Wie das Aufgeben dieser Welt mich befreit hat

Ich bin müde. Erschöpft vom krampfhaften Vorstellen einer besseren, gerechteren Welt.

Ich habe in gewisser Weise aufgegeben. Trotzdem bin ich guter Dinge und halbwegs fröhlich gestimmt. Und nein, die Dinge werden mit Sicherheit ständig schlimmer.

Jeden Tag werden sie schrecklicher. Es bin nicht nur “ich” oder “meine negative Einstellung”. Es ist keine subjektive Bewertung — nein, die Dinge werden ganz sicherlich im Großen und Ganzen von Tag zu Tag schlimmer.

Jeden. Verdammten. Scheiß. Tag.

Ich wohne — wie fast alle anderen Menschen die ich kenne — natürlich zur Miete. Die Mieten steigen rasant; sie steigen viel schneller als die Löhne, welche selbst hier in Österreich seit den 80ern, trotz Anpassung an die verdammte Inflation, größtenteils stagniert sind. Niemand kann sich irgendeinen Scheiß mehr leisten. Meine Schwester ist Arzt und ihr Freund — bald ihr zukünftiger Ehemann — ebenso. Sie können sich momentan kein Haus leisten. Zwei verdammte Ärzte um Himmels willen! Wer sonst soll sich bitte dann noch ein Haus leisten können? Wozu zur Hölle überhaupt noch arbeiten?

Ich werde mir in diesem gottverlassenen Land niemals ein eigenes Haus leisten können. Häuser sind bloß ein Bereicherung für die Unternehmensbilanzen. Jedes siebte Haus steht hier leer, hat eine kürzlich durchgeführte Studie herausgefunden — alles nur irgendwelche Sicherheits- und Spekulationsobjekte der schon Wohlhabenden.

Österreich. Ihr würdet denken, dass die Dinge hier besser wären. In Westeuropa. Eine reiche Nation, oder? Verwerft bitte ganz schnell diese Vorstellung. Österreich ist im Moment eine Jauchegrube aus Hass und rechtsextremem Proto-Faschismus. Jeder hasst hier gerade jeden und jeder gegen alle anderen. Politik ist ein absolutes, ekelhaftes, korruptionsdurchseuchtes Durcheinander, aus dem es keinen Ausweg gibt. Nichts ändert sich, Menschen widerstehen Veränderungen bei jedem kleinsten Punkt. Protestierende werden von Menschen in SUVs an- & fast übergefahren und es interessiert niemand einen Scheißdreck. “Geschieht denen Recht!!”, schreien sie empört. “Geschieht denen recht, weil ich zu spät zu meiner Arbeit komme!!1!”

Fick dich und deine Arbeit Digga.

Jeder ist hier ein Konservativer. Sogar diejenigen, die sich „progressiv“ oder „liberal“ oder sonstwie nennen, sind verdammte Konservative, wenn es darauf ankommt. Bewahren Sie doch unser verschwenderisches, konsumistisches und komfortables Leben zu jedem Preis. Halten dran fest.
Am ständigem, grenzenlosem Wachstum. Auf einem Planeten mit begrenzten Ressourcen. Nur in “grün”.

Zigtausende von verzweifelten und hilfesuchenden Menschen ertrinken im Mittelmeer. “Lass sie sterben. Sie verdienen es, weil sie denken, sie könnten das haben, was wir haben.” Wie können sie es wagen, ein besseres Leben zu suchen?

Wie können sie es wagen, die kollabierenden Länder entkommen zu wollen, welche wir seit Jahrhunderte ausgebeutet haben? Und noch maßgeblich dazu beigetragen haben, dass diese Nationen überhaupt zusammenbrechen??

Ich möchte jetzt nicht von der gesellschaftlichen Kälte und der so offensichtlich falschen Freundlichkeit anfangen zu sprechen, welche man hier im Westen ständig begegnet. Aber vielleicht ist das nur mein Balkanerbe, was gerade sehensüchtig spricht.

Ich habe krampfhaft den Sinn, ach was schreibe ich — irgendeinen Sinn in diesem Leben gesucht, in welches sie uns gezwungen haben; einen Master-Abschluss in Betriebswirtschaft und einen Bachelor im Lehreramt (Mathe und Physik) gemacht. Ich hasste wirklich jeden gottverdammten Job den ich jemals hatte, mit einer überaus brennenden Leidenschaft. Entweder hat er meine Seele leer gesaugt, mich depressiv und krank gemacht oder ich fühlte mich wie ein Gefängniswärter, der Kinder zwang, still zu sitzen und Scheiße zu lernen, die sie wirklich nie wieder in ihrem Leben brauchen werden, nur damit ihre Eltern beide Vollzeit arbeiten können. Sie sehen ihr Kind sowieso nie; was ist also der gottverdammte Sinn darin, eines zu haben?

