Rettungswesen 2.0 — Eine Reise in die Zukunft
Rettungsdienste nehmen in der Versorgung von Notfallpatienten/-innen eine wichtige Rolle ein. Sie übernehmen vor Ort die professionelle präklinische Versorgung und entschieden über die weitere Behandlung des Patienten [1]. Die notfallmedizinischen Leistungen beinhalten nicht nur die Sicherstellung von lebensrettenden Massnahmen für die akut lebensbedrohten Menschen, sondern auch Verlegungen unter Fortführung intensivmedizinischer Behandlungen. Heutzutage ist das Rettungswesen ein wichtiger Bestandteil im gesamten Versorgungsprozess rund um den Patienten und nicht mehr wegzudenken. Trotz der anhaltenden Digitalisierung der stationären und ambulanten Leistungserbringern gibt es vor allem in der präklinischen Behandlung wenig vielversprechende und zukunftsorientierte Neuerungen. Dieser Beitrag resultiert aus unserer Bachelorthesis «Berührungslose Dokumentation im Rettungswesen» und gibt einen kurzen Einblick in ein mögliches Rettungswesen der Zukunft.
Der Weg zum digitalisierten Rettungsdienst
Als ehemalige Studenten des Studiengangs Medizininformatik befassten wir uns während eines Jahres mit der Digitalisierung und Optimierung der medizinischen Notfalldienste. Im Rahmen von zahlreichen Interviews und Gesprächen mit Fachkräften aus dem Rettungsdienst, unter anderem der Leitung von Notfallzentralen, Rettungssanitätern-/innen, Qualitätssicherungspersonal und technischen Führungspersonen kristallisierte sich langsam, aber sicher etwas heraus: Die papierbasierte Dokumentation. Papierdokumentationen sind im Schweizer Rettungswesen ein wesentlicher Bestandteil der Arbeit. So dokumentieren ca. 80% der Schweizer Rettungsdienste die Einsätze auf einem Papierformular, welches von jedem Rettungsdienst individuell erstellt und verwendet wird. Anschliessend werden die Einsatzprotokolle, oftmals retrospektiv ausgefüllt, von Hand in ein Abrechnungssystem und weitere Systeme übertragen. Eine Kopie erhält das Zielspital.
Es existieren durchaus elektronische Abrechnungssysteme, wie beispielsweise das RescueNet Ambulance Pad von ZOLL Medical [2] oder SIREN ePCR Suite von Medusa Medical [3]. Während Interviews stellte sich jedoch heraus, dass sich diese Lösungen für kleinere und mittlere Rettungsdienste kaum rentieren. Sie hätten einen zu grossen Funktionsumfang und sind nicht erschwinglich. Ausserdem erhöhen sie den aktuellen Dokumentationsumfang und ziehen die Prozesse in die Länge.
Oftmals stehen dem Rettungspersonal für die Dokumentation in den Einsätzen zu wenig personelle und zeitliche Ressourcen zur Verfügung. Bereits hier entsteht das erste Problem: Bei der Übergabe des Patienten in der Notfallaufnahme sind nicht alle Informationen vollständig protokolliert. Die retrospektive Handhabung bei der Protokollierung eines Einsatzes ist zudem vielfach fehlerbehaftet [4, 5]. Eine elektronische Dokumentation aller Ereignisse wäre optimal, jedoch entsteht dadurch die Gefahr einer unkontrollierbaren Datenflut. Zudem müssten diese Informationen automatisiert erfasst werden können, um den Behandlungsprozess des Patienten nicht zu stören.
Im Folgenden werden einige Ideen aufgezeigt, wie verschiedene Prozessschritte vereinfacht werden können, um abschliessend die Patientensicherheit und Behandlungsqualität zu erhöhen.
