Die Böcke zur Rechten

Ihr lest die deutsche Übersetzung dieses Textes. Das englische Original findet ihr hier.

»Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sich setzen auf den Thron seiner Herrlichkeit, und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirte die Schafe von den Böcken scheidet, und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken.«

– Matthäus-Evangelium

Alle waren da. Gleich würde er sprechen. Er stieg herab und wandelte durch die Menge, teilte sie wie das Schlachtermesser den Braten. Schließlich wandte er sich an diejenigen zu seiner Rechten, ließ langes Schweigen weilen, musterte sie alle einzeln, und ergriff endlich das Wort:

»Ich erkenne niemanden von euch wieder«, sagte er.

Es folgte eine neuerlich lange, betretene Stille.

»Nein, ernsthaft«, sagte er, »wer seid ihr nochmal?«

»Wir sind deine Jünger, herr«, sagte eine Frau. Sie klang widerspenstig, wie eine stolze Mutter, der man soeben erklärt hatte, dass ihr angeblich hochbegabtes Kind den Sprung aufs Gymnasium nicht schaffen würde.

»Wirklich? Nein, das kann nicht sein«, antwortete er. »Wenn das stimmen würde, kämt ihr mir alle bekannter vor.«

„Aber es ist die Wahrheit, herr!, sagte ein langer, dünner, verschwitzter Mann, der neben der Frau stand. »Wir gaben dir unser Leben! Fünf mal sogar, in meinem Fall. Wir waren — sind! — aktive Kirchenmitglieder. Wir beteten zu dir. Wir beteten für andere. Bei Gott, einige der Leute, für die wir beteten, ging es anschließend sogar besser!“ Beifallende Stimmen antworteten ihm aus der Menge, reflexartig ausgestoßene »Preist den Herrn!«- und »Amen!«-Rufe.

»Das mag schon sein«, sagte er im gleichen Tonfall wie zuvor. »Ich erkenne aber trotzdem keinen von euch wieder. Ich fürchte, ihr müsst jetzt gehen.«

»Gehen!«, rief die Frau, welche zuerst gesprochen hatte. Ihre Stimme jedoch klang inzwischen weniger rebellisch und dafür ängstlicher. »Du schickst uns fort?«

»Naja, soweit ich das beurteilen kann, klingelt bei mir nichts, wenn ich euch anschaue. Alles, was ich hier sehe, sind ziemlich selbstbezogene Menschen. Der Sinn der ganzen Sache war es doch, sich weniger auf sich selbst und mehr auf andere zu beziehen. Das wäre eure Eintrittskarte gewesen.«

»Aber wir baten dich um Vergebung unserer Sünden! Zählt das denn gar nicht? Ich dachte, darum ginge es, um Himmels willen!«, rief eine andere Frau. Viele stimmten in ihre Verwirrung mit ein.

»Soweit ich mich erinnern kann, sagte ich, es gehe um Liebe. Liebe zum Guten und Liebe zu deinem Nächsten. Warte, lass mich nachfragen.« Er rief über seine Schulter nach hinten: „Dad? Hab ich das nicht gesagt?« Ein tiefes Poltern antwortete ihm. »Dachte ich’s mir doch.« Er drehte sich wieder zur Menge um. »Er meint auch, ich hätte das ganz sicher so gesagt. Außerdem erinnere ich mich, dass ich euch bat, euren Feinden zu vergeben, bevor ich in der Lage wäre, euch zu vergeben. Da hab ich mich sehr deutlich ausgedrückt. Sieht aber nicht so aus, als ob das jemals passiert wäre.«

»Die Feinde des herrn!«, psalmodierte ein Mann, der seinem Körperumfang nach zu urteilen gut ein Kardinal hätte sein können. »Falsche Propheten der letzten Tage! Sie predigten die Weisheit der Welt statt den Willen Gottes, sie lästerten das heilige Evangelium! Lügner und Verführer! Die Rede ihrer Zungen war gespalten wie die der …«

