Zu wenig der Ehre

Wer das Ganze gewinnen sehen will, sollte der einzelnen Verlierer gedenken.

Ralf Westphal
Gedankliche Umtriebe
7 min readNov 22, 2016

--

Bildquelle: pixabay

In Gemeinschaft findet man sich zusammen, wenn es einzeln schwierig wird. Der Einzelne möchte, dass es ihm besser geht, wenn er sich zur Gemeinschaft gesellt. Allerdings ist das der Wunsch aller Einzelnen, wenn sie eine Gemeinschaft gründen.

Weil nun die Wünsche der Einzelnen jenseits der Grundbedürfnisse vielfältig sind, kann die Gemeinschaft nicht alle gleichermaßen befriedigen. Das wissen alle Gemeinschaftsmitglieder. In einem gewissen Maß nehmen sie das auch für den Gemeinschaftszweck in Kauf. Sie glauben an eine Balance, an einen Ausgleich: “Wenn ich heute mal nicht dran bin, dann ein andermal.” Sie glauben an Chancen: “Wenn ich noch nicht dran bin, dann bestimmt bald, wenn ich mich weiter bemühe.”

Deshalb mögen wir Gemeinschaften der Gerechtigkeit und Chancenvielfalt. Nur sie sind Gruppen, die den Titel Gemeinschaft oder gar Gesellschaft verdienen.

Ohne Gerechtigkeit und Chancenvielfalt sind Gruppen Mittel für Einzelne, um einen Vorteil auf Kosten anderer zu erlangen. Das sind keine Gemeinschaften.

Wie eine Gemeinschaft organisiert ist, sei dahingestellt. Eines scheint mir jedoch unausweichlich: das Opfer.

Opfer ist natürlich ein stark besetzter Begriff. Unfallopfer, Verbrechensopfer, Ritualopfer… Niemand will ein Opfer sein und auch nur ungern eines erbringen. Opfer sind Verlierer. Opfer haben es nicht geschafft, sind gescheitert.

Doch es hilft nichts. Zur Gemeinschaft gehören Opfer trotz allerbesten Bemühens.

Opfer der Gemeinschaft

Gelingende Gemeinschaften streben danach, ihr Versprechen gegenüber allen Mitgliedern zu erfüllen. Solches Streben ist allerdings kein Garant für Fehlerfreiheit. Gemeinschaften sind menschliche Produkte und insofern lückenhaft.

Gemeinschaften übersehen Bedürfnisse Einzelner oder scheitern bei ihrem Ausgleich. Dann werden Einzelne Opfer der Gemeinschaft. Die Gemeinschaft schreitet weiter, entwickelt sich weiter, ohne dass die Opfer eine Entschädigung erfahren. Nicht jede Veränderung lässt sich “sozialverträglich” und ohne Verlust an Wohlfahrt gleichermaßen für alle gestalten.

Auch eine Demokratie ist nicht frei von solchen Opfern. Wenn ein neuer Flugplatz geplant wird und die Bürgerinitiative, die sich dagegen ausspricht, am Ende nicht gewinnt… dann sind ihre Mitglieder Opfer der größeren Gemeinschaft, deren System aus Regierung und Entscheidungsprozessen sie mittelbar mit tragen.

Oder am Arbeitsplatz: Auch in einer weithin geschätzten Gemeinschaft sind nicht alle Arbeitsplätze angenehm oder gesund. Dennoch braucht die Gemeinschaft Menschen, die diese Arbeit verrichten. Wenn sie dafür keine angemessene Kompensation zur Verfügung stellt und es Menschen gibt, die keine Alternative haben… dann entstehen Opfer. Beispiele hierfür sind für mich Menschen in der Pflege, in der Erziehung, im Bergbau, auf dem Strich.

Solche passiven Opfer mögen oft unmerklich und klein sein, dann besteht eine Chance, dass sie irgendwie später doch einen Ausgleich erfahren. Werden sie jedoch größer, halten sie länger an… dann wird der Ausgleich immer schwerer. Die Gemeinschaft entwickelt eine Schuld gegenüber den Opfern, die die eines Tages einfordern werden. Das Gerechtigkeitsempfinden verlangt es.

Opfer für die Gemeinschaft

Neben passiven Opfern, neben Opfern wider Willen gibt es auch aktive Opfer. Es gibt Menschen, die sich opfern — wir sagen auch aufopfern — für die Gemeinschaft oder für andere in der Gemeinschaft und damit auch wieder für die Gemeinschaft.

Mancher glaubt an die Demokratie und gibt deshalb seinen geliebten Beruf auf, um als Politiker etwas für die Demokratie als Grundlage seiner gesellschaftlichen Gemeinschaft zu tun. Mancher glaubt daran, dass es wichtig ist, Bedürftigen zu helfen und gibt daher seine Freizeit her, um bei einer Tafel mitzuhelfen. Mancher möchte die Sicherheit für alle erhalten und opfert die eigene Sicherheit, indem er Polizist oder Soldat wird.

