14 #RaumZeitKontinuum

kamikatse
Good Girls Don’t Cry
5 min readDec 30, 2016

Meine Tante gab mir zum Frühstück eine Pille.

Wie ich mich denn fühle? Gut sagte ich.

Es war gelogen.

Meine Cousins waren in der Schule.

Mein Onkel im Krankenhaus.

Wo waren meine Eltern?

Die Zeit, sie verlief nicht mehr linear.

Wo war ich?

Bei meiner Tante,

in Detroit.

Der Greyhound und New York scheinen Lichtjahre entfernt.

Meine Eltern wollten mit mir reden, sassen auf der Couch, im Wohnzimmer. Ich setzte mich auf das gegenüberliegende Sofa, starrte auf den Boden. Mein Vater verstand nicht. Er verstand nicht warum ich so unglücklich war.

Warum bloss hatte ich ihnen das angetan? Keinen Grund hätte ich für so etwas gehabt! Ich wäre doch immer so ein braves Mädchen gewesen, sagte meine Mutter. Nie hätte ich Probleme gehabt. Niemals hätte ich von irgendwelchen Problemen berichtet. Wie auch? Sie hatte sich ja nie wirklich interessiert, nie Zeit gehabt. Wenn sie spät abends fix und fertig von der Arbeit nach Hause gekommen war, wenn sie zufällig Zeit hatte, weil sie nicht gerade mit meinem Vater lauthals diskutierte, dann hatte sie mich immer wieder mal nach meinem Tag gefragt, eher aufgefordert, ihr ALLES zu erzählen. Was die anderen so täten? Wer deren Eltern waren, was soundso heute in der Schule anhatte? Mich regelrecht nach Informationen ausgesaugt. Wie es mir ging? Meine Gefühle, die hatten sie nie interessiert. Die wenigen Augenblicke, die sie mit mir verbrachte, ging sie mir mit ihrer Fragerei nur auf die Nerven. Als hätte ich so viele tolle Sachen zu erzählen gehabt. Sie hatte sich doch immer nur für die anderen interessiert, für die Boulevard Nachrichten meiner Klasse, wer was tat, wer was gesagt hat.

Aber das konnte ich ihr nicht sagen.

Das verstand sie nicht.

Wo war ich?

In Detroit.

Meine Mutter. Wenn es um mich ging, hatte sie mir nie wirklich zugehört. Ich hatte gelernt, die Aussage zu verweigern, mit einem schnippischen ‘nichts’ zu antworten. Einmal, da hatte ich ihr von einem Problem mit einer Mitschülerin erzählt. Sie hatte mich ausgelacht, meine Mutter, hatte gemeint, dass es doch gar kein echtes Problem sei, das mit meiner Mitschülerin. Ich müsse doch nur dieses und jenes machen, dann wäre mein Problem gelöst. Danach hatte sie anscheinend meinem Vater davon erzählt der, ohne mich zu konsultieren, oder mit mir persönlich zu sprechen, am nächsten Tag zur Schuldirektorin gerannt war. Die Direktorin rannte zu meiner Lehrerin, und diese wiederum warf mir berechtigterweise vor, warum ich meine Probleme nicht selber löste und unbedingt zu meinem Vater laufen müsse.

Meine Eltern,

sie hatten es ja gut gemeint.

Sie meinten es immer nur gut.

Mein Vater. Der hatte sich immer nur für die Noten interessiert. Und dafür, dass ich unter allen Umständen immer glücklich sein musste. Eine zweitbeste Note war nun mal ein Problem und mit Probleme im allgemeinen konnte er partout nicht umgehen. Ein trauriger Tag an dem ich eine Träne vergoss war für ihn das Ende der Welt. Ich hätte doch keinen Grund traurig zu sein. Er tat doch alles für uns; arbeitete hart um Geld zu verdienen, um mich nach Amerika schicken zu können, damit ich Sprachen lerne, und so weiter und so fort. Eine gute Ausbildung, es sei das Kapital der Zukunft. Ohne eine gute Ausbildung wäre ich ‘nichts’. Mit einer guten Ausbildung jedoch könne ich überall auf der Welt arbeiten, deshalb ‘müsse’ ich eben auch viele Fremdsprachen beherrschen.

