Der weinende Mann im Auto, dem es vor jedem weiteren Arbeitstag graut

Die Tragödie des vorherbestimmten Lebens der Monotonie.

Ja, ich war dieser Mann. Vor ein paar Jahren, als ich in der Personalabteilung eines großen multinationalen Unternehmens arbeitete. Frisch aus dem College, voller Energie, Tatendrang und Ambitionen.

Doch dort stand ich nun, auf dem Parkplatz, griff nach meinem Lenkrad, unfähig alles weiter zurückzuhalten. Ich erinnere mich, dass es an diesem Tag furchtbar kalt war. Eiskalt. Es war Winter; hart, trostlos und unerbittlich. Draußen hat es wieder frisch geschneit und es war immer noch genauso Pechschwarz, wie Mitten in der Nacht. Ich verließ in der Dunkelheit das Haus und kehrte in der Dunkelheit wieder zurück. Der verbleibende Frost in den Ecken meiner Windschutzscheibe spiegelte in gewisser Weise genau das wider, was ich fühlte: völlige, absolute Gleichgültigkeit gegenüber meinem Job, eine dunkle, düstere Wolke aus pechschwarzer Depression gegenüber meinem Leben, diesem Leben… dieser… Existenz.

Ich umschlung das Lenkrad wie ein Ertrinkender, der sich an einem Rettungring fesklammert. Meine Geliebte, meine Rettung, das einzig greifbare vor mir, mein einziger Ausweg aus diesem Wahnsinn und ich fing an unkontrolliert und hysterisch zu weinen. Ich wusste nicht genau warum. Es fühlte sich wie eine lang unterdrückte Welle an, ein Tsunami der absoluten Verzweiflung, der aus meinem tiefsten Inneren aufstieg, plötzlich frei brach und mich ganz verschlang. Sich dann zurückzog und nichts als Leere zurückließ.

Ich fühlte mich gefangen. Als ob jede Bewegung, jede Entscheidung, jeden verdammten verfickten scheiß Tag, von Anfang an vorherbestimmt ist. Ich hatte keine Handlungsmacht, keine Kontrolle über meine eigene Existenz. Das einzige was ich hatte, das einzige was ich jemals bekommen würde — aus fehlendem Glauben an das Göttliche, fühlte sich… vergeudet und verschwendet an. Sinnlos. Frei von Sinn. Unsinnig.

War es das jetzt, oder wie?

Jeden Tag pendelte ich zu diesem Ort des trostlosen Leidens und der zerbrochenen Träume, parkte mein Auto, stieg aus, setzte ein gequältes, falsches Lächeln auf, murmelte ein paar Mal ‘Gute Morgen’, machte schwarzen Kaffee und setzen mich dann vor einem Computer, ordentlich arrangiert in einem großen offenem Open-Office-Space ohne jegliche Privatsphäre, aber dafür mit umso mehr Druck, meldete mich am System an und began mit meiner Arbeit.

Rekrutiere mehr eifrige Seelen, um diese in der Maschinerie zu zermahlen. Mit äußerst schrecklich langweiligen und langwierigen Besprechungen, noch längeren und noch grausameren, nervtötenden Telefonanrufen, E-Mails, so vielen, ja so unendlich vielen E-Mails und einer endlosen Reihe der immer gleichen Interviews, immer und immer wieder.

A: “Warum sind Sie ein XYZ geworden?”
B: “Ich war immer leidenschaftlich für XYZ!”

A: “Warum haben Sie sich für diesen Job beworben?”
B: “Es ist mein lebenslanger Traum, ein XYZ im XYZ-Sektor zu werden!”

A: “Warum möchten Sie für dieses Unternehmen arbeiten?”
B: “Es ist mein lebenslanger Traum, ein XYZ im XYZ-Sektor für dieses Unternehmen zu werden!”

Immer und immer wieder, bis wir alle zu abgestumpft sind, um uns nicht mehr darum zu kümmern. Bis wir zu alt sind, um uns zu verändern, zu depressiv und apathisch geworden sind, um uns auch nur ein anderes Leben vorzustellen zu können oder in Erwägung zu ziehen.

Jeder Tag der gleiche. Eine mehrjährige Warteliste auf bessere Zeiten. 17:00 Uhr, Wochenenden, Feiertage, eine kurze Pause vom erdrückenden Koloss der Verpflichtungen; Alkohol, Drogen, der Ruhestand nur Jahrzehnte entfernt, yay!