Der Gemeinschaftsvertrag

Es gibt gelegentliche Opfer und dauerhafte Opfer. Es gibt bewusste und zufällige Opfer. In jedem Fall sind sie unausweichlich. Sie passieren, sie sind sogar nötig. Das Ganze, das gemeinschaftliche System ist mehr als die Summe seiner Teile.

Damit hat die Gemeinschaft ein Eigenleben unabhängig von seinen Mitgliedern. Das entsteht zwar mit dem Zweck, die Wohlfahrt seiner Mitglieder zu fördern, doch das bedeutet eben nicht, dass stets jede einzelne Wohlfahrt maximal ist.

Wachsende Wohlfahrt für alle im Durchschnitt bedeutet eben nicht, dass es jedem Einzelnen jeden Tag besser geht. Die Gemeinschaft ist “nur” um die Mehrzahl in der meisten Zeit bemüht.

Das kann auch nicht anders sein. Einzelner und Gemeinschaft stehen sich insofern gegenüber. Sie ziehen mal mehr, mal weniger in unterschiedliche Richtung, sie sind im Konflikt — und doch brauchen sie einander. Der Einzelne kommt nicht ohne die Hilfe der Gemeinschaft aus und die Gemeinschaft braucht jeden Einzelnen.

Wenn eine Gemeinschaft funktionieren soll, dann sollte sie das anerkennen. Und wer glücklich in einer Gemeinschaft werden will, der muss das auch anerkennen. Beide Seiten müssen sich also verstehen. Das halte ich für den grundlegenden Gemeinschaftsvertrag: “Die Einzelnen formen zusammen die Gemeinschaft, um die allseitige Wohlfahrt zu vergrößern. Die Gemeinschaft bemüht sich dabei, Opfer gering zu halten; der Einzelne versteht, dass gelegentliche Opfer unumgänglich sind.”

Alles andere ist unrealistisch.

Die Opfer ehren

Wenn alles andere unrealistisch ist, wenn also Opfer der aktiven und sogar der passiven Art unumgänglich sind, dann müssen sie wertgeschätzt werden. Ohne Wertschätzung entsteht auf Dauer Spannung. Opfer entfernen sich von nicht-Opfern. Opfer bilden eigene Gemeinschaften bis hin zu Subkulturen. Sie werden zu Fremden in der Gemeinschaft.

Das, was solche Opfergemeinschaften entstehen lässt, ist die Erfüllung eines immateriellen Grundbedürfnisses. Eines Grundbedürfnisses, das sich auch mit dem allseits akzeptierten Mittel Geld zur Befriedigung vielfältiger Bedürfnisse nur schwer erfüllen lässt. Es ist das Grundbedürfnis nach Anerkennung und Wertschätzung.

Opfer in einer Opfergemeinschaft haben zumindest Anerkennung für einander. Sie erkennen einander an als Leidende, als Verlierer, wenn sie passive Opfer sind. Sie erkennen einander an als unerkannt speziell und wertvoll, als Leistungsträger, als Menschen mit einer Mission, wenn sie aktive Opfer sind.

In jedem Fall ist diese Anerkennung jedoch eine Kraft, die kohäsiv im Opferkreis wirkt. Sie zieht die Opfer zusammen und entfernt sie damit von anderen Gemeinschaftsmitgliedern.

Ich halte es für eine Dysfunktion einer Gemeinschaft, wenn sie das nicht erkennt und kompensiert. Es fehlt ihr ein wichtiger Baustein zur Langlebigkeit. Die Desintegration ist dann in ihr angelegt.

Eine nachhaltig funktionierende Gemeinschaft ist für mich nur eine, die nicht nur auf Respekt aufgebaut ist, sondern auf Anerkennung und Wertschätzung.

Respekt ist für mich mehr als Toleranz und weniger als Wertschätzung. Respekt nimmt das Andere nicht nur hin, sondern akzeptiert es als gleichwertig.

Respekt ehrt jedoch nicht. Das Andere ist eben das Andere. Respekt drückt keine Dankbarkeit aus gegenüber dem Anderen, er erkennt es nicht als Teil von sich an.

Wertschätzung oder der Deutlichkeit halber: Ehrung drückt aus, dass ein Gemeinschaftsmitglied gesehen wird. Sie drückt Dankbarkeit für seinen Beitrag zur Erfüllung des Gemeinschaftszweckes aus.