Keinen Grund hätte ich so unglücklich zu sein, wiederholte sich mein Vater immer und immer wieder. Meine Mutter nickte. Gesenkten Hauptes sass ich ihnen gegenüber, wusste nicht, was ich sagen sollte. Wieder einmal fühlte ich mich wie ein Versagerin. Ich hatte sie enttäuscht, unglücklich gemacht.

Sie hätten es doch immer gut gemeint, und für mich das Beste gewollt, betonten sie. Ich schämte mich. Warum, so warf ich mir selber vor, warum bloss konnte ich nicht einfach glücklich sein? Wenn ich doch einfach nur glücklich hätte sein könnte, dann wäre die Welt in Ordnung gewesen, ihre und auch meine.

Da sassen sie, Tränen in den Augen, ihre Gesichter gezeichnet von Sorge. Und all das nur meinetwegen. Immerzu betonten sie, wie sehr sie mich liebten. Wie sehr sie alles für mich täten, nur damit ich glücklich wäre. Wie aber konnte ich glücklich sein, wenn sie es nie waren? Sie arbeiteten hart, waren immerzu müde, stritten sich ständig, involvierten mich in ihre Streitereien.

Mein Vater regte sich über meine Mutter auf, bei mir. Mein Mutter regte sich über meinen Vater auf, bei mir. Immerzu, musste ich schlichten. Immerzu versuchte ich sie zu trösten. Immerzu versuchte ich ihn zu trösten. Immerzu rannte ich zu meiner Mutter, um ihr den Standpunkt meines Vaters klar zu machen. Immerzu rannte ich zu meinem Vater, um ihm ihren Standpunkt zu verdeutlichen. Immerzu. Doch sie waren stur. Es war schlicht und einfach unmöglich zwischen den beiden zu vermitteln. Dennoch versuche ich es immer und immer wieder. Mein Vater bat mich, ich solle doch meiner Mutter Vernunft einreden. Meine Mutter meinte, sie halte es nicht mehr aus: seinen Zorn, seine ständige Aufgebrachtheit, seine Respektlosigkeit ihr gegenüber. Er würde noch die gesamte Familie zerstören! Sie sollen sich doch scheiden lassen, hatte ich ihnen irgendwann vorgeschlagen. Auf keinen Fall, hatte sie gesagt, das konnte sie uns Kindern nicht antun. Niemals! hatte mein Vater geantwortet.

‘Sag deiner Mutter…!’ hat er mich immer wieder aufgefordert. ‘Sag deinem Vater…!’ hat sie mich immer wieder aufgefordert. ‘Sag deinem Bruder…!’ haben sie mich immer wieder aufgefordert. Als ältere Schwester war ich offensichtlich für meinen kleinen Bruder verantwortlich, sein Vorbild. Er würde auf mich hören. Ich sollte dafür sogen, dass er lernt, ihm, wenn nötig, bei den Hausaufgaben helfen, ihn zu meinen Freunden mitnehmen.

Warum? fragt mich mein Vater abermals. Mein Blick, weiterhin starr auf den Boden gerichtet. Warum hatte ich ihnen das bloß angetan? Ich sah ihn an, sah meine Mutter an. Als ich meinen Mund aufmachte um ihnen zu antworten, brachte ich kein Wort über die Lippen. Ich sei doch die Schönste, Klügste und die Beste, sagte meine Mutter und fing an zu schluchzen. Alle würden mich doch immerzu so bewundern. Ihre Freunde, Bekannten, alle fänden, dass ich ein ganz besonderer Mensch sei. Warum ich dies nicht einsehen wolle? Ich hätte doch keinen, aber wirklich auch gar keinen Grund, um traurig zu sein. Mein Vater stimmte ihr zu.

Mir wurde übel,

ich wollte schlafen,

einfach nur weg,

konnte nicht mehr klar denken.

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