlichsten Firmen überhaupt: dort beutet man schon heute unverhohlen Fahrer aus und arbeitet gleichzeitig ganz offen an autonomen Fahrzeugen. Für jeden Fahrer ist klar zu sehen, dass man an ihm nur übergangsweise interessiert ist.

Unternehmen wollen, nein, müssen automatisieren, sobald es möglich und kostengünstiger oder qualitativ besser ist, als Menschen mit Aufgaben zu betrauen.

Unternehmen als eigenständige „Organismen“ sind am Menschen in sich nicht interessiert. Sie dienen Menschen außerhalb ihrer. Dazu ist der Mensch in ihnen lediglich ein Mittel — solange es kein besseres gibt, um ihren Zweck zu erfüllen.

Und von außen betrachtet sind wiederum Unternehmen Mittel. Es sind Werkzeuge für Menschen außerhalb ihrer, um deren Zwecke zu erfüllen. Auch aus dieser Perspektive ist es unerheblich, ob in den Unternehmen noch Menschen tätig sind.

Um zu verstehen, was in der Welt mit Unternehmen und Arbeitsplätzen passiert, hilft die Aufgabe einer romantischen Sichtweise. Unternehmen sind keine Familien, sie sind keine Betreuungsstätten, keine Sinnstifter, keine Auffangbecken, keine Erziehungsanstalten. Unternehmen haben keinen Auftrag jenseits der Produktion von Waren und Dienstleistungen in möglichst effizienter Weise.

Das größte Problem unserer Zeit

Noch drängender als das Problem des Klimawandels ist das Problem der Automatisation, glaube ich.

Der Klimawandel ist langsamer. Wir reden über 30, 50, 100 Jahre. Automatisation hingegen passiert spürbar in 1, 5, 20 Jahren. Vielleicht hat sie sogar das Zeug, den Klimawandel zu verlangsamen. Denn wenn mehr lokal produziert wird, nimmt die Notwendigkeit des Transports um die Welt ab. Automatisation könnte den CO2-Ausstoß verringern helfen.

Wenn Automatisation aber unvermeidlich, geradezu alternativlos ist… Was machen dann all die Menschen, die freigesetzt werden? Eben noch Taxi gefahren, eben noch in einer Fabrik Schuhe zusammengesetzt, eben noch am Bankschalter gestanden , eben noch Häuserwände gemauert — und nun machen den Job Computer der einen oder anderen Art. Schneller, besser, günstiger.

Schulen diese Menschen alle auf Grafikdesign und Softwareentwicklung um? Oder gehen sie alle in die Pflege und Erziehung? Oder werden sie Kunsthandwerker und verkaufen auf noch mehr Weihnachtsmärkten Schmuck und Räuchermännchen?

Das Ende der Kohleförderung im Ruhrgebiet und der daraus folgende Strukturwandel in der Region war ein Klacks gegen das, was mit Automatisation auf uns und letztlich die ganze Welt zukommt. Weder sind Arbeitsplätze bei uns sicher, noch in Rumänien oder China.

Nein, es ist kaum zu erwarten, dass Menschen, die durch Automatisation in den nächsten 10 oder 20 Jahren weltweit ihre Arbeit verlieren, in annähernd gleichem Tempo mit anderen Tätigkeiten wieder in gleichwertiger Weise in „Lohn und Brot“ gebracht werden könnten.

Millionen werden also ihr Einkommen verlieren. Millionen werden damit auch ihre Kaufkraft verlieren. Automatisation ist also nicht nur ein Problem der Staaten, die sich Gedanken darüber machen müssen, wie sie die Freigesetzten vor der Armut schützen. Sie ist mittelfristig auch ein Problem für die Unternehmen, die auf Automatisation umstellen.

Wenn alle adidas und Nike Fabriken auf Produktion mit Robotern umgestellt sind, wenn die Autoproduktion weiter umgestellt ist, wenn die Fahrzeuge vom Auto über Bus bis Zug und Flugzeug autonom geworden sind, wenn dank online Banking und Abschaffung des Bargelds die letzte Bankfiliale geschlossen hat… Wer soll dann noch die ganzen automatisiert hergestellten Produkte kaufen?