Wertschätzung zu geben, also dem Gegenüber einen Wert zumessen, und umgekehrt, Wertschätzung zu empfangen, also das Gefühl, wertvoll für die Gemeinschaft zu sein und von ihr gewollt zu sein… ist womöglich sogar die stärkste Kraft, um überhaupt Gemeinschaften zu bilden und zusammen zu halten über alle Hochs und Tiefs hinweg.

Respekt braucht es zwischen Gemeinschaften, sonst ist keine Co-Existenz zwischen Vielfalt möglich. Wertschätzung braucht es innerhalb einer Gemeinschaft, um eine Einheit zu bilden aus der Vielfalt.

Daran scheint es mir derzeit jedoch zu mangeln. Es wird über Respekt geredet. Jeder will respektiert werden. Doch das ist für mich ein Zeichen für eine schon auseinander fallende Gemeinschaft. Die Ursache: zu wenig Wertschätzung, zu wenig Ehrung.

Der Begriff Ehre ist sehr aus der Mode gekommen. Zurecht, denn er war mit allerlei aufgeladen, das viel Leid erzeugt hat. Doch nun scheint das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Nicht nur kann man nicht mehr auf eine Ehre verweisen, es gibt auch keine Ehrung mehr. Oder zumindest nur noch in Taschen der Gesellschaft.

Dabei ist Ehrung doch nicht umsonst ein eigenständiger Begriff. Ehrung ist für mich das deutsche Wort für Wertschätzung eines Opfers. Dass es ihn gibt drückt die gemeinschaftliche und generationenübergreifende Erkenntnis aus, dass Wertschätzung der Kit jeder Gemeinschaft ist.

Früher waren Ehrungstage fester Bestandteil der Gemeinschaft, die von allen begangen wurden, z.B. Ostern, Volkstrauertag, 17. Juni, Allerheiligen. Da gedachte man früherer und gegenwärtigen Opfer. Und gleichzeitig wurde dadurch an alle zukünftigen Opfer die Botschaft gesandt: Die Gemeinschaft wird euch dankbar sein.

Bildquelle: pixabay

Wertschätzung und die Aussicht auf Ehrung können sehr starke Kräfte sein. So stark, dass Menschen dafür ihr Leben hingeben. Wie sollte solch ein Opfer auch anders ausgeglichen werden als durch Ehrung? Kein Geld der Welt kann den immateriellen Verlust eines Menschen aufwiegen.

Doch die heutige Zeit hat nicht mehr viel übrig für Ehrung — mit Ausnahme einiger Nationen, die viel Wert auf die Ehrung ihrer Kämpfer legen, mögen das Soldaten oder Polizisten oder Feuerwehrmänner sein.

Doch was ist mit anderen Verlierern? Was wenn Opfer nicht im Kampf erbracht wurden? Was ist mit den Opfern der Wirtschaftspolitik, die man vielleicht nicht gewollt hat, die aber dennoch entstanden sind? Könnten die nicht zumindest geehrt, wenn schon nicht finanziell entschädigt werden? Was ist mit den Opfern in Pflege, Erziehung, Industrie, Sozialarbeit, die unter harten Bedingungen arbeiten? Könnten die nicht zumindest geehrt, wenn schon nicht finanziell entschädigt werden?

Die dauerhaftesten Gemeinschaften sind wohl die religiösen. Gleichzeitig sind es die Gemeinschaften, die sich Wertschätzung für Opfer bewahrt haben. Mit scheint diese Korrelation kein Zufall.

Deshalb glaube ich, dass wir in unseren weltlichen Gemeinschaften, seien das Nationen oder Unternehmen, gut daran tun, sensibel für Opfer zu sein. Ehren wir die ungewollten, passiven Opfer, ehren wir die, die bewusst Opfer bringen. Wertschätzen wir ihren Verzicht als Beitrag, auf den die Gemeinschaft angewiesen ist.

Nehmen wir die Ehrung auch als Gelegenheit zur Demut. Denn wer heute kein Opfer ist, kann es morgen oder übermorgen werden. Die Gemeinschaft mag es unausweichlich machen oder nahelegen.

Opfer dürfen deshalb keine Verlierer werden. Denn Verlierer werden zu Fremden und sondern sich ab; sie dünnen den Zusammenhalt der Gemeinschaft aus.

Wer zu einem Opfer genötigt wird oder zu einem Opfer bereit ist, braucht die Wertschätzung der Gemeinschaft. Halten wir bewusst öfter inne in ehrendem Andenken an die unvermeidlichen Opfer unserer Gemeinschaft.

Opfern wir zumindest ein wenig Zeit und Gefühl den Opfern unserer Gemeinschaften.

Folgen Sie mir gern auch auf meinem Homepage-Blog und bei Twitter.

--

--

Ralf Westphal
Gedankliche Umtriebe

Freelance trainer, consultant, speaker in the software industry for more than 30 years. Main motivation: make programming joyful and simple. http://ralfw.de