Procurement for Good: Wie die öffentliche Beschaffung den GovTech-Standort Europa stärken kann

Pro Jahr kaufen die EU-Mitgliedstaaten Dienstleistungen und Produkte mit einem Gegenwert von 2 Billionen Euro ein. Zugleich muss Europa seine Position als Technologie-Standort stärken. Es liegt auf der Hand, beides besser miteinander zu verbinden. Mit dem im Privatsektor erprobten Venture Client Modell gibt es ein passendes Vorbild dafür.

Manuel Kilian
GovMind
7 min readJan 27, 2021

--

Europa als Technologie-Standort stärken — mithilfe von GovTech

Die Geschichte, dass Europa zumindest bei innovativen Business2Consumer-Geschäftsmodellen den Anschluss verloren hat, ist hinreichend erzählt: Die relevanten Tech-Unternehmen und schnell gewachsenen Startups kommen fast ausschließlich entweder aus den USA oder aus China.

Die Hoffnung, Europa als Standort für Innovationen und Technologie zu stärken, ruht daher vor allem auf Business2Business-Geschäftsmodellen der Zukunft. Die Ausgangslage für europäische Volkswirtschaften, die noch immer einen starken industriellen Kern haben, ist hier besser als im Consumer-Bereich, wo die USA strukturell besser aufgestellt sind.

Aus dieser Ausgangslage ergibt sich aber keinerlei Automatismus, dass sich europäische Unternehmen bei der Digitalisierung der Business2Business-Welt durchsetzen werden. Der Forscher Erik Brattberg bringt es in einer Studie für den Carnegie Endowment for International Peace wie folgt auf den Punkt:

As the pace of AI innovation and development picks up — underpinned by advancements in big data and high-performance computing — the United States and China are both in the driver’s seat. Europe, meanwhile, despite having certain advantages such as a strong industrial base and leading AI research and talent, is punching far below its weight. This state of affairs is especially due to the fragmentation of the EU’s digital market, difficulties in attracting human capital and external investment, and the lack of commercial competitiveness.

Die EU als Ganzes und jeder EU-Mitgliedstaat im Einzelnen müssen sich noch drängender die Frage stellen, wie sie einen besseren Rahmen für den Technologie-Standort Europa schaffen können. Die Antworten darauf dürfen dabei nicht beim Einsatz klassischer Instrumente, wie zum Beispiel öffentliche Investitionen in Grundlagenforschung, enden.

Ein Instrument, das zur Verfügung stünde, aber aktuell viel zu wenig genutzt wird, ist die öffentliche Beschaffung (‘Public Procurement’). Jedes Jahr geben über 250.000 öffentliche Einrichtungen in der EU rund 2 Billionen Euro für den Einkauf von Dienstleistungen und Produkten aus. Das entspricht 14 Prozent des EU-Bruttoinlandsprodukts.

Hierdurch entsteht ein quasi eigener Markt für Business2Government-Geschäftsmodelle, die wiederum viele Überschneidungen mit Business2Business- und Business2Consumer-Anwendungen haben. Und hinter diesem Markt für Business2Government-Lösungen steht ein sehr diverses GovernmentTech-Universum mit deutlich über 1.000 europäischen Startups mit marktfähigen, digitalen und Technologie-basierten Dienstleistungen und Produkten für die öffentliche Verwaltung.

(N.B.: Wie GovTech, kurz für GovernmentTech, funktioniert und wie der Begriff sinnvoll genutzt werden kann, haben wir vor einiger Zeit in diesem Artikel besprochen.)

Die Frage liegt auf der Hand, warum Staaten ihren direkten Einfluss, den sie qua der Vergabe von Aufträgen auf den Business2Government-Markt haben, nicht strategischer nutzen, um ganz bewusst digitale Lösungen aus dem GovTech-Universum zu fördern — und damit auch Europa als Technologie-Standort nachhaltig stärken.

‘Procurement for Good’: GovTech fördern und vielfach profitieren

Wenn öffentliche Akteure über die Förderung von GovTech-Startups nachdenken, stehen oft folgende Instrumente im Vordergrund, die allerdings Schwierigkeiten mit sich bringen:

