Das Gegenmittel zum Wohlstandsverlust…

…ist nicht etwa Größe oder Grandiosität — es ist eine gesunde und funktionierende, soziale Gesellschaft.

Die Ängste einer untergehenden Gesellschaft sind eine seltsame und tragische Sache.

Sie erzeugt eine ganze Reihe von merkwürdigen und seltsamen Ängsten — und genau um diese Ängste geht es in unseren kaputten, degenerierten öffentlichen Diskursen täglich, nicht etwa um die Realität, weshalb sich das Leben von Tag zu Tag auch immer surrealer anfühlt.

Was passiert mit den Menschen in einer untergehenden Gesellschaft?
Nun ja, sie müssen sich irgendwie wehren, sich gegen die unangenehme Realität wehren, dass es einen Verfall, einen Wohlstandsverlust, eine Verschlechterung ihres Lebens, gibt. Natürlich erzeugt das Anspannung, Stress, Druck, bereitet Sorgen, wenn nicht sogar Schrecken bis hin zu puren Existenzängsten. Mit dieser höchst realen, aber extremst unbequemen Tatsache gehen viele Menschen auf eine von drei Arten um:

Erstens: Realitätsverweigerung, indem der Geist das genaue Gegenteil der harten und bitteren Wahrheit produziert, um sich vor Schmerz zu schützen: „Wir sind die tollste und beste Gesellschaft, die es je gab!!1!“ Jede Gesellschaft hat diesen Mythos — aber ihr werdet feststellen, dass er sich in Krisenzeiten seltsamerweise erhärtet und sich das Narrativ verfestig, wie Krebs gedeiht und in jeder Zeitung rezitiert wird, als Nostalgie für ein imaginäres goldenes Zeitalter, das es nie gab und nie geben wird.

Zweitens kann das Problem natürlich projiziert werden:
„Wir wollen nicht, dass die Leute aus diesen beschissenen Ländern hierher kommen!!1!“ Nun steigt die Anzahl dieser „Dreckslöcher“ oder „Scheißländer“ in dieser Welt — abgesehen vom offensichtlich an den tag gelegten Rassismus jetzt — tatsächlich sprunghaft an. So sehr sogar, dass diese Länder nun die Länder der “ersten Welt”, wie Amerika und Großbritannien überholen! Viele dieser sog. “Entwicklungsländer” streben nun danach, bessere Gesellschaftliche Verträge und Instutitionen zu entwickeln als die USA oder Großbritanien. Wird es ihnen gelingen? Wer weiß? Doch alleine die Vorstellung, dass die Welt voller „Dreckslöcher“ oder „Scheißländer“ sei, bedeutet, die Realität schlicht zu ignorieren. Eine psychologische Strategie also, die darauf abzielt, die eigenen Ängste vor dem Wohlstandsverlust und dem schleichendem Niedergang unserer Gesellschaft zu zerstreuen und so den eigenen Platz an der Spitze zu bewahren. Hey presto: Man kann sich wieder gut fühlen!

Drittens, und was für mich am interessantesten ist, kann diese Angst vor dem Wohlstandsverlust natürlich populistisch genutzt und missbraucht werden werden. “Ach du lieber Gott!!” sagen sie. Wir müssen sie von uns trennen! Wir müssen diese Einwanderer, Migranten und Ausländer rausschmeißen! Sie nehmen uns die Arbeisplätze und die Termine bei den Zahnärzten weg !! Wir müssen eine Mauer bauen! Schickt diese hilfesuchenden Menschen gefälligst nach Ruanda! Und haltet Sie gefälligst aus unserem Blick, am besten wie Vieh in unmenschlichen schwimmenden dystopischen Gefängnissen. Wenn sich das herumspricht…

Diese Menschen gehen davon aus, dass der Kollaps an einem anderen Ort als bei ihnen selbst; der Gesellschaft um ihnen herum, die Gesellschaft welche sie mit aufgebaut haben, stattfinden wird — also müssen sie zwangsweise Sündenböcke finden, auf die sie mit dem Finger zeigen, die sie beschuldigen und die sie angreifen können.
Auf diese Weise kann die Angst vor dem Wohlstandsverlust und dem Niedergang der uns bekannten Welt verdrängt werden — denn es ist nicht die eigene Schuld, dass die Gesellschaft zusammenbricht; sondern es liegt außerhalb der eigenen Schuld und es geht nur darum, “die Anderen”™ zu bekämpfen, zu besiegen, zu beseitigen. Wenn also der Fleck, diese andersartige “Unreinheit” nun entfernt wird, wird das soziale Gefüge wieder automatisch in die alte gewohnte, traditionelle Ordnung zurückfallen.

Was machen wir jetzt aus all dem? Nun, diese Ängste hinterlassen in untergehenden Gesellschaften einen besonderen und merkwürdigen Glauben: Dass sie „wieder großartig“ werden müssen. Weltmeister sozusagen. Wir haben diesen Satz in der Geschichte immer und immer wieder gehört, vom kaiserlichen Rom über das Nazi-Deutschland, vom ehemals vereintem Britischem Königsreich bis hin zu den Vereinigten Staaten von Amerika. Ich möchte, dass wir das wirklich verstehen!

