Unternehmensdämmerung in Blau-Grau

Ralf Westphal
Gedankliche Umtriebe
4 min readSep 18, 2021

Gleichförmigkeit und Homogenität sollen den “Erfolgs-Turbo” für Unternehmen ausmachen? Ist das alles, was Beratern heute einfällt? Mich hat dieses Bild in der Werbung für einen Workshop zur Gewinnung von Top-Mitarbeitern erschrocken.

Dazu passt allerdings dieser Auftakt im Text:

“Unternehmen brauchen Führungskräfte und Teams, die neben der erforderlichen fachlichen Kompetenz, eine hohe Leistungsmotivation und den richtigen „Mindset“ für notwendige Veränderungen mitbringen.”

Was soll mir dazu anderes einfallen als “platt” und “gewöhnlich”? Dass im Workshop die anschließend selbst gestellten Fragen wirklich oder gar frisch beantwortet würden, kann ich nicht glauben.

“Wie schaffen es Unternehmen, für Fachkräfte hochattraktiv zu sein und andere nicht? Woran liegt es, dass manche mit hoher Fluktuation kämpfen während andere ihr Schlüsselkräfte dauerhaft im Unternehmen halten können?”

Kein Hinweis darauf, was “die neuen Wege der Rekrutierung von Schlüsselkräften” sind. Allerdings wird da von Agilität geraunt, die es endlich richten soll. Teilnehmer sollen erfahren, “[w]ie sich der Bewerbungsprozess und das Personalmarketing durch Einsatz agiler Methoden verändert haben.”

Ja, gibt es sie denn, die Veränderung durch “agile Methoden”? Welche sind das eigentlich im Personalmarketing? Ich wäre neugierig zu hören, auf welche Werte und Prinzipien des Agilen Manifests sich Personalabteilungen von Unternehmen mit “Erfolgs-Turbo” beziehen.

Einstweilen muss ich mit dem gewählten Bild für das Workshop-Versprechen vorlieb nehmen: das ist “eine Studie in Blau-Grau mit Beige”, würde ich sagen.

Farbanalyse des Bildes mit Adobe Color

Was drückt denn das Bild dieser jubelnden Mitarbeiter aus? Daran kann doch nur alles richtig sein:

  • Die Ethnien sind gemischt, so wie es sein soll.
  • Die Geschlechter sind gemischt, so wie es sein soll.
  • Das Alter ist gemischt, so wie es sein soll.

Ist das nicht eine vielfältige, bunte, lebensechte Belegschaft? Solche Bandbreite sollte auf “Top-Talente” hochanziehend wirken.

Auch wenn Behinderte sich nicht einzubringen scheinen und die Genderwahl keine erkennbare Rolle spielt, ist die gezeigte Mischung doch bestimmt kritisch für einen “Erfolgs-Turbo”.

Oder?

Bei mir hat das Bild allerdings andere Assoziationen ausgelöst. Motivierend und erfolgversprechend finde ich es gar nicht. Ich habe mich vielmehr sofort gefragt: Wo ist die Individualität?

Was ich sehe ist Uniformität. Die politisch korrekte Vielfalt tritt völlig zurück hinter Gleichförmigkeit. Es fehlt jeder persönliche Ausdruck:

  • Alle Männer tragen Hemd, Krawatte, Stoffhose, Halbschuhe.
  • Alle Frauen tragen Bluse mit Rock oder Kleid und hochhackige Schuhe.
  • Alle Männer haben kurze Haare. Alle Frauen haben lange Haare.
  • Alle Männer wie Frauen sind im selben engen Farbschema gekleidet.

(Alle, wirklich alle? Ok, es gibt sehr wenige Ausnahmen: hier und da ein Mann mit Jacket, hier und da eine Frau mit flachen Schuhen oder kurzen Haaren. Doch nach diesen Ausnahmen muss ich auf dem Bild suchen. Sie fallen mir nicht auf. Sie heben die Personen nicht heraus.)