Echtzeiterfassung von Einsatzereignissen
Während eines halben Jahres entwickelten wir einen eigenen Tablet-Prototypen zur elektronischen Dokumentation von Rettungseinsätzen. Da die elektronische Protokollierung für das Rettungspersonal keinen prozesstechnischen Vorteil bietet, wurde der Prototyp so erweitert, dass der Dokumentationsaufwand signifikant verkürzt wird. Um die situationsabhängigen Einsatzmöglichkeiten von verschiedenen digitalen Medien zu evaluieren wurde eine Vorstudie durchgeführt. Durch die Simulation von Einsatzszenarien konnte mittels einem «Wizard-of-Oz»-Experiment erfasst werden, in welchen Situationen sich welches Medium am besten für die Dokumentation von Massnahmen und Ereignissen eignet (siehe Abb. 1). Als Resultat kann man festhalten, dass die sprachbasierte Dokumentation vor allem im Bereich der Medikationsverabreichung oder der Materialerfassung Anklang findet. Fotos könnten einen grobüberblick über die vorgefundene Situation liefern und dabei helfen im Zielspital das Umfeld des Einsatzes zu beschreiben. Ausserdem könnten Wunden und Verletzungen dokumentiert werden und im Zielspital zur Entscheidung beitragen, ob ein Verband erneut geöffnet werden soll (erhöhte Infektionsgefahr) oder nicht. Videoaufnahmen würden sich beispielsweise bei sich aggressiv verhaltenden Patienten dazu eignen, sich im Nachhinein rechtlich abzusichern.
Aufgrund der gewonnenen Kenntnisse wurde das ePatientenprotokoll so weiterentwickelt, dass eine sprachbasierte Dokumentation ermöglicht wurde. So kann berührungslos dokumentiert werden. Die Echtzeitdokumentation ermöglicht zudem das Dokumentieren im Moment des Ereignisses. Dadurch wird die Integrität der Informationen gesichert und es stehen tendenziell mehr Daten für die Übergabe im Zielspital zur Verfügung.
Dadurch, dass die Einsatzinformationen direkt digitalisiert und in Echtzeit vorhanden sind, ebnet diese Idee den Weg für die nachfolgenden Punkte.
Berührungslose Dokumentation im Rettungswesen, Bachelorthesis 2019, Autoren: J. G. Bauer und L. Meier
ELIAS — das Electronic Language Interface for Ambulance Services — ermöglicht dem Rettungspersonal, die einsatzrelevanten Daten von gewissen Parametern sprachbasiert zu dokumentieren. Durch den Datenaustausch zwischen ELIAS und dem ePatientenprotokoll werden diese Parameter bzw. Massnahmen automatisiert im Einsatzprotokoll eingetragen. ELIAS kann folgende Parameter sprachbasiert erfassen: Anamnese, Blutdruck, «Glasgow Coma Scale», Medikation und Puls. Dabei ist die Erfassung aller Parameter auf Deutsch und Französisch, sowie die «Glasgow Coma Scale» zusätzlich auf Mundart möglich. Mit ELIAS ist somit die Echtzeitdokumentation gewährleistet. Dadurch, dass Massnahmen in Echtzeit und chronologisch korrekt erfasst werden, lässt sich eine grundlegend exaktere Protokollierung erstellen. ELIAS erreicht eine Genauigkeitsrate von 96.97% in Deutsch, sowie 92.13% in Französisch und bleibt ausserdem bei einem Umgebungsgeräusch bis 91 dB(A) anwendbar.
Strukturierte Datenübertragung & Real-Time-Alerting
Momentan können sich die Schweizer Rettungsdienste nicht auf ein allgemeingültiges Protokoll einigen. So wäre es von Vorteil, wenn zumindest die Datenverarbeitung mit einem standardisierten Format stattfinden würde. Ein solcher Standard existiert bereits: CDA-CH-RESP. Dabei handelt es sich um den CDA-Header und Body-Struktur basierend auf CDA-CH v2 mit einigen Erweiterungen für CDA-CH-RESP.
Durch das strukturierte Dokumentenformat wäre es nicht notwendig, ein rettungsdienstübergreifendes Einsatzprotokoll zu entwickeln. So ist lediglich dafür zu sorgen, dass die Daten, welche übertragen werden, semantisch und zeitlich korrekt erfasst wurden. Somit kann eine strukturierte Datenübertragung an beispielsweise das Zielspital gewährleistet werden. Real-Time-Alerting wird somit einen Schritt weitergebracht.
Real-Time-Alerting definiert das Informieren des Zielspitals mit einsatzrelevanten Daten bevor die zu behandelnde Person dort eintrifft. So wird den Fachkräften der Notfallaufnahme ermöglicht, sich besser auf die eintreffende Person vorzubereiten. Dazu gehört beispielsweise das Aufbieten von spezialisiertem Fachpersonal bei Unfällen mit Kindern und Neugeborenen oder das Organisieren von benötigten Materialien. Mittels CDA-CH-RESP können Informationen systemunabhängig versendet und empfangen werden. Somit eignen sich jegliche Applikationen als Real-Time-Alerting Systeme, welche diesen Standard lesen können.
