002 #BraveMädchen

kamikatse
Good Girls Don’t Cry
5 min readDec 30, 2016

Ich war immer ein braves Mädchen. So zumindest behaupteten es meine Eltern wenn sie erhobenen Hauptes und mit Glänzen in den Augen von mir sprachen. Sie konnten gar nicht aufhören zu betonen wie brav ich immer schon gewesen sei. Als Baby, so erzählten sie mir und allen anderen, die es nicht wissen wollten, als Baby hätte ich immer durchgeschlafen und Nachts nie geschrieen. Schon als kleines Kind soll ich selbstständig gewesen sein, das hatte die Welt noch nicht gesehen! Mit drei Jahren, erzählte meine Mutter immer und immer wieder, konnte ich mich alleine an- und ausziehen, sagte höflich den Gästen ‘gute Nacht’, wenn ich pünktlich um acht Uhr ins Bett ging, und das alles ohne dazu aufgefordert zu werden. Selbstverständlich konnte ich mit drei Jahren auch schon lesen, schreiben und rechnen sowie Lego für zehnjährige im Handumdrehen zusammensetzen. Ich meckerte nie, ich weinte nicht und folgte immer. Ich war ein Superkind.

Daran kann ich mich nicht erinnern. Meine Erinnerung beginnt mit etwa fünf Jahren. Wenn ich in der Schule Probleme hatte, krank oder traurig war, hielten es meine Eltern nicht aus und wurden sehr unentspannt. Es schien als würde ihr Glück von dem Meinem abhängen. Als würde es an einem seidenen Faden hängen, der bei der leisesten emotionalen Schwankung meinerseits reißen konnte. Also war ich glücklich und brav, nach außen zumindest. Innerlich aber zerbröckelte ich zunehmend.

Meinen ersten Selbstmordversuch hatte ich mit dreizehn. Was der Auslöser dafür war, weiß ich nicht mehr. Ich war es leid, auf der Welt zu sein. Ich hatte keine Freude, keine Leichtigkeit, und schon gar keine Hoffnung. Fest entschlossen meinem Leben ein Ende zu setzen, feilte ich an einem schmerzlosen Plan. Mich von der Brücke zu stürzen oder vor einen Zug zu werfen war also keine Option. Allein die Vorstellung brachte mich zum erstarren. Ich hatte einen anderen Plan.

Das Herz würde einem stehen bleiben, wenn Luft in die Adern gelangte. So zumindest hatte ich es aus einer Dokumentation im Fernsehen in Erinnerung. Deshalb hielten Ärzte und Krankenschwestern immer, bevor sie injizierten, die Spritze von unten nach oben und entleerten die darin enthaltene Luft. Ich ging in die Apotheke, kaufte mir eine Spritze, fasste all meinen Mut und spritzte mir während einer Pause auf der Schultoilette Luft in eine Ader meines rechten Unterschenkels. Ich nahm an, es würde einige Minuten dauern, maximal einige Stunden, bis sich die injizierte Luft durch meinen Blutkreislauf bahnen und mein Herz erreichen würde. Ich ging in meine Klasse zurück. Erleichtert und voller Vorfreude, dass mein Leben bald ein Ende haben würde, lauschte ich, wie meine Geschichtslehrerin von den Errungenschaften Alexanders des Grossen dozierte. Ich überlebte die Stunde. Leider auch den Tag. Einige Tage später musste ich mir eingestehen, dass mein Selbstmordversuch gescheitert war.

Bei meinem zweiten Versuch war ich vierzehn. Es war am Abend vor einer Mathematikschularbeit. Eigentlich war ich in Mathematik sehr gut, hatte immer ausgezeichnete Noten. Aber ich hatte nichts für diese Schularbeit gelernt, gar nichts, und war mir absolut sicher dass ich eine Sechs bekommen würde, und das konnte ich mir nicht leisten. In der ersten Klasse schon hatte sich mein Vater bei einer Zwei in Englisch aufgeregt. Schließlich, so schrie er mich damals an, hätte er mich im Sommer zu meiner Tante nach Detroit geschickt um English zu lernen, und das noch bevor wir es in der Schule lernten. Wie war es denn möglich, dass meine Mitschüler, die nicht in Amerika gewesen waren, eine Eins hatten und ich nur eine Zwei?! Ziemlich aufgeregt hatte er sich und mir damit eine Riesenangst eingejagt. Eine Sechs in Mathematik war keine Option. Also musste ich noch vor der Schularbeit sterben.