Es sollte alles besser werden. Macht eine Ausbildung, oder besser noch studiert, arbeitet hart und das Leben wird euch belohnen, sagten sie. Warum haben sie gelogen? Die Zukunft schien einst so strahlend hell. Was ist passiert?

Ankunft zu Hause, zu müde irgendwelchen Interessen oder Hobbys nachzugehen, zu müde für Geselligkeit (mit Ausnahme des notwendigen, obligatorischen Bieres oder zwei oder drei oder manchmal fünf, meistens allein, gelegentlich auch arbeitsbezogen). Schalte Netflix ein, schnappt euch euer Telefon — zu kaputt und ausgelaugt für Videospiele — und entkommt der Welt für ein paar Stunden, bis die Augenlider schwer werden und das Bett ruft. Tiefe, traumlose Ruhe… aber immer zu kurz. Viel zu kurz.

Vergesst nicht, Wäsche zu waschen und zu putzen, zu reinigen und zu kochen und zu warten, zu warten, so unglaublich viel in Stand und am laufen zu halten.

Unser Job liefert anfangs das nötige Geld und aus einer merkwürdigen Verstrickung aus unterschiedlichen Verpflichtung und Erwartungen an die Systemen, in denen wir verstrickt und gefangen sind, fangen wir an Dinge und Menschen zu sammeln. Aber je mehr Sie sich ansammeln, desto mehr müssen Sie gepflegt werden um erhalten zu bleiben. Merkwürdig eigentlich! Und je mehr wir behalten, desto mehr Geld benötigen wir, desto mehr müssen wir arbeiten.

Dem persönlichen Konsumismus trifft meiner Meinung nach keine Schuld. Was bleibt uns denn auch noch großartig anderes übrig? Wenn der Winter lang und hart ist, wie es oft der Fall ist, begrüßt jeder Mensch jedes einzelne Hormon des Glücks. Wir sammeln schlussendlich doch wirklich nur Dinge, um in Dopamin zu baden, oder? Und was gibt uns noch alles Dopamin? Wir kuscheln wegen Dopamin, wir küssen uns wegen Dopamin, wir ficken u.a. wegen Dopamin und so konsumieren wir auch wegen dem Dopamin.
Was gibt es da groß zu verurteilen?

Die gebrochenen Versprechen des Kapitalismus. Die Lügen der Entwicklung und des Fortschritts. In Zahlen und Fakten.

Zurück zu meinem Lenkrad.

Ich erinnere mich, dass ich es so fest gepackt habe, dass die Knöchel weiß wurden… und dann einfach losgelassen habe und an den Ort ging, an dem meine Wut, meine Rage lebte. Niemand konnte mich hören. Der riesige, graue, abscheuliche Parkplatz um mich herum war voller leerer Autos, denn ich war spät dran an diesem Tag. Vor mir ragte das Bürogebäude, eine Abscheulichkeit aus Glas, Beton und abgestandenen Menschen. Also schrie ich und schluchzte. Interessanterweise erfüllte mich dieser kurze Breakdown, diese Zusammenbruch der Vernunft mit neuer Energie. Hass befeuert den Rest meines Tages, meiner Woche, meines Monat, des Jahres… ich fragte mich, ob alle anderen das Gleiche taten in ihren Autos weinen, bis sie bereit für den Tag sind?

Wie auch immer, ich ging hinein, setzte wieder ein falsches, selbstbewusstes Lächeln auf, sagte ein paar Mal die Worte ‘Guten Morgen’, loggte mich lautstark im System ein, machte den stärksten und schwärzsten Kaffee meines Lebens, machte meine Interviews, erhob meine Stimme in Meetings, verschlang mein Mittagessen, sozialisierte mich und fuhr dann nach Hause in meine kleine Wohnung in einem bald gentrifizierten Stadtblock. Verdammt, wie lange kann ich mir noch die Miete leisten? Ich muss härter arbeiten! Ich habe mich ins Fitnessstudio gezwungen, das Abendessen gemacht, ein bisschen konsumiert, schlief und am nächsten Morgen wieder auf dem Parkplatz geweint.

Wie erfrischend! Wie belebend! Dies ist ein Leben der Begeisterung!

