Government Tech: ein Anwender-Vertical mit hoher Komplexität

GovTech (Government Tech) löst zunehmend eGovernment als Leitbegriff bei der Digitalisierung von Staat und Verwaltung ab. Begrifflich reiht sich GovTech neben Industrie-Verticals wie FinTech oder HealthTech ein, unterscheidet sich aber stark in der Funktionsweise — und ist dennoch unersetzlich.

Manuel Kilian
GovMind
5 min readAug 23, 2020

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Bedeutung und Zweck von Industrie-Verticals

FinTech, InsurTech oder auch HealthTech — das sind allesamt feststehende Begriffe für sogenannte Industrie-Verticals. Ein Industrie-Vertical bietet eine inhaltliche Klammer für neue digitale Lösungen, die innerhalb einer Industriebranche Anwendung finden und oftmals auch ähnliche Geschäftsmodelle oder Technologien nutzen.

Die Begrifflichkeit Vertical erklärt sich dadurch, dass sich die neuen Lösungen entlang der gesamten (horizontal gedachten) Wertschöpfungskette einer Industrie oft auf ganz bestimmte Punkte konzentrieren und hier einschneidende (also vertikal gedachte) Veränderungen in der jeweiligen Industrie herbeiführen.

Es ist intuitiv verständlich, dass FinTech als Sammelbegriff für neue Anwendungen für die Finanzindustrie funktioniert, InsurTech auf die Versicherungswirtschaft und HealthTech auf die Gesundheitswirtschaft abzielt.

Industrie-Verticals schaffen somit zumindest etwas Ordnung und Orientierung in der ansonsten unüberschaubaren Gesamtheit neuer digitaler Lösungen. Dieses Ordnungsschema entlang von Industrie-Verticals ist für verschiedene Akteure wertvoll:

  • Startups können sich als Lösungsanbieter für ein Vertical positionieren und darüber leichter gefunden werden.
  • Unternehmen können im Gegenzug bestimmte Lösungen schneller und einfacher finden.
  • Investoren mit einem Branchenfokus in ihrer Investmentstrategie können leicht verständlich kommunizieren, in welche Geschäftsmodelle sie investieren (und in welche nicht).

GovTech: Weder Industrie noch wirklich Vertical

Die begriffliche Nähe von GovTech zu FinTech, InsurTech oder auch HealthTech suggeriert erst einmal, dass es sich bei GovTech ebenfalls um ein Industrie-Vertical handelt — aber GovTech fokussiert sich weder auf eine Industrie, noch ist eine Konzentration auf einen bestimmten (also vertikalen) Lösungspunkt beobachtbar.

Wir bei GovMind, ein Datendienst für die Katalogisierung digitaler Lösungen in der öffentlichen Verwaltung, nutzen dabei folgende, breit gefasste Definition für GovTech:

GovTech ist ein Sammelbegriff für alle digitale Lösungen im Kontext von öffentlichen Verwaltungen, öffentlichen Einrichtungen und öffentlichen Dienstleistungen.

Aus dieser Definition wird bereits ersichtlich, dass bei GovTech die Anwendbarkeit einer digitalen Lösung für öffentliche Akteure entscheidend ist — und nicht eine dahinterliegende Industriebranche. GovTech ist in diesem Sinne also ein Anwender-Vertical (alternativ Abnehmer-Vertical genannt), unter das alle digitalen Lösungen fallen, die bei öffentlichen Akteuren jedweder Art angewandt oder von diesen in Auftrag gegeben werden.

Auch die Idee eines Vertical ist auf GovTech nur in geringem Maße anwendbar, was deutlich wird, wenn man sich das Aufgabenspektrum öffentlicher Verwaltungen und die korrespondierende Vielfältigkeit digitaler Lösungen vor Augen führt. Die Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsmanagement (KGSt), ein Verband für kommunales Management, hat folgenden Gliederungsplan für den Aufbau öffentlicher Verwaltungen erarbeitet:

Die Aufgaben von Kommunen wurden hier zu Ämtern zusammengefasst und acht Dezernaten zugeordnet, die in Summe eine kommunale Gesamtverwaltung darstellen. Je nach Größe einer Gemeinde werden sich nicht alle der oben genannten Ämter wiederfinden, was aber nichts an der grundsätzlichen Feststellung ändert: Das Aufgabenspektrum öffentlicher Verwaltungen, angefangen auf kommunaler Ebene, ist breit und vielfältig — was wiederum mannigfaltige Möglichkeiten und Anwendbarkeit für digitale Lösungen bedeutet.

