Rentenversicherungspflicht für Selbstständige: oder die ewige Ideenlosigkeit in Zeiten des Wandels

Catharina Bruns
Happy New Monday
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8 min readApr 15, 2019

Nun soll es also endlich geschehen, im GroKo-Koalitionsvertrag ist es ohnehin schon abgemachte Sache: Bis Ende des Jahres soll ein entsprechender Entwurf für die Altersvorsorgepflicht da sein. Was gut gemeint und auch wichtig ist, nämlich ein inklusives Vorsorgeangebot für alle zu schaffen, könnte bei schlechter Ausgestaltung zu einem bloßen Versicherungszwang in der gesetzlichen Rentenversicherung geraten. Es sollte niemanden wundern, wenn viele Selbstständige sich dafür nicht begeistern können.

Was tut man, wenn man Zukunft nicht versteht? Richtig, man hält sich an der Vergangenheit fest. Nicht zum ersten Mal kommt aus dem Arbeitsministerium die Ansage, Selbstständige seien in die Gemeinschaft der gesetzlichen Rentenversicherung aufzunehmen. Auf deutsch: Die Versicherungspflicht soll auch für alle Selbstständigen gelten. Was 2012 schon von der damals zuständigen Ministerin von der Leyen (CDU) ins Gespräch gebracht wurde, konnte mittels Petition abgeschmettert werden. Der Wunsch, Selbstständige in die gesetzliche Rentenversicherung zu integrieren, blieb aber auch unter Nachfolgerin Andrea Nahles (SPD) bestehen. Und auch ihr Ablöser* und aktuell Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD), hält es für eine gute Idee, alle Selbstständigen im gesetzlichen System zu verpflichten. Damit teilt er nicht nur das Parteibuch mit Frau Nahles, sondern auch das fehlende Verständnis von selbstständiger Arbeit, jenseits des Industriezeitalters.

Der Fortschritt von gestern, wird uns als Zukunft verkauft. Wer auf frische Ideen für eine neue Zeit hofft, kann trotz Werkstattgesprächen, Arbeiten 4.0-Kampagnen und Zukunftslaboren lange warten. Neu soll nun erstmal die so genannte „Grundrente“ sein. Die garantiert, dass auch alle, die nach 35 Beitragsjahren nicht genügend einzahlen konnten, eine garantierte „Respektrente“ von mindestens 10 Prozent über dem Grundsicherungsniveau erhalten. Und da Heils geplante Grundrente kurzfristig finanziert werden muss, soll das eine „gesamtgesellschaftliche Aufgabe“ sein, also aus Steuergeldern bezahlt und zulasten künftiger Generationen. Interessanterweise so, als seien Renten eine Sozialleistung und nicht etwa erworben. Zweites Heilsverspechen zum Thema Rente: Jene Gruppe in den Kreis der Beitragszahler einziehen, die am einfachsten zu verargumentieren ist: Selbstständige.

Die Debatte wird aber nicht ehrlich geführt, ein Ärgernis für alle Selbstständigen und zwar ausgerechnet für die unter ihnen, die kaum eine Lobby haben.

Es ist nicht die anvisierte Verpflichtung zur Vorsorge, die Selbstständige aufbringt, sondern die Frechheit, mit der hier zugunsten der gesetzlichen Rentenversicherung Politik gemacht wird.

Wen betrifft es denn überhaupt?

Zur Selbstständigkeit gehört die freie Wahl. Dies gilt für die Krankenversicherung, wie auch für die Altersvorsorge. Zwar sind bereits einige Selbstständige und vor allem Freiberufler obligatorisch in der Rentenversicherung, bzw. berufsständisch über ein Versorgungswerk abgesichert (43% sind laut DIW bereits gesetzlich versichert), der Großteil aller anderen sorgt jedoch selbstverständlich auch ohne Bevormundung für das Alter vor. Zum Beispiel mit Immobilien, Aktienfonds, über Kapitalbildung und anderweitig privat.

Also nicht so, wie sich der Herr Minister es sich vorstellt oder gerade gebrauchen könnte.

Besonders irritierend: Was bei Heils zukünftigen Grundrentnern eine Frage des „Respekts“ sein soll, wird bei Selbstständigen unter unsozialem Verhalten verbucht. Für sie gilt schon seit Andrea Nahles die Argumentation: Ihr habt nicht eingezahlt? Ihr liegt später der Allgemeinheit auf der Tasche!

