Was vom Lohne übrigbleibt

Ralf Westphal
Gedankliche Umtriebe
5 min readApr 13, 2019

Die Diskussion über Löhne in Deutschland ist unehrlich. Das fällt mir immer wieder auf, wenn ich Artikel wie diese Lese:

Quelle: Welt

Da steht zum Beispiel:

Nur ein Land zieht laut OECD einem normalen Berufstätigen mehr vom Brutto ab.

Und ich frage mich: ”Wen interessiert der Bruttolohn?”

  • Den Arbeitnehmer kann er nicht interessieren, weil Brutto eben nicht Netto ist. Den Arbeitnehmer interessiert nur der Nettolohn, weil er mit dem Geld etwas anfangen kann. Das ist in seiner Tasche.
  • Den Arbeitgeber kann er auch nicht interessieren, weil Brutto eben nicht die Kosten sind, die ihm durch einen Arbeitnehmer entstehen (Arbeitgeberlast). In der Tasche hat er nicht, was nach Ausgabe eines Bruttogehalts übrig bleibt.

Warum also das ewige Gerede über den Bruttolohn? Ich verstehe das nicht. Aber vielleicht liegt es daran, dass ich immer schon selbstständig und nie angestellt war?

Meine Einkommenswelt als Selbstständiger ist gnadenlos. Deshalb ist sie ehrlich. Sie muss ehrlich sein, also die Fakten widerspiegeln, weil ich sonst irgendwann aus einer Illusion aufwachen würde — und das würde kaum ein schönes Erwachen sein.

Ich rechne mal mit ganz runden Zahlen: Wenn ich 60.000€ Umsatz mache im Jahr und 10.000€ Geschäftskosten habe (z.B. für Computer, Software, Reisen, Übernachtungen), dann bleiben noch 50.000€ übrig. Die muss ich versteuern. Die Einkommenssteuer inkl. Soli beträgt darauf knapp 13.000€, also bleiben noch 37.000€ übrig. Von denen muss ich noch Krankenversicherung und Vorsorgeaufwendungen abziehen; ich nehme dafür mal 1.000€ pro Monat an. Dann ist mein Nettoeinkommen 25.000€. (Dass Krankenversicherung und Vorsorgeaufwendungen evtl. steuermindernd sind, lasse ich mal außen vor. Komplizierter geht immer.)

Mit diesen 25.000€ pro Jahr (oder knapp 2.000€ pro Monat) muss ich auskommen für Miete und Lebenshaltungskosten und Urlaub usw.

So einfach, so klar, so ehrlich ist das als Selbstständiger.

Ich bin für mich selbst verantwortlich. Deshalb schätze ich die Wahrheit. Mit der in der Hand kann ich dann überlegen, was ich mache. Versuche ich meinen Umsatz zu erhöhen oder die Kosten zu senken oder meinen Lebensstandard zu verändern…?

Bei gegebenem Ertrag (Umsatz abzüglich Kosten) interessiert mich dabei dessen Verhältnis zu meinem verfügbaren Einkommen, also meinem Netto. Das ist in der obigen Rechnung 25.000€/50.000€=0.5 (50%). Das ist der “Wirkungsgrad” meines Ertrags.

Und jeder, der am Stammtisch Tiraden auf die Steuerpolitik ablässt oder sich ein Buch über Tricks zur Steuerersparnis kauft, den interessiert dieses Verhältnis auch.

Nur schauen Angestellte nicht auf die wahren Zahlen. Sie sind mit dem Blick auf das Bruttoeinkommen zufrieden. Doch damit fehlt ihnen ein wesentlicher Teil der Realität.

Wie es dazu gekommen ist, weiß ich nicht. Ist das nur Gewohnheit oder ist dahinter eine politische Absicht?

Ich glaube jedenfalls, dass eine Diskussion über die Abgabenlast in Deutschland solange an Kraft zu wünschen übrig lassen wird, solange die allgemeine Rede über Gehälter nicht ehrlicher wird, d.h. die Fakten klar erkennbar für alle auf dem Tisch legt. Konkret bedeutet das für mich:

Nur zwei Zahlen sind wichtig, der Nettolohn und die Arbeitgeberlast. Ganz einfach.

Mit einem Gehaltsrechner wie diesem hier, mit dem ich die folgenden Kalkulationen angestellt habe, ist das auch jederzeit machbar. Also: Weg mit der Illusion! Her mit den Fakten!

