“Deutschland droht, den Anschluss zu verlieren”

thorsten schroeder
Going Yellow
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4 min readMay 20, 2019

Von Thorsten Schröder und Wadda Salah Eldin

Eine Mehrheit der Deutschen wünscht sich einen dringenden Ausbau des Digitalangebots deutscher Behörden. Das Beispiel Arnsberg zeigt, dass das möglich ist - wenn der politische Wille vorhanden ist.

Nils Hoffmann fällt auf in deutschen Behörden, und das liegt nicht nur an den schwarzen Ohrsteckern oder daran, dass er einige Jahrzehnte jünger ist als viele seiner Kollegen. Hoffmann ist der Digitalspezialist der Arnsberger Bezirksregierung und leitet seit einem Jahr das einzige Innovationslabor einer deutschen Behörde. “Im Grunde geht es bei uns immer um die Frage, wie wir die Verwaltung einfacher gestalten können”, fasst er seine Arbeit zusammen.

Bedarf dafür gibt es, das zeigt auch die Umfrage von Civey und TLGG Consulting. 54,9 Prozent der insgesamt mehr als 5000 Befragten wünschen sich im öffentlichen Sektor vor allem einen Ausbau des Digitalangebots von Behörden. 42,2 Prozent geben an, „weniger zufrieden“ oder „gar nicht zufrieden“ mit dem bestehenden Online-Angebot zu sein. Noch größer ist die Unzufriedenheit auf dem Land und bei den unter 40-Jährigen.

Das Fenster, um zu reagieren, werde immer kleiner, warnt Hoffmann. “Deutschland droht, den Anschluss zu verlieren.”

Dabei gibt es unzählige modern klingende Ausschüsse und Initiativen, die Deutschland „digital“ machen sollen, etwa den Ausschuss für die „Digitale. Agenda“, die Daten-Ethik-Kommission, den Digitalrat und das Innovation Council. Auch die EU hat sich auf die Fahnen geschrieben, gemeinsam endlich digitaler zu werden. Doch nach Meinung von Experten bleibt es noch immer zu oft beim guten Willen. „Natürlich will jetzt jeder mitreden”, sagt auch Nils Hoffmann. Aber noch immer passiere darüber hinaus vielerorts zu wenig.

Er selbst hat in den vergangenen 12 Monaten schon viel bewegt in Arnsberg. Wo Bürger sich früher mühsam durch Webseiten klicken mussten, um etwa Informationen zur Immobilienfinanzierung oder zu Anträgen zu finden, können sie heute einen Chatbot fragen. Die Mitarbeiter der Bußgeldbehörde haben in Workshops gelernt, wie sie die Informationen aus verschiedenen Datensätzen bündeln können, anstatt sie mehrmals an verschiedenen Stellen eingeben zu müssen. Seit Hoffmann da ist, sind Formulare und Amtswege an vielen Stellen kürzer geworden. “Ich frage immer als erstes, warum wir etwas überhaupt brauchen und lasse mir das im Zweifel belegen”, erklärt er.

Doch trotz der Erfolge ist das “GovLab” von Arnsberg auch ein Jahr später noch immer das einzige derartige Experiment in Deutschland. Hoffmann ist im ganzen Land unterwegs, um eine “Koalition der Willigen” zu schaffen, die Deutschlands Behörden digitaler machen soll. “Ich bekomme viel positives Feedback”, sagt Hoffmann. Städte wie Köln und Dortmund etwa hätten zwar noch keine eigenen Innovationslabore, würden aber inzwischen viele Projekte anstoßen. Trotzdem weiß er: “Die große Masse erreiche ich nicht, und da passiert nichts.”

Dabei wächst jetzt auch auf Gesetzesseite der Druck. Das „Onlinezugangsgesetz“ (OZG) verpflichtet Bund und Länder, bis spätestens 2022 “ihre Verwaltungsleistungen auch elektronisch über Verwaltungsportale anzubieten”. Zudem müssen sie “ihre Verwaltungsportale miteinander zu einem Portalverbund verknüpfen”. In Zukunft soll es so zum Beispiel möglich sein, über einen einzigen Zugang sämtliche Dienstleistungen bei Bund und Ländern abzurufen.

Das klingt nach einem lobreichen Vorhaben. Möchte man jedoch einen Vorgeschmack auf die bevorstehenden Herausforderungen bekommen, lohnt ein Blick auf die aktuelle Diskussion um das neue Bürgerportal, welches schon heute für Abhilfe sorgen soll und mit ausgewählten 575 digitalen Dienstleistungen Ende 2018 als Betaversion online ging. Der Haken: 125 davon liegen in der reinen Kompetenz des Bundes, während 370 eine Kooperation zwischen Bund und Ländern erfordern. Für die restlichen Leistungen sind Länder und Kommunen selbst zuständig.

Neben der oft ungeklärten Frage der Zuständigkeit zwischen Bund, Ländern und Kommunen spielten vor allem auch die Behördenchefs eine entscheidende Rolle, wenn es um die stärkere Digitalisierung gehe, sagt Hoffmann. Sie müssten die Projekte priorisieren, damit sie nicht versickerten. “Wir wollen die Dinge schnell umsetzen, aber das ist nicht immer einfach”, sagt auch Hoffmann.

Amazon braucht sechs Stunden, der Termin beim Amt mehrere Wochen

„Den Kommunen fehlt häufig Personal, finanzielle Mittel und methodisches Know-how, um digitale Maßnahmen auszubauen“, sagt auch Lucas Gerrits von TLGG Consulting. Vor allem in größeren Städten sei zudem häufig die Zuständigkeit unklar. Doch das mangelnde digitale Angebot schwäche das Vertrauen in den öffentlichen Sektor. „Die Bürger fragen sich zu Recht, warum es nur sechs Stunden dauert, bis ihr Amazon-Paket kommt, sie aber wochenlang auf Termine und Unterlagen in Papierform warten müssen.“

Um die Digitalisierung voranzutreiben, müssten die nötigen Strukturen und eine neue Kultur geschaffen werden. Eine Lösung sei es, Digitalstrategien mit Partizipation der Bürger zu entwickeln, um deren Bedürfnisse in den Mittelpunkt zu stellen. „Digitalisierung darf kein Nischenprojekt für Nerds sein, sondern muss zu einem gemeinsamen Kommunalprojekt werden, damit sie funktioniert“, so der TLGG-Experte.

Weitere Infos zu unserer Umfrage finden Sie hier.

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thorsten schroeder
Going Yellow

Consultant TLGG; enthusiast of all things tech, politics and media. Former journalist and US correspondent.