Ich durchwühlte die Hausapotheke meiner Eltern, schnappte mir Schlaftabletten, schrieb einen Abschiedsbrief und schluckte alle neun Tabletten die ich gefunden hatte. Als ich am nächsten Tag wieder aufwachte, war ich nicht ganz bei mir. Meine Eltern merkten nichts und schickten mich in die Schule. Meine Mathematiklernerin aber schickte mich, mit der Begründung ich sehe krank aus, wieder nach Hause. Ich war der Schularbeit entkommen, immerhin, dem Leben an sich aber nicht.

Zwei gescheiterte Selbstmordversuche waren schlecht für mein Ego. Nicht einmal das hatte ich geschafft! Ich fühlte mich wie eine Versagerin. Einen Dritten Versuch wagte ich erst gar nicht. Am Boden zerstört wurde ich wochenlang krank. Es endete mit einem zweiwöchigen Aufenthalt über Weihnachten in einem morbiden Krankenhaus, wo ich mir ein Zimmer mit acht alten Frauen teilen musste. Die Ärzte fanden keine Ursache für mein wochenlanges Fieber und bezichtigten mich der Simulation.

Das war der Tiefpunkt meines Lebens.

Nach Weihnachten beschloss ich mein Leben zu ändern. Es war wirklich, aber wirklich nicht mehr auszuhalten. Meine genialer Plan: Amerika! Europa war Scheiße, Deutschland war Scheiße, Frankfurt sowieso. Amerika war das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, in dem die Welt spannend, bunt und lustig war. Ich wusste es, weil ich es im Fernsehen gesehen hatte. In all den Filmen und TV-Serien die ich mir stundenlang nach der Schule reingezogen hatte. Berverly Hills 90210. Das war ein Leben! Nicht das Kaiser-Wilhelm-Gymnasium in Bad Homburg bei Frankfurt.

Also legte ich meinen Eltern die Bewerbungsunterlagen für ein Austausch Jahr für einer Amerikanischen High School auf den Küchentisch. Zuerst weigerten sie sich. Schließlich konnte ich sie überzeugen. Es sei wichtig für meine Sprachkenntnisse und gut für meine Zukunft. Das war das Totschlagargument. Die Zukunft war meinen Eltern heilig, denn man hatte sie Ihrer Vergangenheit beraubt. Ach so, das hatte ich vergessen zu erwähnen: Als ich vier Jahre alt war, mussten wir aus dem Iran fliehen. Die Mullahs hatten in der Revolution von 1979 meinen Großvater hingerichtet und meine Eltern sahen in ihrer Heimat keine Zukunft mehr für sich. Also kamen sie wieder nach Deutschland, wo sie sich während des Studiums kennen gelernt hatten und wo ich, vier Jahre zuvor, geboren war. Mein Vater betonte seither immer und immer wieder, dass es wichtig sei, viele Sprachen zu sprechen und einen Beruf zu erlernen, den man in jedem Land der Welt ausüben könne, für den Fall natürlich, dass man eines Tages seine Heimat verlassen muss. Ja, und daher war es auch nicht schwierig, ihn von der Notwendigkeit eines High-School-Jahres in Amerika zu überzeugen.

1990 ging ich dann nach Amerika. Ich hatte in den Bewerbungsunterlagen meiner Austauschorganisation bei meinen Präferenzen angegeben, an die Westküste der USA und in eine Familie mit vielen Kindern zu wollen. Westküste war für mich synonym für Kalifornien, und viele Kinder erschienen mir als der Inbegriff eines idyllischen Familienlebens.

Es kam anders.

Ich wurde einer Familie in einem verregneten und langweiligen Vorort von Seattle, Washington zugeteilt, und die Familie hatte nur eine Tochter, eine verzogene neunjährige Göre. Von da an ging alles Bergab. All meine Hoffnungen auf ein lockeres und glückliches Leben schwanden vom ersten Augenblick als ich dort ankam. Nichts entsprach auch nur im Geringsten meinen Vorstellungen, und es kam, wie es kommen musste.

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