Wenn die Umverteilung des Habens so weitergeht wie bisher — sogar eine Geschwindigkeitszunahme scheint wahrscheinlich aufgrund der Zinsdynamik des Geldes –, dann haben immer weniger und weniger überhaupt die Mittel, um ausgiebig zu konsumieren. adidas stellt teure Markenschuhe her. Arbeitslose können sich die aber eher nicht leisten.

Ungebremst vernichten automatisierende Unternehmen ihre Kundschaft. Es müsste ihnen daher ein Anliegen sein, freigesetzte Menschen zumindest mit einer Grundkaufkraft zu versehen und deren Entwicklung zu fördern, desto steiler führt die Automatisation ins Umsatztal.

Kaufkraft zu erhalten durch reiche Heirat oder Glücksspielgewinn ist keine skalierbare Strategie:

adidas & Co sind bestimmt nicht daran interessiert, nur an die Top 0,5% der Bevölkerung zu verkaufen. Es gilt also eine Balance zu finden. Nicht zwischen Automatisation und manueller Arbeit. Das scheint mir illusorisch. Nein, die Balance muss zwischen „Geld durch Arbeit“ und „Geld ohne Arbeit“ geschaffen werden.

Die Grenze der Automatisation

Vorbehaltlich schwarzer-Schwan-Ereignisse, die unsere Fähigkeit zur Ausweitung der Automatisation weltweit zurückwerfen, wird automatisiert, was nicht bei Drei auf den Bäumen ist. Das gilt für alle Bereiche des Lebens. Waren und Dienstleistungen jeder Art werden automatisiert hergestellt und wenn möglich sogar digitalisiert.

Automatisation ist der neue Leviathan, könnte man sagen. Aber das klingt andererseits wieder wertend. Ist Automatisation denn per se schlecht? Ich sehe das nicht so. Im Gegenteil: Automatisation ist das, wovon die Menschheit immer geträumt hat. Sie ist befreiend. Nur müssen wir lernen, mit dieser Freiheit umzugehen nach Jahrtausenden der Knechtschaft.

Wir sind der Automatisation nicht ausgeliefert. Die Maschinen haben nicht übernommen und werden auf absehbare Zeit nicht übernehmen. Immer noch entscheiden Menschen über ihren Einsatz. Und die tun das aufgrund von Angebot und Nachfrage.

Automatisation ist deshalb nur unausweichlich, wo auch eine Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen besteht, die sich über kurz oder lang automatisieren lassen.

Automatisation künstlich zu regulieren im Angesicht von Nachfrage, wird nicht funktionieren, glaube ich. Eine ganz natürliche Grenze wird jedoch gezogen, wo wir aufhören, nachzufragen.

Wer Automatisation nicht schätzt, der wünscht sich schlicht Eigenschaften an Produkten und Dienstleistungen, die Maschinen nicht erbringen können. Ja, so einfach ist das, scheint mir.

Und welche Eigenschaft lässt sich nicht automatisieren? Per definitionem ist das das Persönliche, der Mensch. Wenn wir anfangen, den Menschen in Produkten und Dienstleistungen nachzufragen, setzen wir der Automatisation sofort eine Grenze.

Ein von Robotern (oder billigen Fabrikarbeitern in weiter Ferne) hergestellter adidas Schuh ist sicherlich funktional. Wer nur diese Funktionalität zu einem möglichst geringen Preis will, der lädt die Automatisation ein. Das ist legitim — hat nur große gesellschaftliche Konsequenzen.

Wer hingegen nicht nur einen funktionalen Schuh haben möchte, sondern darüber hinaus auch noch einen Schuh, bei dem er den Menschen erkennt, der ihn herstellt, wer also einen handgemachten Schuh möchte… der gebietet der Automatisation Einhalt.

Handarbeit als Qualität, dem Hersteller in Auge sehen als Qualität, persönlicher Kontakt als Produkt- und Dienstleistungseigenschaft, das begrenzt die Ausbreitung von Automatisation.