Die Behauptung, Selbstständige würden massenweise und ohne Rücksicht auf Verluste an der eigenen Vorsorge sparen und im Alter dann womöglich auf Kosten der Steuerzahler leben, ist in Anbetracht der Fakten ungeheuerlich. Oft waren Selbstständige zeitweise Beitragszahler, denn sie waren meist irgendwann mal angestellt. Kein Sozialdemokrat würde auf die Idee kommen, Geringverdienenden vorzuwerfen, dass sie sich im Hinblick auf die magere Rente mal zu etwas mehr Gehalt hätten anstrengen sollen. Kein Politiker, kein Gewerkschaftler, kein Sozialverbands-Funktionär, der bei Trost ist, würde Rentner, die ein arbeitsreiches Leben hinter sich haben attackieren, wenn sie trotzdem die Grundsicherung in Anspruch nehmen müssen.

Genauso polemisch könnte man sagen, es sind doch etwa zwei Millionen Beamte und Abgeordnete, die nicht einbezahlen, aber garantierte Pensionen vom Steuerzahler erhalten. Warum werden gut bezahlte Beamte, wenn es ans Eingemachte geht, stets still und heimlich vergessen? Traut man sich hier nicht oder haben sie als Klientel einen anderen Stellenwert?

Bei Selbstständigen ist man nicht so zimperlich. Selbstständige, die oft ein ganzes Arbeitsleben engagiert, weniger krank und selbst bei geringem Verdienst unverhältnismäßig hohen Abgaben und Belastungen ausgesetzt sind. Die vielleicht einen kleines Geschäft führen und damit die Nachbarschaft bereichern und über Jahrzehnte alles in den Erhalt stecken, aber üblicherweise ihr Wohneigentum und Gespartes als Vorsorge betrachten. Ihnen wird unterstellt, sie seien ein latentes Problem, das die Allgemeinheit belasten könnte? Selbstständige als gesellschaftliche Problemgruppe? Das ist schon einigermaßen schräg.

Und wie viele sind es nun?

Schräg ist auch, dass um die Rentenversicherungspflicht durchzusetzen, einfach mit falschen Zahlen argumentiert wird: Es sind nicht wie von Heil und zuvor Nahles geäußert, etwa drei Millionen Selbstständige, die gar nicht für das Alter abgesichert sind. Sondern besagte Selbstständige zahlen bisher nicht in die gesetzliche Rentenversicherung ein. Das ist ein großer Unterschied! Eine Studie des DIW Berlin nennt eine Zahl von 700.000 Selbstständigen, die tatsächlich weder in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen, noch ein Vermögen über 100.000 Euro besitzen oder anderweitig privat vorsorgen. Das sind laut DIW lediglich 12% der Selbstständigen insgesamt.

Und auch nicht alle sogenannten „Solo-Selbstständigen“ sind schlecht bezahlt, oder unzureichend abgesichert, wie eine Studie zu IT-Freelancern belegt. Es gibt Spitzenverdiener auf der einen Seite und andere, die nicht mal den Mindestlohn erwirtschaften. Die wirklich Geringverdienenden unter den Selbstständigen haben kein Geld übrig um vorzusorgen, aber auch kaum Anreize. Dies ist hauptsächlich dann ein Problem, wenn sie tatsächlich hauptberuflich selbstständig sind und auch nicht familiär oder partnerschaftlich versorgt. Denn geringes Einkommen, heißt nicht automatisch prekäre Lebensverhältnisse, wie eine Erhebung der ZEW deutlich macht. Tatsächlich seien die, die am wenigsten verdienen, oft nur nebenbei selbstständig.

Und nun?

Die gesetzliche Rentenversicherung ist unbestritten eine wichtige Säule der Alterssicherung. Auch für Selbstständige kann sie sich derzeit lohnen. Wer einzahlt, erwirbt auch Ansprüche. Wer also glaubt es würde das gute alte System sanieren, der irrt. Eine Vorsorgepflicht dürfte aber, so wie auch der VGSD e.V. es fordert, nur bei Neugründungen greifen. Wie soll man es aktuell Selbstständigen plausibel erklären, dass sie leider jahrelang „falsch“ vorgesorgt haben?