Arbeitnehmer

Mal drei Rechenbeispiele mit einem kleinen (1.800€ brutto/Monat), einem mittleren (3.500€ brutto/Monat) und einem gehobenen Gehalt (5.500€ brutto/Monat):

Übrig bleiben: 1.231€, 2.169€ und 3.110€. Das finde ich interessant für die Arbeitnehmer. Damit können sie im Alltag etwas anfangen. Reichen 1.231€ für eine Wohnung in München und auch noch mehr als TK-Kost und einen Gang ins Kino? Reichen 3.110€ für die Anschaffung einer Immobilie in Hamburg und ein neues Auto und zwei Wochen Urlaub in Namibia?

(Dass ich überall Steuerklasse 1 eingesetzt habe, ist auch wieder eine Vereinfachung. Ich konzentriere mich hier mal auf Singles. Komplizierter geht immer — was der Ehrlichkeit bzw. Klarheit aber gewöhnlich nicht gerade zuträglich ist.)

Warum sollte ich als Arbeitnehmer auf Jobsuche in eine Gehaltsverhandlung mit einem Bruttolohnwunsch reingehen? Mich interessiert lediglich, ob ein Arbeitgeber mir meine Anforderungen an einen Nettolohn erfüllt. Wenn ich 1.500€ für mein Glück in Berlin oder Düsseldorf oder Radebeul brauche, dann ist das entscheidend.

So weit die Seite der Arbeitnehmer.

Arbeitgeber

Auf Seiten der Arbeitgeber sieht es für mich genauso aus. Da frage ich mich nicht, ob ich mir den Bruttolohnwunsch eines Bewerbers leisten kann, sondern die daraus folgende Arbeitgeberlast.

Die ist: 2.156€, 4.193€ und 6.501€.

Ist ein Mitarbeiter diese Kosten wert oder nicht? Wie viel für ihn dabei übrig bleibt, ob das für Urlaub oder Häuschenwunsch reicht, ist dem Arbeit gebenden Unternehmen einerlei.

Nur mit diesen beiden Zahlen auf dem Tisch, wird eine Gehaltsdiskussion oder eine politische Diskussion über den Standort Deutschland ehrlich.

Denn Faktum ist, dass in Deutschland von der ganzen Arbeitgeberlast nur wenig beim Arbeitnehmer ankommt. Die Sozialabgaben schlucken satte 40,5%, 48% und 52%.

Oder umgekehrt:

Für einen gegebenen Nettolohnwunsch beträgt die Arbeitgeberlast das 1,6fache, 1,93fache und das 2,1fache.

Arbeitgeber wissen das natürlich und sind deshalb oft zögerlich, Arbeitnehmer einzustellen. Aber Arbeitnehmer haben das eher nicht auf dem Zettel, scheint mir. Warum auch, ist ja nicht ihr Problem. Wirklich? Mit diesen ehrlichen Zahlen jedoch wird das Verhalten von Unternehmen verständlicher. Mit diesen ehrlichen Zahlen kann man nochmal kritischer die nächste Wahlentscheidung bedenken.

Mir scheint, angesichts dieser geringen “Wirkungsgrade” einer Arbeitgeberlast, dass es kein Wunder ist, dass in Deutschland Selbstständigkeit in der Politik keinen hohen Stellenwert hat. Denn ein Selbstständiger überlegt sich eher, ob er den “Wirkungsgrad” verbessern kann.

Solange diese Verhältnisse Arbeitnehmer jedoch nicht bewusst sind und durch die Rede vom Bruttolohn statt der Arbeitgeberlast verschleiert werden, solange ist die Wahrscheinlichkeit von Ruhe größer, scheint mir. Und das ist doch die erste Bürgerpflicht, oder?

Fazit

Die Rede vom Bruttolohn hilft, die wahre Situation der Löhne zu verschleiern. Wer will, dass es besser werden soll, fängt deshalb mit einer ehrlicheren Sprache an, einer, in der der Bruttolohn weniger Rolle spielt und mehr der viel relevantere Nettolohn im Verhältnis zur Arbeitgeberlast.

Wer mehr Netto will, muss sich mit den ganzen Kosten beschäftigen, die dahinter stehen. Ohne mehr Klarheit wird es keinen Fortschritt geben. Ohne Klarheit fallen Entscheidungen suboptimal aus.

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Ralf Westphal
Gedankliche Umtriebe

Freelance trainer, consultant, speaker in the software industry for more than 30 years. Main motivation: make programming joyful and simple. http://ralfw.de