Ich bin überzeugt, dass wir früher oder später alle an einem Punkt in unserem Leben ankommen, an dem die Tragödie unseres Lebens so kurz, so unglaublich abrupt und schlagartig uns so offensichtlich ins Gesicht springt, dass wir sie nicht noch länger ignorieren oder gar leugnen können. Anschließend bekommen wir dann zwei Optionen präsentiert:

1. Ignorier die Tragödie. Weitermachen.
2. Die Tragödie nicht ignorieren. Leiden.

Dieser Punkt erscheint leider regelmäßig in unserem Leben und wir geben ihm bestimmte Namen: Pubertät, Viertelleben-krise, Midlife-crisis, Sinnkrise, Liebeskummer, Identitätsfrise, Lebenskrise, Nervenzusammenbruch, fehlgeschlagener Selbstmordversuch.

In jedem Fall ist das aller, aller Wichtigste jetzt, dass wir nun die vorgeschriebenen Pillen und Tabletten schlucken und unsere verdammte Hirn-Chemie in Schach bekommen, wir scheiß verfickten kleinen Misserfolge! Warum ist Ismail dort drüben so viel erfolgreicher als Du?! Der Typ ist zwei Jahre jünger, schon verheiratet und hat bereits ein Kind in der Pipeline. Er ist vor dir mit der Beförderung an der Reihe, verdammt noch mal! Er ist charmanter, sieht besser aus, cleverer, in bester Form und rekrutiert frische Seelen viel brutaler, schneller und effizienter als du es jemals konntest!

Hast du Depression? Angst? ADHS?
Wie wäre es, wenn du deine Scheiße langsam mal geregelt bekommst? Das System funktioniert wie beabsichtigt, Du bist nur schwach. Zu schwach.
Erbärmlich!

Dein Job macht Sinn! Die Unternehmenswerte zu steigern!

Das Wichtigste ist also, Ismail dort drüben ganz, ganz Dolle zu hassen! Alternativ können wir unseren Hass natürlich auch auf andere konzentrieren: Menschen anderer Nationalitäten, Hautfarben, Religionen, schwulen Menschen, lesbische Menschen, Trans-Menschen, alles wirklich, solange wir bloß nicht durch das System hindurchblicken welches uns in diesem Sumpf aus Leb- und Lustlosigkeit und im Überfluss frei fließenden Elends gefangen hält.

“Man muss sich Sisyphus glücklich vorstellen”, sagte Albert Camus und fing damit die Absurdität unseres Lebens perfekt ein. Ich mag seine Schlussfolgerung noch mehr: lebe in leidenschaftlicher Rebellion.

Es gibt also immer einen Ausweg. Du kannst die stoische Pille schlucken und deine Emotionen in Schach halten und gleichzeitig akzeptieren, dass das Leben in der Tat größtenteils Leiden bedeutet, oder aber du kannst trotz des Leidens leben, niemals akzeptieren, immer rebellieren. Wenn du an ein Leben nach dem Tod glaubst, ist dieses Leben doch sowieso nicht wirklich wichtig, und wenn Du es nicht tust, dann wohl noch weniger.

Schlussfolgerung: Lebe dein verdammtes Leben so, wie du es für richtig hältst. Fick Erwartungen.

Willst du einen komfortablen Schreibtischjob? Bitte, lass dich von niemandem davon abbringen. Wir sind alle verschieden. Diese Geschichte war nur meine bescheidene, unwichtige Erfahrung.

Willst du das Leben eines Vagabunden leben? Dann tue es! Schreibe darüber!

Möchtest du nicht wirklich darüber nachdenken? Es macht keinen Unterschied, also… bitte… mach einfach weiter. Lebe und sterbe, wie alle anderen. Ein bewusstes Leben macht nicht umbedingt irgendetwas besser.

Der Hauptgrund, warum ich den Kapitalismus und den Status Quo so sehr verachten und verabscheue, ist seine einschränkende Natur. Seine Vernichtung von Freiheit und Selbstbestimmung. Der Staat. Die Unternehmen. Jeder, der Macht über irgend jemandem hat. Die Tragödie, ein Leben führen zu müssen, welches man nicht leben möchten. Die Tragödie, welche ein verschwendetes Leben ist.

Gibt es keinen Ausweg?

Ja, mit unserem Leben ist etwas entschieden falsch.
Was übersehen wir?

Antonio Melonio
12. Dezember 2023

Übersetzung des Essays (leicht geändert): “The Man Weeping in the Parking Lot, Dreading Another Day at Work” von Antonio Melonio, ursprünglich veröffentlich auf: beneaththepavement.substack.com

Schämt euch nicht Hilfe zu holen!
We’re only human!
(Robocop)

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