Die Ablehnung einer starren Rentenversicherungspflicht ist für aktuell Selbstständige aus vielerlei Gründen plausibel:

  • Es ist unfair. Selbstständige, die über Jahre privat vorgesorgt haben und auch langfristige Verbindlichkeiten eingegangen sind, können ihre private Vorsorge womöglich nicht weiterführen, wenn sie zusätzlich in die Rentenversicherung einzahlen müssen, um dort auch nennenswerte Beträge anzusparen. Ein Zwang ohne Nutzen ist nicht hinnehmbar.
  • Die Ungleichbehandlung von Angestellten und Selbstständigen in der Verbeitragung von Einkommen in der Krankenkasse führt dazu, dass übliche Vorsorgemaßnahmen Selbstständiger zu höheren Krankenkassenbeiträgen führen (weil etwa Mieteinkünfte, Aktien, etc. als Einkommen gezählt werden). Dabei können Aktien mit langfristigen Anlagezeiten gerade für alle, die mit wenig Geld Vorsorge betreiben möchten, eine langfristig lukrative Anlagestrategie sein. Selbstständige werden aber dort für ihre Vorsorge mit höheren Beiträgen bestraft, während bei Angestellten nur das Arbeitseinkommen zur Beitragsbemessung herangezogen wird.
  • Selbstständige tragen immer Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteil selbst. Hier kann man argumentieren, dass dies auch alle Angestellten tun, da es im Lohn bereits einkalkuliert ist. Trotzdem ist das mit schwankenden Einkünften in der Selbstständigkeit nicht so ohne Weiteres vergleichbar.
  • Besonders am Anfang der Selbstständigkeit fehlt oft das Geld für die Vorsorge. Ein Rentenbeitrag ist nicht der einzige Pflichtbeitrag, den Selbstständige entrichten müssen. Neben Ungerechtigkeiten bei der gesetzlichen Krankenkasse, steigenden Beiträgen auch bei privaten Kassen, möglicherweise obligatorischen Genossenschaftsmitgliedschaften, betrieblichen Versicherungen oder der IHK-Pflichtmitgliedschaft bei Gewerbetreibenden, gilt es etliche Belastungen zu stemmen. Wer sich über den bald endlich reduzierten Mindestbeitrag in der gesetzlichen Krankenkasse gefreut hatte, wird dieses Geld in die gesetzliche Rente stecken müssen. Eine Entlastung wäre nicht spürbar.
  • Wenn — wie bisher anzunehmen — nur die Rürup-Rente als „Opt-out“ anerkannt wird, ist die von Heil vorgeschlagene Einbeziehung eine klare Maßnahme zugunsten der Rentenversicherung. Denn besonders viele Ausweichmöglichkeiten haben Selbstständige bei den Vorgaben im Koalitionsvertrag nicht. Je nachdem wie der Gesetzesentwurf nun ausgestaltet wird, bleiben praktisch nur die unkündbare Rürup-Rente oder die Rentenversicherung. Denn gäbe es ein Versorgungswerk, wären sie ja schon drin. Vielleicht möchte der Arbeitsminister bestehende Versorgungswerke auch öffnen, oder gar neue entwerfen? Davon ist bisher allerdings nicht konkret die Rede.
  • Wie der VGSD e.V. zu beachten gibt, hätten viele Selbstständige von der geplanten Grundrente nichts, da die geforderten 35 Beitragsjahre von vielen nicht angesammelt worden sein können. Soviel zum Thema Respekt.

Der fürsorgliche Staat und die ungeliebte Selbstständigkeit

Warum muss man Selbstständige überhaupt zwingen, in das Rentensystem einzuzahlen, wenn es doch eigentlich das Beste für alle ist? Die Rentenversicherung ist nicht nur insolvenzsicher, sondern immerhin eine sozialstaatliche Institution. Das Problem ist, dass sie angepasst ist an die „Normalarbeit“ und für den selbstständigen Arbeitsalltag zu unflexibel. Man kann im Notfall weder auf das Geld zugreifen, noch die Zahlung für eine Zeit aussetzen. Liquidität ist aber ein wichtiges Thema im unternehmerischen Alltag. Selbstständige erhalten schließlich keinen festen Bruttolohn, den sie jeden Monat ausgeben können, sondern müssen auch bei schwankenden Einkommen eigenverantwortlich wirtschaften und Steuerabzüge, Sozialabgaben, betriebliche Versicherungen und Pflichtbeiträge leisten und zudem Investitionen tätigen können.

Der wieder aufgewärmte Vorstoß ist nicht nur unausgereift, sondern könnte sich auch noch negativ auf das ohnehin schon schlechte Gründungsklima auswirken.

Was ist denn aus der im Koalitionsvertrag versprochenen „gründerfreundlich ausgestalteten Altersvorsorgepflicht für alle Selbstständigen“ geworden? Die ganze Idee ist bisher ein aktives Selbstständigkeits-Verhinderungskonzept. Und das in einer Zeit, in der sich ohnehin immer weniger für die Selbstständigkeit entscheiden. Andererseits wird von Peter Altmaier (CDU) vollmundig eine neue Gründungsoffensive (Go!) ausgerufen, die Deutschland zur Gründernation machen soll. Man fragt sich, ob die GroKo-Minister eigentlich zwischendurch mal miteinander reden.

