GovTech im Einsatz: Eine Analyse vergebener öffentlicher Aufträge

Innovative Lösungen für Staat und Verwaltung (GovTech) gibt es viele. Aber kommen sie auch zum Einsatz? Um das besser nachzuvollziehen, haben wir systematisch Daten zu vergebenen öffentlichen Aufträgen ausgewertet. Unsere initialen Ergebnisse und Gedanken teilen wir hier.

Manuel Kilian
GovMind
6 min readMar 1, 2022

--

Das GovTech-Universum in Europa zählt über 1.700 innovative Startups und kleine und mittlere Unternehmen (Stand: Februar 2022). Es ist Kern unserer Arbeit bei GovMind, Neugründungen und Bewegungen in diesem Bereich zu beobachten, zu analysieren und in unseren umfassenden Datengrundlagen aufzubereiten. So haben wir seit unserer Unternehmensgründung viel Transparenz in die GovTech-Angebotsseite gebracht.

Hinter jedem dieser über 1.700 GovTech-Anbieter steht mindestens ein Produkt, das ein Problem im öffentlichen Sektor auf innovative Weise lösen kann. In aller Regel sind es mehrere Produkte, sodass wir nach Hochrechnung unserer Datengrundlagen von über 5.000 verfügbaren GovTech-Produkten in Europa ausgehen können.

Bislang ist völlig unklar, wo und wie oft diese Produkte zum Einsatz kommen. Kurzum: Die GovTech-Nachfrageseite ist ein großer blinder Fleck. Das ist ein riesiger Nachteil für GovTech in Europa.

  • Da niemand verlässlich sagen kann, in welchem Teilbereich des GovTech-Universums und in welchem Verwaltungsumfeld innovative Lösungen zum Einsatz kommen, kann kein Fokus auf diejenige Bereiche gesetzt werden, in denen das reale Potenzial aktuell am größten ist.
  • Ein Austausch zwischen AkteurInnen, die GovTech-Lösungen bereits nutzen und denen, die zwar über eine Nutzung nachdenken, dazu aber Erfahrungsberichte bräuchten, findet zu selten statt. Dadurch werden gewinnbringende Einsatzchancen für GovTech nicht erkannt und kommen nicht zustande.

Mehr Transparenz auf der GovTech-Nachfrageseite: Die Auswertung öffentlicher Ausschreibungen und vergebener Aufträge

Wie also umgehen mit dieser mangelnden Transparenz auf der Nachfrageseite von GovTech-Lösungen? Einer der Lösungsansätze, mit dem wir bei GovMind arbeiten, ist die systematische Auswertung von öffentlichen Ausschreibungen und Aufträgen, die auf dieser Grundlage vergeben werden.

Denn öffentliche Einrichtungen können — von einigen wenigen Ausnahmen und einem geringen Auftragsvolumen abgesehen — nicht einfach Aufträge vergeben, sondern müssen diese öffentlich ausschreiben, sodass jeder Anbieter die Chance hat, sich darauf zu bewerben. Auch Informationen zur Vergabe von Aufträgen, basierend auf den Ausschreibungen, sind mitunter veröffentlichungspflichtig oder werden proaktiv veröffentlicht. In dieser Veröffentlichung sind Informationen enthalten zum Auftraggeber, Auftragsgegenstand, Vergabeverfahren, Umfang und Art der Leistung und auch: zum Namen des beauftragten Unternehmens.

Und eben diese Informationen zum Unternehmen, das eine Ausschreibung gewonnen hat, sind enorm wichtig, um die Transparenz auf der Nachfrageseite zu erhöhen. Durch einen Abgleich der Unternehmensnamen mit den 1.700 GovTech-Anbietern aus der GovMind-Datengrundlage können wir so mit Gewissheit sagen, ob in Folge einer Ausschreibung eine GovTech-Lösung zum Einsatz gekommen ist oder nicht.

Würde also eine Auswertung sämtlicher Informationen zu vergebenen öffentlichen Aufträgen die vollständige Transparenz über die Nachfrage von GovTech-Lösungen ermöglichen?

Für eine vollständige Transparenz wird es nicht reichen, da nicht alle vergebenen Aufträge veröffentlicht werden. Im Vergleich zur aktuellen Intransparenz bedeutet es jedoch ein Unterschied wie Tag und Nacht.