  • Staatliche (Direkt-)Investments in Startups
    Wagniskapital, also Investitionen in Startups, bildet zurecht eine ganz eigene Asset-Klasse. Entscheidend für erfolgreiche Investitionen ist ein sehr gutes Netzwerk, die genaue Kenntnis digitaler Geschäftsmodelle und eine realistische Sicht auf die hohen Ausfallraten der getätigten Investments. Wagniskapital-Fonds bringen die Erfahrung und Expertise mit, um in dieser Asset-Klasse erfolgreich zu sein; der Staat tut dies nicht. Zudem gerät der neutrale Blick auf das GovTech-Universum in Gefahr, wenn sich öffentliche Akteure an einigen GovTech-Startups beteiligen, an vielen anderen (die unter Umständen aber erfolgreicher sein werden) nicht.
  • Inkubation von Ideen (und möglichen Startups)
    Öffentliche Verwaltungen können die Entwicklung innovativer Ideen auf verschiedene Weise fördern, zum Beispiel durch Gründerzentren oder Innovationswettbewerbe. Diese Förderung zielt auf das frühe Stadium von Ideen ab (daher der Name Inkubation), aus denen mitunter marktreife digitale Lösungen entstehen können. Bis das absehbar ist, vergeht aber viel wertvolle Zeit, denn die Entwicklung einer Idee in eine prototypische Lösung ist selten in unter 18 Monaten realisierbar.
  • Zuschüsse und andere nicht rückzahlbare Fördermittel
    Alleine in Deutschland gibt es rund 8.000 Fördermittel — warum also nicht auch speziell GovTech-Startups fördern? Zuschüsse können ohne Frage einen wichtigen Impuls für die Tragfähigkeit eines Startups geben, aber sie schaffen keine langfristige Perspektive. Denn, im Gegensatz zu Umsatz durch eigene Aktivitäten, sagen Zuschüsse mehr über die Förderfähigkeit auf dem Papier aus als über die Etablierung eines Geschäftsmodells im Markt. Und nur wenn die gegeben ist, kann ein Startup langfristig erfolgreich sein.

Eine strategische Fokussierung der öffentlichen Beschaffung auf GovTech, um so den Business2Government-Markt und damit Europa als Technologie-Standort direkt zu stärken, hätte dabei folgende fünf Vorteile:

📊 Größenordnung: Würde man nur 5 Prozent des jährlichen Beschaffungsvolumens für GovTech-Lösungen nutzen (und das ist wenig ambitioniert), stünden somit 10 Mrd. Euro bereit — und das Jahr für Jahr.

💶 Verfügbarkeit: Die Mittel für Einkauf von Produkten und Dienstleistungen stehen bereit. Es ist also nicht eine Frage, ob sie genutzt werden können, sondern wie sie optimal eingesetzt werden.

💥 Wirksamkeit: Wenn öffentliche Einrichtungen GovTech-Lösungen einkaufen, erhalten sie dafür eine konkrete Gegenleistung. Jeder Euro für GovTech zahlt ein auf die Modernisierung und Digitalisierung von Staat und Verwaltung.

📈 Wirtschaftliche Effekte: Aufträge führen bei Startups zu Umsätzen und Gewinnen, die entweder reinvestiert oder auf die Steuern gezahlt werden. Hiervon profitieren Staaten. Und Startups schaffen Beschäftigung: Trotz Corona wollen in Deutschland dieses Jahr 90 Prozent der Startup im Schnitt 6,3 neue MitarbeiterInnen einstellen (Deutscher Startup Monitor).

🔎 Sorgfaltspflicht: Ausschreibungs- und Beschaffungsprozesse sind darauf ausgelegt, das beste Angebot im Hinblick auf Qualität und Preis zu finden. Die Prozesse können aufwendig und zeitintensiv sein, aber sie stellen auch sicher: Am Ende setzt sich die GovTech-Lösung durch, die in Verwaltungen realisierbar ist und dort den größten Mehrwert schafft.

Eine stärker auf GovTech fokussierte öffentliche Beschaffung ermöglicht also eine positive Wechselwirkung zwischen Verwaltungen und Startups und bringt viele Folgeeffekte für den Technologie-Standort Europa mit sich. Wie eine Zusammenarbeit in der Praxis aussieht (und noch viel häufiger stattfinden könnte), zeigen die folgenden Beispiele:

Das französische Startup Element baut Kommunikationsdienste für Kunden mit hohen Sicherheitsanforderungen, wie zum Beispiel den BwMessenger für die Bundeswehr.

Nutzen für 🇪🇺: Mit Element gibt es einen europäischen Anbieter für eine Matrix-basierte Kommunikationslösung mit Ende-zu-Ende-Verschlüsselung. Das ist ein wichtiger Baustein für die digitale Souveränität Europas.

Vialytics aus Stuttgart bietet eine intelligente System-Lösung zum Management von Straßenerhaltung in Kommunen an. Anwender ist unter anderem die Stadt Gerlingen.

Nutzen für 🇪🇺: Vialytics leistet mit seiner auf Künstlichen Intelligenz (KI) basierten Lösung einen Beitrag, KI-Talente und konkretes Anwenderwissen in Europa aufzubauen.