Die zentrale Angst vor dem Kollaps ist aber die eigentliche Angst vor der Unzulänglichkeit und der Verlassenheit. Derjenige ist nicht gut genug, nicht würdig genug, und so wird man zurückgelassen… von der Welt, der Zukunft, beschämt von der Geschichte. Das ist übrigens der Grund, warum all die Demagogen, die an die Macht kommen, in der Regel infantile Narzissten sind, die sich selbst als starke, authoritäre, erwachsene Menschen darstellen — welche ihre Mitmenschen auf alle drei oben genannten Arten von ihren Ängsten vor der Unzulänglichkeit und der Verlassenheit befreien können.

Da es bei den Ängsten vor dem Kollaps um die eigene Unzulänglichkeit und Verlorenheit geht; wird im Allgemeinen angenommen, dass das Gegenteil com „Kollaps“, von „Niedergang“ „Größe“ bzw. „Grandiosität” ist. Genau wie ein vernachlässigtes Kind zum Perfektionisten wird und denkt, dass es in irgendeiner Weise fehlerhaft oder ungenügend sein muss — und dass seine Eltern deshalb immer unaufmerksam sind. „Größe” bzw. „Grandiosität” ist eine Art Perfektionismus, und Perfektionismus findet leider immer Sündenböcke in geliebten Menschen, macht Freunde zu Todfeinden und verwandelt das Bedürfnis nach Nähe, Intimität und Geborgenheit in blinde Wut, Hass und Rage, sei es einer Person, einer Minderheit oder der gesamten Gesellschaft gegenüger.

Die untergehende Gesellschaft hat das Gefühl, dass sie wichtig, bedeutsam und mächtig werden muss, indem sie bedrohlich, einschüchternd und mächtig ist, sonst ist sie nicht überlebensfähig. Das ist Grandiosität.

Und Grandiosität allein löst keines der zentralen Probleme des Untergangs — gebrochene Gesellschaftsverträge, bröckelnde öffentliche Instutitonen und Infrastrukturen, implodierende Mittelschichten, explodierende Inflation, usw., …oder?

Das Gegenteil vom Niedergang vom Kollaps ist nicht etwa Größe oder Grandiosität! Das Gegenteil vom Wohlstandsverlust, vom Verfall der Gesellschaft ist „funktionierend“, „gesund“ und „vernünftig“! Man muss nicht “großartig” sein, um wohlhabend zu sein. Und oft ist auch „groß sein” bloß ein Mythos des Exzeptionalismus und Perfektionismus, der abscheuliche Gräueltaten einfach unter den Teppich kehrt. Sich dem Wohlstandsverlust, dem Verfall und dem Kollaps klug und mutig zu stellen, ist psychologisch das Schwierigste überhaupt!

Es bedeutet nüchtern festzuustellen und sich einzugestehen: “Nun, die Dinge funktionieren nicht. Lasst sie uns also nicht weiter verdrängen oder gar leugnen und Zweifel säen — lasst uns behutsam und demütig eine gesunde Gesellschaft aufbauen, Schritt für Schritt.”

Die Ängste vor dem Wohlstandsverlust geben uns das Gefühl, dass wir wieder “groß” werden müssen, um würdig zu sein um in einer immer feindseligeren und gefährlicheren Welt leben bzw. sogar nur überleben zu können — was hätte uns sonst zum Verfall führen können? Aber das ist nicht die Realität — es ist bloß eine Illusion, die geschaffen wurde, um unsere inneren Ängste abzuwehren und sie durch etwas Erträgliches zu ersetzen. Wir müssen nicht großartig sein — nicht jetzt, nicht damals, nie wieder, NIEMALS — um gesund, vital, geistig bei Verstand und wirklich wohlhabend zu sein! Wir müssen lediglich alle gemeinsam eine funktionierende Gesellschaft aufbauen.

Eine funktionale. Eine anständige, menschliche, humane, sanfte, freundliche und lebenswerte. In vielerlei Hinsicht kann eine „große“ Gesellschaft niemals all das sein — weshalb große imperiale Gesellschaften immer zerfallen, anstatt stabil und gesund zu wachsen und zu gedeihen.

Das Gegenteil vom Wohlstandsverlust, vom Kollaps ist Funktionalität, nicht Größe oder Grandiosität! Es ist Demut, Weisheit, Mut, Ausdauer; in kleinen Taten, auf sanfte Art und Weise, in alltäglichen Dingen und Gewohnheiten; in unserer Arbeit, in der Demokratie und in unseren Beziehungen. Das ist die Lehre die wir übersehen, indem wir verloren und hypnotisiert all unseren Ängsten zum Opfer fallen.

Umair
August 2023

Übersetzung des Essays: “The Opposite of Decline Isn’t Greatness — It’s a Healthy, Working Society.” von Umair Haque

Ursprünglich veröffentlicht auf medium (EN)

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(Robocop)

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