Eine praktische Herausforderung bei dieser Übung ist zudem, dass es nicht das eine Ausschreibungsportal gibt, sondern eine Vielzahl von Portalen. Und hier werden Informationen in unterschiedlichem Umfang und Format publiziert werden. Eine gute Übersicht zu den verschiedenen Portalen findet man hier. Gibt es einen praktischen Vorteil für diesen Flickenteppich an Portalen? Zumindest für die hier vorliegende Übung fällt mir keiner ein.

Eine systematische Auswertung der Tenders Electronic Daily Datenbank: ‘Follow the Money (for GovTech) ‘

Tenders Electronic Daily (TED) ist ein EU-weites Portal für Ausschreibungen und vergebene Verträge. Für unsere Transparenz-Übung ist die Datenbank ein guter Startpunkt, denn die Informationen pro vergebenem Auftrag sind öffentlich und leicht zugänglich, umfassend und in identischem Format aufgebaut — auch wenn nur ein Teil aller Ausschreibungen dort veröffentlicht wird.

Für unsere Auswertung haben wir folgenden Ausschnitt der TED-Datenbank genutzt:

  • Erfüllungsort: Deutschland
  • Typ der Bekanntmachung: vergebene Verträge
  • Veröffentlichungsdatum: zwischen 01.01.2014 und 31.12.2021
  • Wirtschaftszweig: Software*

*für ExpertInnen: Das entspricht den CPV-Codes 48000000 und 72000000. Von dem Fokus auf Software versprechen wir uns, viele GovTech-irrelevante Verträge, zum Beispiel im Baubereich, ausschließen zu können.

Das Ergebnis unserer Suche: Basierend auf dem oben genannten Teilausschnitt findet man in der TED-Datenbank 15.029 vergebene Aufträge. Die Aufträge verteilen sich etwas ungleich über die Jahre hinweg und nehmen ab 2016 immer weiter zu:

Mit Blick auf das Auftragsvolumen wird ersichtlich, dass nicht nur Aufträge über dem für europaweite Ausschreibungen wichtigen Schwellenwert von 214.000 Euro im Datenset enthalten sind. Im Gegenteil, es finden sich auch zahlreiche Aufträge mit geringerem Volumen:

Im nächsten Schritt haben wir die Namen der Unternehmen, die die Verträge gewonnen haben, extrahiert. Die meisten Verträge haben übrigens Fujitsu Technology Solutions, Bechtle, T-Systems International, Computacenter und COMPAREX gewonnen. Gemeinsam konnten diese fünf Unternehmen 1.662 Ausschreibungen für sich entscheiden.

Wie aber steht es um den Einsatz von GovTech-Lösungen? Hier zeigt der Abgleich der 15.029 Auftragsgewinner mit unseren Datengrundlagen der GovTech-Anbieter:

Von den rund 15.000 zwischen 2014 und 2021 vergebenen Aufträgen im Wirtschaftszweig Software haben GovTech-Anbieter nur 165 Aufträge gewonnen. Das entspricht einem Anteil von nur einem Prozent.

Keine Frage: Dieses Ergebnis ist enttäuschend. Es zeigt, wie wenig öffentliche Ausschreibungen in Deutschland auf innovative GovTech-Lösungen ausgerichtet sind (das bestätigt auch folgende EU-Studie zum Thema Innovation Procurement). Jahr für Jahr verpasst es der öffentliche Sektor so, die eigene digitale Transformation zu vollziehen, weil innovative Lösungen schlichtweg nicht zum Einsatz kommen (Stichwort: Faxgeräte für die Kommunikation zwischen Gesundheitsämtern).

Haben GovTech-Anbieter in den letzten acht Jahren wirklich nur 165 Ausschreibungen gewonnen? Die Antwort lautet ‘Nein’, denn:

  • Die TED-Datenbank zeigt nur einen Ausschnitt aus der Welt öffentlicher Ausschreibungen. In Deutschland werden ungefähr eine Million öffentliche Aufträge pro Jahr vergeben. Das vorliegende TED-Datenset umfasst annualisiert aber nur 1.875 Verträge.
  • In der TED-Datenbanken wird nur ein Auftraggeber genannt. Wenn aber ein GovTech-Anbieter als Zulieferer oder Partner eines Konsortiums auftritt, das vom Auftraggeber geführt wird, dann wird er nicht auftauchen — obwohl indirekt eine GovTech-Lösung in den Einsatz kommt.

