E’a Ga-e

Heute entstand die Geschichte zur Abwechslung mal wieder auf Deutsch. Was nicht heißt, dass es sie nicht selbstverständlich auch auf Englisch gibt.

E’a Ga-e

Liebe kann dich in jedem Moment durchfließen: durch das Bild in einer Blume, in einem Sandkorn, in einem Wolkenfetzen, in jeder Person, der du erlaubst, dich mit Freude zu erfüllen.

»Da steht der mit Krücken, und keiner steht für ihn auf«, hörte ich die Stimme einer alten Dame zu ihrer Nachbarin in der Reihe hinter mir sagen. Ich sah auf von meinem Buch. Richtig, vor mir stand ein junger Mann mit einer Schiene um das rechte Bein, auf Krücken gestützt. Er musste eben erst zugestiegen sein.

Ich habe selbst genug Schmerzen, dachte ich. Was auch stimmte — ich hinkte noch immer von der Knochensubstanzentnahme aus meinem Hüftknochen, die wegen meiner ungewöhnlichen Weisheitszahn-OP nötig gewesen war, um meinem Kiefer beim Heilen zu helfen. Ich hatte also Anspruch auf diesen Sitzplatz. Außerdem, wenn ihnen der Mann so leid tat, warum standen sie dann nicht selber auf? Heuchlerinnen. Ich las weiter.

Der Fluss fließt bereits, und du befindest dich darin, ob du es genießt oder nicht. Was also ist dein Fluss in diesem Moment? Fließt es aus dir heraus oder in dich hinein? Verteidigst oder öffnest du dich? Gehst du in die Defensive, oder kannst du dich vor dem nächsten Moment verletzlich machen?

Ja ja, okay. Die Stelle kam zu einem unpassenden Moment. Ich steckte meinen Finger in das Buch, klappte es zu und stand auf.

»Entschuldigung, wollen Sie sich hinsetzen?«

»Oh! Vielen Dank!«, strahlte mich der Mann an. »Aber danke, das geht schon.«

Ja, blöd. Hinsetzen wollte ich mich jetzt auch nicht mehr, das wäre zu offensichtlich gewesen. Die beiden Damen waren sich bestimmt schon sicher, dass ich nur wegen ihres bissigen Kommentars aufgestanden war. Den Triumph wollte ich ihnen aber nicht gönnen. Also tat ich, was jeder anständige, intelligente Mensch in einer solchen Situation tut:

Ich spielte Theater.

Entschlossenen Schrittes ging ich die Tram entlang nach vorne, ganz so, als hätte ich ohnehin vorgehabt, mich zu erheben, um beim nächsten Halt auszusteigen. Was ich natürlich gar nicht musste — bis Pasing waren es noch zehn Stationen. Aber wenn ich, so mein Plan, die Tram weit genug vorging, würde ich hoffentlich aus dem Blickfeld der alten Petzen geraten und könnte in Ruhe weiterlesen.

Kurz vor dem Führerhäuschen fand ich wieder einen Sitzplatz. Ein junges Mädchen stand gerade von ihrem Platz in ihrer Vierergruppe auf, wo außer ihr nur eine andere Person saß. Im Aufstehen sah das Mädchen allerdings aus, als wäre sie gern sitzengeblieben. Die Tram war eben zum Stehen gekommen, und sie machte keine Anstalten, sie zu verlassen.

Ich nahm Platz und warf einen unauffälligen Blick auf mein Gegenüber: Groß, übergewichtig, jung, kleiner Kopf, ansonsten aber nicht allzu auffällig. Sein Gesicht machte den ersten Eindruck eines völlig normalen Menschen. Auf dem Boden vor ihm lagen zwei Bücher, auf dem Sitzpolster neben ihm zwei Videokassetten ohne Hülle, die seine linke Hand nicht losließ. Bis auf den Anachronismus — wer benutzte heute noch Videokassetten? — war das nicht zwingend merkwürdig. Aber ich war keine Frau; das Mädchen hätte ihre ganz eigenen Gründe haben können, ihren Sitzplatz aufzugeben.

Ich nahm den Finger aus meinem Buch und setzte meine Lektüre fort. Die nächste Überschrift lautete: All die falschen Leute lieben.

Die Tram fuhr wieder los. In die gewöhnlichen Beschleunigungsgeräusche mischte sich ein Ton, der mir bisher nicht aufgefallen war. Ein in der Tonhöhe ansteigendes Pfeifen, als würde jemand das Geräusch des Elektromotors der Tram beim Anfahren nachahmen. Zuerst konnte ich das Geräusch räumlich nicht einordnen. War das eine Kinderstimme, die aus dem hinteren Teil der Tram zu uns drang? Oder kam das Geräusch aus dem Boden. Noch bevor ich den Ton lokalisiert hatte, wurde ich von meinem Gegenüber erschrocken, der mit einem Mal den Mund aufriss und rief:

»E’ate! A’e … Pa!«

Okay.

