Aufblasbarer Gott

Englische Version hier.

Foto von @helloimnik

Einmal im Jahr durften die Kinder ihr eigenes Spielzeug von Zuhause mitbringen. Es war ein stets besonderer Tag, der mit entsprechend viel Bangen und Vorfreude erwartet wurde. Was hatten die Kinder mitgebracht?

Theodor war mit seinem pinken Krokodil gekommen, eben jenes, von dem er Nele und Tom so oft erzählt hatte. Nicht Nele noch Tom hatten sich je für sein ungewöhnliches Stofftier interessiert, so pink es auch sein mochte. In Wahrheit hatten sie ihm nicht geglaubt: Ein Krokodil in pink — Angeberei war das, nicht mehr und nicht weniger. Er solle es ihnen zeigen — ihre Hüte würden sie fressen!

Doch heute bissen Nele und Tom sich in ihren Kinderhintern. Da war es, krokodilgeformt, so pink wie Theodors Kopf, der vor Stolz fast platzte. Er trug sein Krokodil vor sich her wie eine Standarte, und Tom und Nele mussten ihre Hüte fressen.

Daneben saß der dicke Gulliver auf seinem Lieblingsspieleteppich, dem mit der Stadt darauf, in die erdkrustenverschiebenden Großtaten seines Schaufelbaggers versunken. Die Baggerschaufel seines Schaufelbaggers kratzte imaginäre Wolkenkratzer vom Himmel und baggerte ihre sterblichen Überreste in den Abyss des Vergessens (der Linoleumboden neben dem Teppich). Niemand spielte mit Gulliver, aber heute war es ihm auch egal. So viele Monate hatte er sich mit dem unzureichenden Radlader des Kindergartensortiments zufriedengeben müssen! Das World Trade Center des Spieleteppichs fiel mit lautlosem Getöse in sich zusammen.

Und Jenny? Jenny hatte ihren aufblasbaren Gott dabei. Seine strahlende, von Helium durchflutete Gestalt hing lustlos unter der Decke. Von Zeit zu Zeit hüpfte er wie ein Tänzer auf und ab, wenn Jenny an der Schnur zog.

Jennys Gott war, ganz wie erwartet, das Zentrum der Aufmerksamkeit des heutigen Tages. Alle Kinder der Waschbärengruppe hatten geaht und geoht, als er an Jennys Hand majestätisch in den Blauen Raum hineingeschwebt war. Die Nachricht von Jennys aufblasbaren Gott hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Selbst aus der Haselmaus- und der Ozelotgruppe waren sie gekommen, um das Wunder zu bestaunen (Nele und Tom hatten sich besonders gefreut, da Theodor sie für einen Moment mit seinem nervigen Reptil in Frieden gelassen hatte).

Jenny badete im Glanz ihres Gottes. Sein Ruhm war ihr Ruhm, als Botschafterin Gottes war ihr die Vormachtstellung in seinem Reich gewiss. Sein Segen breitete sich durch Jenny auf alle Länder des Kindergarten aus (selbst auf die Ozelotgruppe, obwohl Mareike dort war, die Jenny nicht ausstehen konnte), sie hatte diesen Raum mit seiner Heiligkeit erfüllt.

„Lass mich auch mal“, piepste da eine Mädchenstimme neben ihr. Die Stimme gehörte Ceaulette, einem kleinen, ganz besonders süßen Mädchen aus der Haselmausgruppe. Fordernd streckte sie ihre Winzhände nach der Schnur aus.

Sie kannte Ceaulette kaum, aber Jenny wusste, dass ihr Vater Franzose war, und Jennys Vater sagte, dass Franzosen dich zwar mit dem Gesicht anredeten, aber nur mit dem Hintern anschauten. Jenny verstand nicht, was das bedeutete, aber so, wie es ihr Vater sagte, verstand sie, dass Franzosen wohl keine netten Menschen waren. Und zu nicht netten Menschen musste man selbst nicht nett sein.

„Nö!“, erklärte sie. In ihr Gesicht trat ein Ausdruck priesterlichen Pflichtbewusstseins. „Er hat gesagt, nur ich dürfe ihn halten.“

„Das ist gelogen!“, schimpfte Ceaulette und stemmte ihre Ärmchen in ihre Hüftchen. „Der kann doch gar nicht reden. Der ist nur aufgeblasen!“ Die Stimme des Mädchens troff von der Art selbstgefälliger Besserwisserei, wie sie Erwachsene nur bei vierjährigen Kindern süß finden.

„Kann er wohl!“, antwortete Jenny. „Der redet aber nur mit denen, die er mag. Und dich mag er gar nicht! Hat er mir eben gesagt.“ Zumindest empfand das Jenny so. Schließlich hielt sie ihren Gott in der Hand, sie war seine Prophetin, und sie mochte Ceaulette nunmal nicht. Da sie aber keinen besonderen Grund dafür nennen konnte, musste es eben die Idee des Gottes über ihr gewesen sein.

„Hat er gar nicht!“, sagte Ceaulette. Ihre Augen, die im Licht der Herrlichkeit glänzten, zu der sie aufblickten, verrieten ihre Selbstzweifel. Jenny las es mit der unfehlbaren Präzision kindlicher Grausamkeit. Sie legte so viel Vernichtung in ihre Stimme, wie es ihr möglich war.

