Der digitale Graben zwischen Stadt und Land

Matthias Mirbeth
Going Yellow
Published in
4 min readMay 22, 2019

Von Matthias Mirbeth

Photo by Karsten Würth on Unsplash

Durch die Digitalisierung verstärken sich die Unterschiede zwischen Stadt und Land – doch wir pressen die verschiedenen Bedürfnisse in die einheitlichen Strukturen von gestern. Wenn das so weitergeht, fühlen sich manche Berliner Stadtbewohner bald mehr mit Menschen aus Brooklyn verbunden als mit ihren Nachbarn aus Brandenburg.

Die Erkenntnis kam am Frühstückstisch. Bei zwei abgezählten Scheiben Salami, einer Thermoskanne mit abgestandenem Kaffee und hart gekochten Eiern (für eine extra Gebühr von 50 Cent) war schnell klar, dass es hier nicht nur um eine Variation von Frühstück ging, sondern dass hier Fundamentales im Gange war. Und nicht nur ich spürte es, sondern auch die Gastwirtin des Landgasthofs, in dem ich aufgrund des Geburtstages eines Freundes für eine Nacht blieb. Sie durchleuchtete mich mit ihrem Blick, analysierte mein Äußeres und signalisierte durch Gestik und Mimik, dass sie keinerlei Interesse hatte, irgendeine Art Verbindung oder Empathie zwischen uns entstehen zu lassen.

So hatte ich seit langer Zeit mal wieder ein Gefühl von Fremde, ein Gefühl von „Nicht-dazu-gehören“. Nicht etwa in meinem Mexiko-Urlaub oder bei einer Arbeitsreise in die Vereinigten Staaten, sondern in Brandenburg, nur 45 km entfernt von meiner Wohnung in Berlin Mitte.

Hat der Durchschnittsberliner — Anfang 30, ledig, lifestyle-orientiert, passables Gehalt, zugezogen — mittlerweile mehr gemeinsam mit dem Durchschnittstypen aus Brooklyn als mit der Gastwirtin aus Brandenburg? Und wenn dem so ist, was bedeutet das für unser gesellschaftliches Grundgefüge?

Eine gemeinsame Civey/TLGG Consulting-Studie zeigt, dass besonders in den zentralen Lebensbereichen wie Mobilität oder Gesundheit die Bedürfnisse von Landbewohnern und Städtern schon heute weit auseinanderliegen. Jeder zweite Städter kann sich bereits vorstellen, auf das eigene Auto zu verzichten — auf dem Land ist es lediglich jeder Zehnte.

Klar, die Infrastruktur im urbanen Raum ist dichter und schwer vergleichbar mit dem Land. U-Bahnen, Busse und S-Bahnen machen den Verzicht auf den eigenen Wagen leichter. Doch dahinter steckt auch ein verändertes Verständnis von Werten, Prestige und Lifestyle: Während auf dem Land weiterhin auf neue Ledersitze gespart wird, sammeln die Städter inzwischen lieber Statuspunkte auf ihrem Car-Sharing-Meilenkonto.

Die Bedürfnisse der Menschen haben sich — bedingt durch neue technologische Möglichkeiten — verändert. Gleichzeitig spüren wir aber auch, dass unsere Strukturen von gestern nicht mehr zu den neuen Anforderungen passen. Bundesweit diskutieren wir wochenlang über die Genehmigung von E-Scootern, die die „letzte Meile“ in den Innenstädten überbrücken sollen. Zur selben Zeit sorgen sich vor allem viele ländliche Kommunen, weil die letzte Apotheke im Umkreis von 15 km schließt und damit die medizinische Grundversorgung gefährdet ist.

Inwiefern müssen wir gesellschaftliche Strukturen und Logiken anpassen, wenn sich durch Digitalisierung die Anforderungen an Stadt und Land weiter verändern — und die Bedürfnisse in den zentralen Lebensbereichen wie Mobilität, Gesundheit und Bildung immer weiter auseinanderdriften?

Der Beginn des digitalen Hanse-Zeitalters?

Ein mögliches Modell zur Lösung könnte man sich aus der deutschen Geschichte abschauen: Schon vor der Entstehung der Nationalstaaten haben sich in Norddeutschland viele Städte in der Hanse zusammengetan, um mit einer Stimme die gemeinsamen Interessen zu vertreten. Stehen wir also kurz vor Beginn eines digitalen Hanse-Zeitalters? Mit verstärkten Gesetzgebungskompetenzen sowohl auf Stadt-, als auch auf Land-Seite?

Natürlich würde solch eine regulatorische Untermauerung der Stadt-/Land-Unterschiede den Gedanken eines einheitlichen Nationalbewusstseins herausfordern. Doch mit einfach ignorieren kommen wir nicht weiter und verstärken den kulturellen Graben vielmehr. Denn wenn etwa bei den Landbewohnern das Gefühl aufkommt, da entscheidet jemand aus der Stadt über Themen und Sachverhalte, von denen er keine Ahnung hat, verhärtet sich eher das Misstrauen gegenüber den bestehenden Strukturen — mit unvorhersehbaren Folgen für unser künftiges Zusammenleben.

Andersherum liegt in der Anerkennung der Unterschiede durchaus Potential für die digitale Zukunft: für eine Landarzt-Praxis mit häufig weit mehr als 1000 Patienten pro Quartal (und einer vergleichsweise weiten Anreise der Patienten) bietet Telemedizin ein weitaus höheres Potential als für städtische Praxen — die häufig nur halb so viele Patienten haben. Hier können also gerade ländliche Kommunen Vorreiter für die digitale Kommunikation in der Gesundheitsbranche sein (wie die Studie von Civey und TLGG Consulting zeigt, steht Deutschland hier am Anfang), weil sie näher an den Bedürfnissen vor Ort neue Lösungen entwickeln können.

Das könnte Grundlage für das neue Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen Stadt und Land sein, das, was uns im Innersten zusammenhält: die Nischen im eigenen Lebensumfeld erkennen und durch Innovationsgeist Neues schaffen. Wenn das sowohl Berliner als auch Brandenburger erreichen, dann klappt’s auch mit der Nachbarschaft.

Matthias Mirbeth ist Berater bei TLGG Consulting Berlin.

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