Ich sah nach dem Mädchen, aber sie stand mit dem Rücken zu mir zur Tür. War es das gewesen? Dass der junge Mann Schwierigkeiten mit dem Sprechen hatte? Er hatte die Worte nur mühsam herausgebracht, vor allem die Konsonanten fielen ihm schwer. Was er sagen wollte, war ohnehin nicht zu entziffern. Und der fast zwanghaft hervorgepressten Ruf machte ihn demnach zu einem … wie musste man solche Menschen inzwischen nennen? ›Behindert‹ war eine Beleidigung, ›Geistig zurückgeblieben‹ ebenfalls. Da gab’s doch bestimmt inzwischen einen neuen Euphemismus, der in zehn Jahren wieder zur Beleidigung geworden sein würde. Aber er fiel mir nicht ein.

Die Suche nach dem richtigen Wort machte natürlich keinen Unterschied. Was dem Menschen unangenehm ist, wurde schließlich noch nie besser, indem man ihm freundliche Namen gibt — genauso wenig wie Kohlrabi besser schmeckt, wenn man Sahne draufsprüht. Im Gegenteil, das Wort, mit dem man die Unansehnlichkeit übertüncht, nimmt einfach den Geschmack der Sache an, die es beschreiben soll. Wie viele gute und freundliche Wörter waren bereits in dunklen Katakomben der politischen Korrektheit gelandet, wo man sie inzwischen nur noch im Flüsterton aussprechen durfte?

Ich kam sowieso nicht drauf. ›Alternativ Begabte‹? Zumindest ahnte ich jetzt, warum das Mädchen aufgestanden war. Was auch immer das richtige Wort war, dieser Mensch war definitiv ›anders‹. Unverständlich. Fremd. Wie dem Großteil aller Menschen hatte dem Mädchen niemand beigebracht, wie man sich einem solchen ›Anderen‹ gegenüber verhält. Es musste ihr Angst gemacht haben.

Während die Tram zum Stehen kam, nahm der junge Mann meine Aufmerksamkeit wieder in Beschlag. Er hatte mit einer der beiden blanken Videokassetten, die bis jetzt eng nebeneinander gelegen hatten, ruckartig die zweite Kassette gegen sein Bein geschleudert. Diejenige, die er noch in der Hand hielt, zog er nun Richtung Fenster. Dabei machte er zischende Geräusche. Dann griff er mit der freien Hand hinüber, hob beide Kassetten hoch, führte sie wieder zusammen und senkte sie — weiterhin unter Zischgeräuschen — langsam zurück auf das Polster hinab, wo er sie nun wieder vorsichtig in ihrer Ausgangsposition festhielt.

Ich war fasziniert von diesem seltsamen Spiel, auch wenn ich keine Ahnung hatte, was es bedeutete. Was mochte im verwirrten Kopf dieses Menschen vorgehen? Die Tram setzte sich wieder in Bewegung, und das Pfeifen begann von Neuem. Jetzt konnte ich es problemlos zuordnen. Der junge Mann schien das Motorengeräusch zu imitieren:

»Uuuuuuiiiiiiii, uuuuuuuiiiiiii«, summte er leise mit. Und plötzlich wieder laut:

»E’at! I-pi’a!«

Mein durch zweihundert Millionen Jahre auf Mustererkennung hin optimiertes Homo-Sapiens-Gehirn entdeckte an dieser Stelle ein wiederkehrendes Schema. Der junge Mann lallte nicht irgendein Kauderwelsch — es klang mehr danach, als wollte er etwas sagen. Durch die Lautsprecher hörte ich die Tonband-Ansage für die nächste Haltestelle:

»Nächster Halt: Willibaldplatz.«

Die Tram kam zum Stehen, und erneut begannen die Videokassetten ihr Spiel. Der junge Mann wich in keiner seiner Bewegungen von seiner vorherigen Ausführung ab: Eine Kassette nach links stoßen wie einen Tischhockeypuk, die andere nach rechts ziehen. Dann beide hochheben, zusammenführen, absenken. Dazu Zischgeräusche, ganz so, als wären es –

Hebetüren.

»Uuuiiiii, uuuuuuuiiiiiii!«

»E’tate! O-ei’at!«

»Nächster Halt: Lohensteinstraße.«

Schon seit vier Seiten hatte ich keine Ahnung mehr, was ich gelesen hatte.