».Schlangen, ja ja«, wurde er unterbrochen. »Schon gut, wir haben’s verstanden. Aber man, das waren doch nicht eure Feinde. Das waren eure Brüder. Oder waren das etwa keine Menschen? Warte, das hier war schon der Planet, auf dem es nur eine intelligente Spezies mit Bewusstsein gab? Nicht, dass ich hier noch etwas verwechsle. Nein, das stimmt schon, ihr stammt alle von denselben Vorfahren ab. Also, was hinderte euch dann daran, einander zu lieben? Die Feinde, von denen ich spreche, das ist doch jeder sich selbst. Und nichtmal für ihn hattet ihr Liebe übrig. Verliebt war ihr in ihn, das schon. Aber ihn lieben? Oder sie — die männliche Anrede schließt natürlich die weibliche mit ein.«

Eine Frau in der ersten Reihe trat vor. Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt und nahm eine Pose ein, die sehr klar machen sollte, dass sie sich dieses Theater nicht länger gefallen lassen würde. »Wir gaben den Armen Kleidung!«, proklamierte sie. »Wir gaben den Hungrigen zu essen! Den Obdachlosen gaben wir ein Dach über den Kopf! Du selbst sagtest, das wäre …«

»Du meinst, du hast an Hilfsorganisationen gespendet. Das ist nicht wirklich dasselbe.« Er ging auf sie zu. »Zeig mir deine Hände, gute Frau.« Die Dame sah sich nervös um. Auf einmal kam sie sich doch ein wenig exponiert vor. Doch sie konnte natürlich keinen Rückzieher mehr machen, jetzt, wo alle Augen auf sie gerichtet waren. Zögerlich hob sie ihre Hände.

»Dachte ich’s mir doch. Keine Blasen, keine Schwielen, kein Schmutz unter den Fingernägeln. Warte, ist das Maybelline? Lustig, das erinnert mich an so einen albernen Song. Wie auch immer, mir sieht das nicht danach aus, als ob deine Hände jemals mehr Anstrengung erlebt hätten, als regelmäßig die Zeigefinger auszustrecken und Kreditkarten zu zücken. Ich will ja nicht angeben, aber in meinen sind Löcher drin.«

»Aber all die Fürbitten für die Bedürftigen!«, schrie ein Mann einige Reihen weiter hinten mit der Macht der Verzweiflung. Tränen rannen ihm panisch die Wangen hinunter.

»Hach ja, die Bedürftigen«, antwortete er. »Nur auf die Idee, einmal stehenzubleiben und einer von ihnen zu helfen, kamt ihr nie. Nein, ihr seid an ihr vorübergehastet, weil die U-Bahntunnel in ihrer Nähe so furchtbar nach Urin und Versagen stanken, und überhaupt, was hätten die Leute hinter eurem Rücken denn über euch gesagt, die euch eigentlich egal sein konnten. Wieso solltet gerade ihr stehenbleiben, wenn alle anderen doch auch vorbeiliefen?

Und das Kind aus Bangladesch, dass sechzehn Stunden pro Tag eure Drei-Euro-Tangas nähte und daran verreckte, das war auch nicht euer Problem. Dreizehntausend Kilometer Entfernung waren einfach ein paar zu viele, um an euer Mitleid oder auch nur eure Brieftasche heranzureichen. War schließlich Schlussverkauf. Sich so ein Schnäppchen entgehen zu lassen, wäre Sünde gewesen.

Klar, gebetet habt ihr. Für dich und für mich ist der Tisch gedeckt, hab Dank, lieber Gott, dass ich mein Essen nicht mit dem Penner vor dem McDonals teilen muss. Der sah nämlich verdächtig aus mit seinen ganzen Plastiktüten. Soll ja viele geben, die nur so tun und ans Kartell liefern.

Ihr wusstet natürlich, dass es euer Lebensstil war, der für die scheußlichen Lebensumstände, die tödlichen Krankheiten, die Kindersoldaten und die Sexsklavinnen der restlichen sechs Milliarden Menschen verantwortlich war. Doch ihr wart ja so alternativlos, und sie sowieso. Was kann man da schon tun?

Aber schön für euch, dass ihr gebetet habt.«

Alle waren da — und alle waren still.

»Tja«, sagte er, »scheint mir, als wärt ihr alle ziemlich im Arsch.«

Vielen Dank fürs Lesen, und besonderer Dank an Peter Rollins dafür, dass er mir meine Idee stahl, bevor ich sie hatte.

Entworfen vor langer Zeit, neugeschrieben März 2018.

Ich bin unabhängiger Autor, Übersetzer und Lektor. Wenn ihr glaubt, dass ich euch bei etwas helfen kann, schreibt mir einfach an chrisloveswords@gmail.com.

--

--