Eine kleine Einordnung der Ergebnisse: Auf Basis unserer GovMind-Datengrundlagen haben wir ausschnittsweise und händisch Kooperationen zwischen öffentlichen Einrichtungen und GovTech-Anbieter recherchiert. Pro 100 europäischer GovTech-Anbieter kommen wir dabei auf ca. 80 deutsche Referenzen. Hochgerechnet auf die Gesamtheit der GovTech-Anbieter in Europa würden wir damit bei 1.360 vergebenen Aufträgen an GovTech-Anbieter landen, allerdings ohne den genauen Referenzzeitraum 2014–21 zu beachten. Dies ist im Vergleich zur TED-Auswertung eine deutlich höhere Anzahl an gewonnen Aufträgen, bedeutet aber immer noch einen verschwindend geringen Anteil an allen Ausschreibungen.

Wie bewerten wir bei GovMind die Ergebnisse der TED-Datenbank-Recherche?

Das Wichtigste zuerst: Die Recherche hat gezeigt, dass die systematische Auswertung von Informationen auf Ausschreibungsportalen ein Weg ist, um den Einsatz von GovTech nachzuvollziehen.

In unserem Falle wird so zum Beispiel ersichtlich, dass der Kreis Soest mit dem GovTech-Unternehmen EasyMile mit Hauptsitz in Toulouse und Niederlassung in Berlin zusammenarbeitet, das autonome Transportlösungen für den Personen- und Güterverkehr auf die Straße bringt (siehe TED-Bekanntmachung). Oder dass die Westfälische Wilhelms-Universität Münster eine “Speichersoftware zum Aufbau eines hochschulübergreifenden on-premise Cloud-Speicherdienstes” nutzt (siehe TED-Bekanntmachung), die vom GovTech-Anbieter OwnCloud aus Nürnberg bereitgestellt wird.

Diese zwei Beispiele stehen stellvertretend für all die öffentlichen Einrichtungen, die sich mit ihren Ausschreibungen für neue, innovative Wege entscheiden. Und von eben diesen Beispielen können und müssen andere Verwaltungseinrichtungen lernen.

Bekanntmachungen über vergebene Verträge führen zu den dazugehörigen Ausschreibungen. Diese wiederum beinhalten ein Leistungsverzeichnis, das die zu erbringende Leistung einer Ausschreibung detailliert. In anderen Worten ist dies ein vorgezeichneter Weg zum Einsatz einer innovativen Lösung. Und wenn ein öffentlicher Akteur diesen Weg beschritten hat, kann er für alle 30.000 Einrichtungen in Deutschland, die öffentliche Verträge vergeben, zur Inspirationsquelle werden. Das spart enorm viel Zeit und Ressourcen und trägt entscheidend zu einer innovationsfreundlicheren Beschaffung bei — wovon neben Lösungsanbietern in allererster Linie Staat und Verwaltung selbst profitieren.

Wir bei GovMind werden zukünftig mittels der Analyse von Vergabeinformationen und anderer methodischer Ansätze die GovTech-Nachfrageseite weiter entschlüsseln. Mit den Ergebnissen wollen wir einen Beitrag dazu leisten, dass öffentliche Verwaltungen in Deutschland und Europa mithilfe innovativer Lösungen ihre Herausforderungen effizienter, effektiver und bürgernäher zu lösen.

Wir freuen uns über Meinungen und Anregungen zu diesem Artikel, zum Beispiel per Mail (manuel.kilian@govmind.tech) und über LinkedIn oder Twitter.

GovMind ist ein junges Technologieunternehmen, das systematisch Informationen zu GovTech-Lösungen erfasst, analysiert und interpretiert. Unser Ziel ist es, GovTech für die öffentliche Verwaltung zugänglich und nutzbar zu machen.

--

--

Manuel Kilian
GovMind
Editor for

Founder and CEO of www.govmind.tech — we bridge the gap between governments and innovation