Ob ich einen handgemachten Fernseher einem in automatisierter Produktion hergestellten vorziehen würde, weiß ich nicht. Aber es gibt so viele Produkte und Dienstleistungen, bei denen wir (wieder) die Handarbeit und den Kontakt mit einem Menschen wertschätzen könnten, um uns nicht von der Automatisation vereinnahmen zu lassen.

Auch hier geht es um eine Balance. Manche Produkte und Dienstleistungen sind automatisiert hergestellt einfach so viel besser als von Hand gemacht, dass wir sie uns nicht anders wünschen werden und sollten. Viele andere hingegen können wir ohne Verlust an Funktionalität oder sonstiger Qualität auch mit „human inside“ kaufen.

Wird Handarbeit aber nicht deutlich teurer sein? Vielleicht in einigen Fällen, in anderen jedoch nicht, weil sie länger hält. Denn Handarbeit mit sichtbarer Persönlichkeit wird per definitionem nicht anonym geleistet. Sie ist daher weniger anfällig für Betrug durch geplante Obsoleszenz.

Vertrauen in einen anderen Menschen steht im Kern von Handarbeit. Eine Verbindung mit einem Menschen aufbauen und ihm vertrauen: das liegt uns in den Genen wie die Werkzeugherstellung. Nicht umsonst sind Social Media zeitgleich mit der Automatisation am boomen.

Und so könnte ich vielleicht sagen: Wenn wir die Automatisation einhegen wollen, dann müssen wir nur anfangen, wieder mehr Wert zu legen auf vertrauensvolle Beziehungen zu Menschen. Eine Ausweitung der Vertrauenszonen um uns herum drängt die Ausbreitung der Automatisation zurück.

Das halte ich sogar für einen Imperativ. Denn wenn wir nicht unsere Vertrauenszonen ausweiten, wenn wir uns nicht zusammenreißen und ablassen von einem grassierenden Misstrauens- und daraus folgenden Absicherungwahn… dann wird uns die Automatisation der Sicherheitsindustrie verschlingen. Sie scheint mir der größte Automatisationskrake. Sie greift nach allem.

Ausspähung im Konsent durch Facebook & Co, Ausspähung wider Willen durch NSA & Co sind dabei nur digitale Facetten. Physischer wird es schon mit den allgegenwärtigen Kameras. Noch physischer wird es, wenn schließlich eingepflanzte Chips und Drohnen aller Größenordnungen in den Alltag Einzug halten.

Die Technologien sind da. Drohnen zum Ausspähen und zur Ausübung von Gewalt sind real. Auch sie unterliegen einer Evolution und werden kleiner, leistungsfähiger und kostengünstiger. Aufzuhalten ist ihr Einsatz nur, wenn wir die Formen der Sicherheit, die sie versprechen, ganz deutlich nicht nachfragen. Wir müssen der Politik und privaten Sicherheitsunternehmen klar machen, dass wir diese Produkte und Dienstleistungen nicht wollen. Nur wenn kein Markt für sie vorhanden ist, wird die Automatisation enden.

Wie wollen wir leben? Automatisation ist in vielerlei Hinsicht ein Segen. Aber sie stellt die Gesellschaft vor große Herausforderungen. Unser Selbstbild steht in Frage. In Lohn sein, um Brot zu verdienen, kann bei wachsender Automatisation nicht mehr die Leitidee sein. Vollbeschäftigung, d.h. Erwerbsarbeit, um zumindest ein bescheidenes würdiges Leben zu führen, ist eine Illusion.

Wir müssen uns damit arrangieren, dass Automatisation unser aller Leben massiv verändern wird. Doch wir sind ihr nicht nur ausgeliefert. Jeden Tag können wir signalisieren, wie weit wir sie in unser Leben einladen. Wir müssen nur den Mut haben, wieder mehr mit unseren Mitmenschen zu tun haben zu wollen. Weniger Anonymität, weniger Misstrauen, mehr Geduld, mehr Augenkontakt: wenn wir demonstrieren, dass wir das wünschen, dann kann die Automatisation segensreich wirken, indem sie uns zu mehr Menschlichkeit und Würde befreit.

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Ralf Westphal
Gedankliche Umtriebe

Freelance trainer, consultant, speaker in the software industry for more than 30 years. Main motivation: make programming joyful and simple. http://ralfw.de