Die quasi biologisch vorhandene Verschiedenartigkeit ist durch Kleidung in zwei Geschlechtslager gruppiert, die jeweils in sich homogen sind und sogar lagerübergreifend auch so weit wie möglich.

Es gibt keinen Ausdruck von Individualität in Kleidungsstil, -farbe, Schuhen, Haarschnitt, nicht einmal in Form von Accessoires. Selbst Körpergröße und -form variieren kaum: keine athletische Frau, kein schlaksiger Mann, niemand ist pummelig. Ich mag nicht mal sagen, “alle ganz normal”, denn “normal” ist vielfältiger, als diese Zurschaustellung.

Aber warum braucht es eine solche “Office-Uniform”? Ist die Kleidung funktional wie ein Overall? Nein. Bietet die Kleidung speziellen Schutz wie ein hazmat suit? Nein. Ist die Kleidung bequem? Kaum. Oder soll die Kleidung Status signalisieren wie in einer aristokratischen Hierarchie? Nein, das kann sie nicht in ihrer Gleichförmigkeit. Geht es vielleicht um Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft wie bei einer Fußballmannschaft? Auch nicht, denn dafür fehlt ihr jeder Unterscheidungswert zur Kleidung anderer Office-Gemeinschaften. Oder dient sie dem Ausdruck der Persönlichkeit? Genau das gerade nicht!

Warum sehen die präsentierten Belegschaftsmitglieder also so aus, wie sie aussehen?

Mir fällt nur eine Erklärung ein: Weil eine homogene Masse leichter zu führen ist.

Wer will sich als Führungskraft mit Pfauen und Diven abgeben? Die im Sinne der eigenen Strategie zu lenken, macht nur Mühe. Nein, viel erfolgsversprechender scheint es, bei gesellschaftlich geforderter, politisch korrekter Diversität das bunte Resultat einzufärben bis zur Langeweile.

Ununiformierte Vielfalt sieht so aus:

Das ist ein echtes Spektrum an Persönlichkeiten und ihren individuellen Ausdrucksformen.

Das abgebildete Mitarbeiterideal ist im Vergleich gestutzt, vereinheitlicht, schlicht nicht mehr lebendig.

Und dass diese Uniformiertheit auf die Kleidung beschränkt wäre, kann ich gar nicht glauben. Wie gesagt, es handelt sich nicht um Funktionskleidung, die wie beim Militär oder auf dem Bau aus ganz praktischen Gründen einheitlich aufs Wesentliche reduziert ist.

Die Uniformiertheit ist vielmehr im Führungsverständnis begründet. Die Top-Mitarbeiter sollen nur in einem top und besonders sein: in der fachlichen Qualifikation. Alle andere Besonderheit gilt es auszubügeln. Damit steht die top Qualifikation ganz im Dienste der Führung. Die Führung kann die abhängig Beschäftigten bewegen wie Spielfiguren. Auch ist es einfacher, ein Mitglied einer blau-grauen Masse zu entlassen, falls das nötig sein sollte.

Wenn Unternehmen meinen, sich auf diese Weise attraktiv darzustellen… dann glaube ich, ist die Unternehmensdämmerung angebrochen. Wer zu diesem Bild Ja sagt und danach strebt, sich blau-grau einzureihen, wird keine Chance haben, die Monotonie und den Gleichschritt eines solchen Unternehmens zu stören, um “notwendige Veränderungen” mitzugestalten.

Wo Unternehmen nach dem “richtigen Mindset” suchen und “hochattraktiv” sein wollen, da arbeiten sie besser zunächst am grundlegenden Führungs- und Unternehmensverständnis. Und das lässt nicht nur Individualität zu, sondern fördert auch deren Ausdruck. Ein “Erfolgs-Turbo” braucht bunte Vielfalt statt blau-graue Uniformiertheit.

--

--

Ralf Westphal
Gedankliche Umtriebe

Freelance trainer, consultant, speaker in the software industry for more than 30 years. Main motivation: make programming joyful and simple. http://ralfw.de