Bitte erzählt mir jetzt nichts vom Zweck der Schulen und den ganzen edlen Bullshit vom gleichberechtigtem Wohlstand durch Bildung für alle und dem Leistungsgedanken. Ich habe zig Jahre im Schulsystem verbracht, ich habe den Zweck gesehen, den es erfüllt. Konditionieren. Knechten. Gehorchen, gehorchen, gehorchen… oder sonst!

Und nun? Im Moment bin ich als Art Solokünstler unterwegs, und mit ein paar kreativen, persönlichen Projekten (wie “Beneath the Pavement”) am Start, welche die Menschen hoffentlich als lohnenswerte Aktion betrachten werden. Natürlich wird es nie genug sein. Irgendwann muss wohl meine gepeinigte Seele wieder der verhassten Vollzeitarbeit nachgehen. Ich denke daran, lediglich in einem Lagerhaus oder als Barkeeper oder so etwas ähnliches zu arbeiten. Es ist besser als jeder andere Angestellten-White-Collar-Bullshit-Job. Wenn ich an einem weiteren Meeting über Unternehmensbilanzen teilnehmen muss; noch einmal „Wir sind wie eine Familie hier“ hören; wenn ich eine weitere verärgerte oder empörte E-Mail über den unwichtigsten und irrelevantesten Unsinn erhalte; fürchte ich werde ich jemanden erschießen.

So unglaublich viele Menschen laufen wie seelenlose Zombies umher. Nicht die starken, schnellen von “The Last of Us” oder “28 Days Later”; nein, die lethargischen, langsamen, fast — aber nicht ganz — Hirntoten von “Braindead” oder “The Walking Dead”. Die Pandemie der Einsamkeit und Apathie ist eine ruhige, langsame, fast unsichtbare. Sie zeigt sich in obskuren Statistiken wie den Gebrauch von Drogen- und Opiaten, Schlaft- und Beruhigungsabletten, von Antidepressiva. In Statistiken über Depressionen und Burn-Outs. Und über Selbstmorde. Wir sind wie wie Vieh, welches zum Schlachthaus der Klimakatastrophe geführt wird, und es sind unsere Eltern, die uns dorthin führen und freudig proklamieren: “Niemand will mehr hart arbeiten!” Deren Benommenheit durch die Monotonie des Alltags ist undurchdringbar. Deren Sturheit unbegreiflich. Wie anders lassen sich die Wut und die Aggressionsausbrüche erklären, welche die meisten Menschen an den Tag legen wenn sie mit der harten, bitteren Realität konfrontiert werden? Laßt sie halt weiter in ihrer kognitiven Dissonanz leben, bis diese sie innerlich zerreißt!

Wer kann sich Heute noch Hobbys leisten? Echte, meine ich.
Nicht blöde Fernsehsendungen, Serien und Filme bingen oder auf’s Smartphone starren. Ihr seid entweder zu müde und von der Arbeit geistig zu erschöpft oder Ihr könnt es euch schlicht nicht leisten. Genießen Sie den Komfort des Bildschirms und halten Sie einfach die Fresse!

Der Planet — nein, nicht der Planet, nur wir — wir sterben während ihr dies lest. Niemand möchte realisieren, dass wir als gesamte Menschheit den Zenit unserer Zivilisation bereits überschritten haben und uns jetzt im Sinkflug befinden, der nun allmählich zu einem rasanten Sturzflug wird.
Eigentlich ist es eine gute Sache.

Nur… die falschen werden zuerst sterben; und diejenigen, die es verdienen würden, könnten sogar irgendwie überleben. Das Leben ist einfach so scheiß ungerecht. Es gibt keine höhere — göttliche — Kraft, dieses Böse zu korrigieren oder die zu bestrafen. Wie neofeudale Drachen horten sie ihren über Generationen erbeuten Schatz, fern ab von den Menschen, alleine in ihrer dunklen, kalten Höhle; geschmückt mit Gold und Diamanten; immer von der Angst geplagt, alles zu verlieren… und gleichzeitig nie genug zu haben. Es bleibt wie immer alles an uns hängen, der unsichtbaren Masse. Und wir werden nichts tun, nichts mehr tun können, bis es schon viel zu spät ist. Ich kann aufrichtig sagen, dass es mit Gewissheit sogar schon zu spät ist.

Moral ist sowieso relativ. Eine rein menschliche Erfindung. “Ist das bestehlen von Unternehmen moralisch okay?” habe ich in meinem letzten Essay gefragt. Wer weiß? Hundert Menschen, hundert verschiedene Antworten.

COVID-19 hätte ein Weckruf sein können, aber es hat alles nur noch schlimmer gemacht. Die Ungleichheit ist in der Geschichte der Menschheit höher als je zuvor. Jeder Krieg hätte ein Weckruf sein können, aber wir scheinen uns nach den Kriegen und der Gewalt zu sehnen, die sie mit sich bringen. Ist es eine Art Reinigung? Eine Art kollektives, unbewusstes Verlangen, so viele von uns wie möglich zu töten? Ein verzweifelter, letzter Aufruf damit das Leben einen Sinn hatte? Denn es gibt einen merkwürdigen Zweck, Krieg zu führen — insbesondere für Männer. Kameradschaft und die höhere Berufung des Leidens und Tötens für den Stamm. Es ist besser als nichts für diese Menschen. Es ist besser, als vor einem Computer zu sitzen, Texte zu lesen, sich Gedanken zu machen und ab und zu Katzenbilder zu betrachten.