Das Startup Nect aus Hamburg bietet eine App-basierte Lösung an, mit der sich Personen unkompliziert online identifizieren können. Seit letztem Jahr bietet die Bundesagentur für Arbeit diese Lösung als Alternative zu einer persönlichen Meldung in einer Arbeitsagentur an.

Nutzen für 🇪🇺: Nects sichere und einfache Lösung für die Online-Identifikation kann einen entscheidenden Impuls für die Digitalisierung von Bürgerdiensten sein, die bislang eine persönliche Meldung erfordern. Die Zeit und Ressourcen-Ersparnis bei Bürgern und Verwaltungen wäre enorm.

Eine große Herausforderung für öffentliche Verwaltungen beim Einsatz von GovTech ist allerdings, einen passenden Lösungsanbieter zu finden. Denn das GovTech-Universum ist komplex und wenig transparent: Oftmals ist es nicht ersichtlich, welche Lösungen existieren, wer sie anbietet und wo sie bereits im Einsatz sind.

(Eine gute Nachricht: Wir bei GovMind erfassen systematisch die digitalen Lösungen aller GovTech-Startups in Europa. Über den GovMind Datendienst sind über 1.200 Lösungen sofort abrufbar und der direkte Nutzen für Verwaltungen wird deutlich — egal ob auf europäischer, Bundes- oder kommunaler Ebene.)

Das Venture Client Modell als Vorbild für erfolgreiches ‘Procurement for Good’

Ähnlich wie öffentliche Verwaltungen stellen sich auch Unternehmen die Frage, wie eine gewinnbringende Zusammenarbeit mit Startups aussehen kann. In den letzten Jahren hat sich dabei ein neuer Modus Vivendi entwickelt, das sogenannte Venture Client Modell. Das Unternehmen wird hier Kunde (i.e. Client) eines Startups (i.e. Venture).

BMW hat das Venture Client Modell im Jahr 2015 mit der Startup Garage etabliert; viele andere europäische Konzerne aus verschiedenen Branchen haben es seitdem übernommen und weiterentwickelt, darunter Bosch, LafargeHolcim, Signal Iduna, ENEL oder auch Telefónica.

Die Idee des Modells ist, dass in einer Kunden-Lieferantenbeziehung die Startup-Lösung in einer realen Geschäftsumgebung Anwendung findet. Das stärkt die Verbindlichkeit der Zusammenarbeit auf beiden Seiten. Durch die Form der Zusammenarbeit können Startups besser verstehen, in welchem Kontext aus Prozessen, Technologien, Geschäftsmodellen und auch Kultur ihre Lösung funktionieren muss. Prototypische Lösungen können so schneller und zielführender angepasst werden. Unternehmen erhalten im Gegenzug wichtige Erkenntnisse über die Anwendbarkeit von Startup-Innovationen.

Auf einer operativen Ebene ermöglicht das Venture Client Modell schnelleren Zugang zu Bestellungen und Lieferantennummern, (mitunter) schlankere Compliance-Anforderungen und Wissenstransfer zu Qualitäts-, Einkaufs- und Entwicklungsprozessen. Das sind für Startups entscheidende Bausteine, um reale Umsätze bei Kunden zu erzielen, die andere Instrumente wie Investments, Inkubationen oder Fördermittel nicht vermitteln können.

Die Erprobung des Venture Client Modells in großen Unternehmen macht Mut, dass es auch in der öffentlichen Verwaltung gut funktionieren kann. Denn ähnlich wie Verwaltungen sind auch diese Unternehmen komplizierte Entitäten mit aufwendigen Prozessen, Bürokratie und (zumindest manchmal) langsamen Entscheidungen.

Was das Venture Client Modell im Kontext von Unternehmen leisten kann, ist für öffentliche Einrichtungen deswegen ebenso denkbar. Und vielleicht ist das Potenzial hier sogar noch größer, wenn das Modell Startpunkt wird, um den öffentlichen Beschaffungsprozess zu modernisieren — und zum Beispiel den Einkauf digitaler Lösungen für eine Vielzahl öffentlicher Akteure auf einer Art Plattform ermöglicht. Es könnte einen entscheidenen Beitrag leisten für den Technologie-Standort Europa.

Wir freuen uns über Meinungen und Anregungen zu diesem Artikel, zum Beispiel per Mail (manuel.kilian@govmind.tech) und über LinkedIn oder Twitter.

GovMind ist Anbieter eines Datendienstes, in dem systematisch Daten zu GovTech-Lösungen erfasst und geordnet werden. Unser Ziel ist es, GovTech für die öffentliche Verwaltung zugänglich und nutzbar zu machen.

--

--

Manuel Kilian
GovMind

Founder and CEO of www.govmind.tech — we bridge the gap between governments and innovation