Gründerinnen und Gründern muss eine gewisse Startphase eingeräumt werden, in der sie ihr Geschäft auf die Beine gestellt haben müssen und in der Lage sein, für das Alter vozusorgen. Und zwar über Anlageinstrumente, die flexibel sind und ihrer individuellen Situation und Risikobereitschaft entsprechen.

Die Selbstständigkeit ist nun einmal und zum Glück (!) sehr heterogen. Wahlfreiheit in welcher Form vorgesorgt wird, ist das Mindseste, das der Gesetzgeber gewähren muss, wenn wir schon von einer generellen Vorsorgespflicht sprechen.

Dabei könnte man auch klug sein und positive Anreize für die Vorsorge setzen. Indem man Lösungen präsentiert, die Selbstständigkeit nicht als Problem verargumentieren und passende Angebote für eine neue Arbeitsgesellschaft entwickelt.

Die Frage der Ausgestaltung ist nicht unerheblich. Passende Sozialversicherungsangebote könnten zu einer höheren Bereitschaft führen, sich für die Selbstständigkeit zu entscheiden und sich damit positiv auf das Gründungsgeschehen auswirken. Besser, als mit Steuergeld zu fördern, ist es, Vertrauen in den unternehmerischen Lebensentwurf zu signalisieren und dafür zu sorgen, dass Selbstständigkeit sozialstaatlich nicht bestraft wird. Das ist offenkundig nicht gewollt.

Dass man ein uraltes Umlageverfahren wie die Rentenversicherung nicht einfach reformieren kann, ist jedem klar. Wo aber sind die Ideen für die Zukunft der Arbeit? Wenn die Arbeit persönlicher wird, müssen auch die Vorsorgekonzepte individueller werden.

Es braucht mehr attraktive Vorsorgemöglichkeiten, nicht weniger!

Neue Vorsorgeangebote müssen Insolvenzsicherheit garantieren (z.B. Vorsorge-Investmentkonten), flexibel sein, steuerfreie Erträge vorsehen und transparent über eine Online-Plattform und App, in einem persönlichen Profil, zusammen mit allen Vorsorgearten einsehbar sein. Ein digitales Vorsorgekonto sieht etwa die FDP in ihrem Rentenkonzept schon lange vor. All das wären Ideen für eine zeitgemäße Vorsorge — übrigens nicht nur für Selbstständige. Aber alles, was uns unter dem Strich angeboten wird, ist die Rentenversicherungspflicht?

Was wir derzeit erleben, ist nicht Zukunftsgestaltung, sondern der Versuch auch neue Arbeit zu industrialisieren. Die Gralshüter des Gestern hoffen, die Wissensgesellschaft bleibt angestellt. Noch ist das für die meisten Menschen auch plausibel — die Selbstständigkeit wird nicht nur von den zuständigen Ministern nicht verstanden, sondern kommt auch dem Gros der Bevölkerung komisch vor. Das kommt davon, wenn man ein ganzes Sozialversicherungssystem um die Festanstellung baut und jede andere Form der Arbeit als Abweichung versteht.

Es gibt viel zu tun und trotzdem kann man derzeit nicht erkennen, dass innovative Konzepte umgesetzt werden. Der Wandel wird nicht verstanden, neue Arbeit soll die alte Arbeit bleiben, jede Abweichung ist eine Störung im System.

Wer seine Selbstständigkeit ernst nimmt, kann damit nicht einverstanden sein.

  • *Der Vollständigkeit halber: Katarina Barley (SPD) war dazwischen kurz kommissarisch Arbeitsministern.

Quellen

Interview von Hubertus Heil, Bundesminister für Arbeit und Soziales, mit der Rheinischen Post: “Arbeitnehmerrechte in der Digitalisierung erneuern”
2. April 2019

Interview von Andrea Nahles, 2013–2017 Bundesminister für Arbeit und Soziales, mit der Rheinischen Post: “Wir brauchen die Solidarrente
4. Mai 2017

Studie DIW Berlin: “Die allermeisten Selbständigen betreiben Altersvorsorge oder haben Vermögen”: DIW Wochenbericht 45/2016

IT-Freelancer Studie: Solo-Selbstständige IT-Spezialisten. Einkommenssituation und Altersvorsorge: ifD Allensbach Untersuchung (2018)

Kaiser, Tobias; in Welt (Online): “Selbstständige verdienen oft nicht mal den Mindestlohn” mit Erwähnung der ZEW Studie. 20. Januar 2019

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