Unsere proprietäre GovMind-Datenbank, in der mehrere Tausende digitale Lösungen verzeichnet und entsprechend der Funktionsweise öffentlicher Verwaltungen geordnet sind, zeigt: GovTech-Lösungen sind in ihrer Anwendung so vielfältig wie die öffentliche Verwaltungen selbst und lassen keine Vertical-typische Konzentration auf einen oder ein paar wenige Lösungspunkte erkennen.

Wie unterschiedlich diese digitalen Lösungen sind, kann man mithilfe folgender drei GovTech-Startups verdeutlichen, die beispielhaft für die Komplexität und Vielfältigkeit des GovTech-Universums stehen:

Warum GovTech als Begriff unersetzlich ist

Wenn GovTech die inhaltliche Klammer einer Industrie fehlt und eine Vertical-typische Konzentration auf bestimmte Punkte innerhalb einer Industrie nicht erkennbar ist, brauchen wir den Begriff dann überhaupt?

Die Antwort kann nur ‘Ja’ lauten, denn digitale Lösungen für die öffentliche Verwaltung werden in den kommenden Jahren weiterhin stark an Bedeutung gewinnen. Das hat mindestens zwei gute Gründe:

  • Im Vergleich zu anderen Bereichen unseres Lebens hinkt die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung teilweise deutlich hinterher. Das Vertrauen und die Akzeptanz unserer Gesellschaft in den öffentlichen Sektor und unser politisches System im Allgemeinen hängt jedoch stark von einer modernen, effizienten und bürgernahen öffentlichen Verwaltung ab. Diese Einsicht ist bei allen relevanten Akteuren angekommen — und GovTech wird nicht mehr von der politischen Agenda verschwinden.
  • Der Markt für GovTech-Lösungen ist riesig. Laut einer Studie von 2018 der Strategieberatung Accenture und der GovTech Venture Firma PUBLIC ist der globale Markt für Technologien für öffentliche Verwaltungen 400 Mrd. US-Dollar groß, wobei der Anteil innovativer GovTech-Lösungen wächst: Ausgaben für GovTech in Europa allein stehen bei 25 Mrd. US-Dollar.

In Anbetracht dieser Bedeutung wäre es fahrlässig, die Daseinsberechtigung des Begriffs GovTech zu hinterfragen. Denn es braucht, genauso wie für andere Industrie-Verticals, einen Begriff, der Ordnung und Orientierung geben kann — für Startups mit neuen innovativen Lösungen, öffentliche Verwaltungen als Abnehmer dieser Lösungen und Wagniskapital-Investoren als Ideen-Finanzierer.

Dass das GovTech-Universum dabei komplex, intransparent und somit vergleichsweise unzugänglich ist, darf kein Grund sein, den Begriff zu hinterfragen. Vielmehr muss dies Anspruch sein, die Komplexität von GovTech zu entschlüsseln und digitale Lösungen im großen Maßstab für öffentliche Verwaltungen zugänglich zu machen. Wir bei GovMind wollen mit unserer datengetriebenen Entschlüsselung des GovTech-Universums einen Beitrag dazu leisten.

Wir freuen uns über Meinungen und Anregungen zu diesem Artikel, zum Beispiel über LinkedIn, über Twitter oder per Mail (contact@govmind.tech).

GovMind ist Anbieter eines Datendienstes, in dem systematisch Daten zu GovTech-Lösungen erfasst und geordnet werden. Unser Ziel ist es, GovTech für die öffentliche Verwaltung transparent und zugänglich zu machen.

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Manuel Kilian
GovMind
Editor for

Founder and CEO of www.govmind.tech — we bridge the gap between governments and innovation