Ich bin müde, das gebe ich zu. Ich habe die Welt so gut wie aufgegeben, und Zuflucht in den Philosophien des Stoizismus, Nihilismus, Hedonismus gesucht. Ich habe angefangen zu rauchen — etwas, was ich in meinem Leben noch nie gemacht habe, weil… warum zum Teufel nicht? Es beruhigt momentan mein Hirn. Wir haben Mikroplastik im Blut und in ungeborenen Feten gefunden, warum zum Teufel soll ich nicht rauchen??

Ich bin erschöpft mir eine bessere Welt vorzustellen. Eine Utopie, die nicht kommen kann und nie kommen wird. Ich habe mich nie entschieden, in diesem System zu leben. An diesem Verdrängungskampf teilzunehmen. In diesem goldenen Käfig, den sie als Gesellschaft bezeichnen. Oder gar als Zivilisation. Lest Henry David Thoreau und ihr werdet wissen, wie ich denke. Lest “Das Gleichnis vom vierfachen Ackerfeld” und ihr werden verstehen, wie sich diese Welt für mich anfühlt. All diese toxische Positivität, die wir überall sehen. Welchen Zweck erfüllt sie? Copium, Hopium, Trost, Befreiung… von wem oder was auch immer…

Es hindert bloß irgendjemanden daran, wirklich etwas zu tun. Ich möchte lieber in der harten Realität als in einer Traumwelt der Neo-Liberalen und Tech-Bros, basierend auf populistischer, systematischer Faktenverdrehung, leben. Aber das ist wohl eine Frage der persönlichen Philosophie, schätze ich.

Ich bin nicht depressiv. Ehrlich gesagt bin ich es nicht! Okay, manchmal schon. Aber eigentlich bin ich sogar irgendwie fröhlich. Ich habe vor einiger Zeit unter Depressionen gelitten, zusätzlich zum ADHS und zu den sozialen Angstzuständen… weil, hey, es ist halt ne kranke, kalte, egozentrische Welt. Aber jetzt nicht mehr. Ich habe den Kollaps akzepiert & angenommen. Das ist das einzige, was man nicht tun sollte, wenn man dieses System bekämpfen möchte. Und ich habe es jetzt getan. Und ich fühle mich wirklich sehr viel besser. Mein Anarcho-Nihilismus hat mich nicht in die Verzweifelung geführt, sondern ehrlich gesagt fühle ich mich stärker.
Eigentlich… sogar mehr in Kontrolle. Am Ende ist nichts wirklich wichtig. Wir werden alle als Wurmfutter enden. Das gibt einen echten Trost — zumindest mir. Das Universum ist riesig und unwirklich. Und es gibt keinen fick auf irgendeinen von uns.

Versteht mich bitte nicht falsch. Ich verachte dieses kranke System immer noch zu tiefst — den Neo-Kolonialismus, den Kapitalismus im derzeitigen Endstadium und all seine faschistischen Ab- & Nachkömmlinge. Ich werde mich gerne dem Krieg gegen ihn anschließen, sobald er beginnt. Ich werde bei Bedarf Guillotinen bauen, Mistgabeln schleifen und Fackeln verteilen. Sobald es beginnt… wenn es jemals beginnt.

Macht das Beste daraus, seid freundlich und lieb zueinander, helft einander und versucht, das zu ändern, was ihr könnt; denn wenn das Chaos kommt, können wir es trotzdem nicht aufhalten. Und zumindest werdet ihr euch lebendig fühlen. Die Dinge können immer noch sehr, sehr viel schlimmer werden und sie werden es mit Sicherheit sehr, sehr schnell, aber ihr könnt immernoch den Kampf wählen — wenn ihr wollt. Ihr müsst eure Zeit, eure Arbeit, euer Leben zukünftig verkaufen, um Obdachlosigkeit, Durst und Hunger für viele Jahre zu vermeiden, aber seid zumindest wütend darauf — denn es hindert euch jetzt daran, dieses sehr kurze und unwichtige Leben zu genießen, das wir haben!

Wütet in eurem Käfig! Vielleicht biegen sich die Gitterstäbe eines Tages. Ich werde dann dafür da sein!

#RAGEINYOURCAGE!

Antonio Melonio,

Oktober 2023

Übersetzung (+leichte Ergänzungen) des Essays: “I Have Discovered That Giving Up on the World Can Set You Free” von Antonio Melonio

Ursprünglich veröffentlicht auf medium (EN):

https://t.co/SYIBBt9HDu & beneaththepavement.substack.com

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