„Hat er doch!“

Das Mädchen ihr gegenüber zuckte zusammen, gab aber nicht auf. Was folgte, war eine langwierige Diskussion, auf dessen einer Seite das Argument „Hat er nicht!“, auf der anderen Seite das Gegenargument „Hat er doch!“ sich in lauter und schriller werdender Form miteinander abwechselten.

Schließlich hatte Ceaulette alle Kraft ihres kleinen Körpers in ihre Gesichtsmuskeln gelegt, um die Tränen zurückzuhalten. Doch sie war jung, ihre Gesichtsmuskulatur noch nicht vom Älterwerden und den Ermahnungen der Erwachsenen trainiert, und so blieben die Tränen stärker.

„Du lügst!“, heulte sie. „Du bist doof!“ Und sie stürmte davon und zu Ms. Falahi, um ihr von der Unerträglichkeit Jennys und ihres aufblasbaren Gottes zu erzählen. Doch Ms. Falahis Aufmerksamkeit war voll und ganz auf die Früchte von Chi Fus Arbeit gerichtet. Chi Fu, der Schreinersohn, hatte nach so vielen Verboten endlich sein Werkzeugset mitnehmen dürfen, und war sogleich zielstrebig daran gegangen, einen Durchgang zwischen der Jungen- und der Mädchentoilette zu tunneln. Ceaulettes Proteste blieben unerhört.

Jenny war inzwischen zu einer weiteren theologischen Diskussion genötigt worden. Der adlige Malcolm hatte die Heiligkeit des Allmächtigen zum Zweikampf mit seiner Wolverine-Actionfigur herasgefordert. Jenny versuchte im Moment, ihm in den verständlichsten Worten auszudrücken, warum, erstens, ein Mutant gegen die Ominpotenz Gottes nichts ausrichten konnte (Malcom: „Also ist er Superman?“), und warum sich, zweitens, Gott gar nicht erst auf einen solchen Zweikampf einlassen würde, weil er ja ein guter Gott sei, und gute Götter schlugen nun mal niemanden, nicht einmal Actionfiguren.

„Also hat er Angst?“, spottete Malcolm. Die Aussage entlockte Jenny ein Schnauben. Der Junge traute sich was, und das, obwohl er einen Kopf kürzer war als sie!

„Hat er gar nicht. Gott kann keine Angst haben. Er ist stärker als alle. Der hat nicht mal Angst vor Spinnen.“

„Aber vor Wolverine hat er schon.“

„Auch nicht!“

„Dann soll er gegen ihn kämpfen!“, beharrte Malcolm. Er stellte sich in einer Pose vor Jenny auf, die der entsprechen sollte, in die er seine Figur manövriert hatte: Die Beine gespreizt, den linken Arm gerade über den Kopf gestreckt, den rechten im Neunzig-Grad-Winkel dazu nach vorne gerichtet. Er ließ den linken Arm in kreisenden Bewegungen nach unten sausen (die Arme seiner Figur besaßen lediglich Schultergelenke, entsprechend war Wolverine motorisch stark eingeschränkt).

„Ich hab dir doch gerade erklärt, dass –“ setzte Jenny an, doch Wolverine hatte die Kampfeslust gepackt. Mit einem Kampfschrei Malcolms stürzte er sich in gerader Linie durch die Luft auf den schwebenden Leib Gottes. Von Jennys Hand reflexhaft nach unten gerissen, versuchte Gott, dem Angreifer zu entkommen, doch seine Größe — größer als das Universum — machte es ihm schwer, aus der Flugbahn der kleinen Plastikgestalt zu gelangen.

Wie es die Umstände des Lebens also von Zeit zu Zeit bestimmen, brach das Unglück herein: Wolverine triumphierte gegen die Wahrscheinlichkeiten! Seine klingenbewehrten Fäuste bohrten sich in die dünne Hülle des Allmächtigen, woraufhin dieser sein Innerstes ausgoss und die Welt mit seinem Edelgas erfüllte. In die Diaspora der gewöhnlichen Luft vertrieben, verteilte sich sein Wesen auf die Enden der Erde und verlor sich langsam zwischen weniger noblen Elementen.

„Mein Gott!“, schrie Jenny voller Entsetzen auf.

Rasch verlor die pralle Schale an Kontur und sank in sich zusammen wie ein schlecht gebackenes Suffleé. Die an Auftrieb verlierende Folienmasse des Größten senkte sich behäbig auf die Kinder hinab, die sich in Panik aus dem Gebäude zu retten versuchten.

Nur Jenny blieb, wo sie war, die Schnur in der Hand. Sie verfluchte lautstark den Jungen, der ihren Gott erstochen hatte. Sie verdammte die Schärfe der Plastikklingen und den so bestürzend schnellen Untergang ihrer Theologie. Sie beweinte die Gottlosigkeit der Menschen, bis ihre Stimme von der toten Hülle erstickt wurde, welche nach ihrem Kampf gegen den größten aller X-Men nun auch noch den Kampf gegen die Schwerkraft verlor und seine junge Jüngerin unter sich begrub.

April 2015. Überarbeitet Juli 2018. Danke für’s Lesen!

Ich bin unabhängiger Autor, Übersetzer und Lektor. Wenn ihr glaubt, dass ich euch bei etwas helfen kann, schreibt mir einfach an chrisloveswords@gmail.com.

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