Ich hatte diesen Mann auf den ersten Blick als einen von der Natur bemitleidenswert benachteiligten Menschen gesehen. Ein in seinen Fähigkeiten massiv beeinträchtigter Verstand, der unkontrolliert wirres Zeug von sich gab, kaum mit einem Bewusstsein dafür, was um ihn herum geschah. Stattdessen betete er uns gerade die gesamte Tramstrecke der Linie 19 des Münchner Nahverkehrssystems vor.

Als ich das nächste Mal auf das Timing seines Videokassettenballetts achtete, bestätigte sich auch meine zweite Vermutung: Das Spiel war genau auf das Öffnen und Schließen der Türen abgestimmt. Der Junge mit dem dünnen Oberlippenbart und der schwarzen Regenjacke spielte Tram — genauer gesagt, er war die Tram: Lautsprecherdurchsage, Motor und Türautomatik in einem. Und er schien eine Menge Spaß dabei zu haben.

»Me’al! Ä-at!«

Da ich zum ersten Mal mit dieser Linie fuhr, war mir die Strecke gänzlich unbekannt. Ich begann also mein eigenes Spiel: Ich wollte herauszufinden, welche Haltestelle mein Gegenüber ankündigte, bevor mir die Lautsprecherdame die Antwort verriet.

»Nächster Halt: Westbad.«

Huh, gar nicht so einfach. Während mein unwissentlicher Spielpartner seiner Türchoreografie und seinem Pfeifen nachging, nutzte ich die kurze Pause, um mich wieder auf Richard Rohr in meiner Hand zu konzentrieren.

Jesus schmeißt alles durcheinander! Was tut er? Er erklärt unaufhörlich die Außenseiter zu den Helden seiner Gleichnisse und den Empfängern Gottes vielgestaltiger Gnade. Das nicht wahrzunehmen ist ab diesem Punkt willfährige Ignoranz.

Irgendwie kam ich nicht ganz klar darauf, dass der Autor dieses Buches neben mir zu sitzen und genau auf jede meiner Situationen zu zeigen schien, während ich ihn las.

»E’a’a! A-Kie!«

Ansie? Hanse? Das klang alles zu kurz, vor allem mit diesen Vokalen. Hatte er sich diesmal getäuscht? War mein Haltestellenprophet doch nicht unfehlbar? Zweifel keimte in mir auf. Die Durchsage ließ auch noch ungewöhnlich lange auf sich warten. Langwied? Martiensried? (Nein, die lagen doch ganz woanders.) Wasserski?

»Nächster Halt: Am Knie.«

Am Knie! Ich hatte nicht einmal gewusst, dass es so eine Haltestelle in München überhaupt gab. Wessen Knie das wohl war? Vielleicht wusste es mein Gegenüber ja und hätte es mir auch bereitwillig erzählt — ich hätte ihm inzwischen zugehört, auch wenn ich kein einziges Wort verstanden hätte.

Die Videokassetten öffneten und schlossen sich im Takt der Türen (oder war es andersherum?), und ich erwartete gespannt die nächste Runde. Doch in diesem Moment bückte sich mein gutmütiger Reisegefährte, hob die beiden Bücher vom Boden auf, blätterte mäßig interessiert in einem davon — ohne dass zu verstehen schien, was sich ihm da präsentierte — stand auf und ging den schmalen Gang der Tram hinunter.

»Nächste Haltestelle: Offenbachstraße.«

Ich sah ihm beinahe traurig hinterher. Ohne ihn war das Spiel und damit die restliche Tramfahrt langweilig geworden. Zum Glück musste ich nur noch zwei Stationen fahren. Also widmete ich mich wieder meinem Buch, bereits beinahe darauf wartend, dass es mir ein letztes Mal auf dieser Fahrt ein Bein stellen würde.

In Wirklichkeit kannst du darauf vertrauen, dass beinahe alles eine Art der Führung darstellt — absolut alles. Doch ich warne dich: Sobald dein berechnender Verstand ins Spiel kommt, wirst du dich selbst hören, wie du diese bedeutenden Momente zu taxieren beginnst:

»Oh, das war nur ein Zufall. Das ist nur eben so passiert.« Wenn du jedoch auf diesem Weg des Gewährens und Vertrauens bleibst, wird dir der Geist erlauben, dieses Denken aufzugeben: »Es gab einen Grund dafür. Mein Leben folgt dem Fluss des Stromes, getragen von seinen überraschenden Windungen.«

Geschlagen steckte ich das Buch in meinen Rucksack, humpelte aus der Tram und gab mich dem Fluss hin, der mich ungefragt mit sich gerissen hatte.

Vielen Dank fürs Lesen. Geschrieben am 27. März 2018.

Ich bin unabhängiger Autor, Übersetzer und Lektor. Wenn ihr glaubt, dass ich euch bei etwas helfen kann, schreibt mir einfach an chrisloveswords@gmail.com.

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