Interfaces im Rettungswagen
In einem Rettungswagen befinden sich etliche Geräte, welche Vitalparameter der Patienten konstant aufzeichnen. Ausserdem gibt es bereits EKG-Geräte, welche die Daten an das potentiell vorhandenen elektronische Einsatzprotokoll oder das Zielspital übermitteln können. Durch die Verknüpfung aller vorhandenen Geräte mit einem elektronischen Einsatzprotokoll können Daten automatisiert an einem Ort gespeichert und visualisiert werden. Dies verringert nebenbei die Zeit, welche für das Nachdokumentieren der Vitalparameter benötigt wird und erhöht gleichzeitig die Genauigkeit der Behandlungsdokumentation während der Zeit im Rettungswagen.
Smart Navigation
Rettungsfahrzeuge in der Schweiz sind ausschliesslich mit einem Navigationsgerät ausgerüstet, welche den Weg zum Einsatzort weisen. Die vermehrten Einsatzmöglichkeiten für Technologien wie künstlicher Intelligenz und maschinellem Lernen erweitern die Einsatzmöglichkeiten für Navigationsgeräte. Nehmen wir einmal an das System besitzt eine Datenbank mit allen Kliniken und dem aktuell verfügbaren medizinischen Fachpersonal; Je nach Einsatz könnte die Klinik evaluiert werden, welche die bestmögliche Behandlung für den Patienten bereitstellen kann in Abhängigkeit mit der Anfahrtsdauer und bewertet die beste Option. Während der Fahrt zum Zielspital werden gesperrte Strassen, Baustellen und verkehrstechnische Probleme erkannt und das Rettungsfahrzeug auf dem effizientesten Weg als Ziel gebracht.
Telemedizinische Konsultation
Die Telemedizin findet langsam aber stetig immer breitere Verwendung im Klinikalltag. Vor allem in Ländern mit abgelegenen Gebieten (Kanada, Australien, …) findet Telemedizin bereits seit längerer Zeit Anwendung. Auch in der Schweiz, in gebirgigen Gebieten des Kanton Graubünden oder Wallis, können je nach Ort Anfahrtswege von bis zu 40 Minuten zum Zielspital entstehen. Bei instabilen Patienten wäre die telemedizinische Unterstützung durch eine Fachperson bestimmt von Vorteil. Dadurch können während längeren Fahrten Risiken umgangen und allenfalls lebensnotwendige Entscheidungen frühzeitig getroffen werden.
Grundvoraussetzung einer telemedizinischen Konsultation ist eine stetige einwandfreie Internetverbindung. So wird keine unnötige Zeit durch den Verbindungsaufbau verschwendet. Ausserdem ist es von hoher Relevanz, dass auch das Zielspital einen nahtlosen Prozess für telemedizinische Konsultationen definiert. In diesem Bereich wäre weiterführend zu evaluieren, wie in einem Spital eine telemedizinische Konsultation mit dem Rettungswesen optimal organisiert wird. Dabei ist auch zu beachten, dass das Personal korrekt geschult wird und jederzeit medizinisches Fachpersonal zur Verfügung steht.
Wissenschaftlicher Datensatz Rettungsdienst
Nehmen wir an alle Schweizer Rettungsdienste kommunizieren ihre Daten mittels einem standardisierten Austauschformat an die Zielspitäler. Durch das Vorhandensein aller klinisch relevanten Daten in digitaler Form wird ermöglicht, die informative «Blackbox» zwischen den Spitälern und den Rettungsdiensten zu füllen. Bisher war es durch die anhaltende Papierwirtschaft nicht möglich, die präklinischen Vorgehensweisen und Behandlungen mit den abschliessend resultierenden Diagnosen und Behandlungsverläufen in den Spitälern zu korrelieren. Mit einem «wissenschaftlichen Datensatz Rettungsdienst» kann diese «Blackbox» gefüllt werden. Diese Daten bilden eine stabile Grundlage für Auswertungen wie beispielsweise die Korrelation zwischen den verschiedenen präklinischen Verhaltensweisen mit unterschiedlichen Behandlungsergebnissen in den Spitälern.
Einen ähnlichen Datensatz gibt es bereits in der Anästhesie (siehe SGAR-SSAR A-QUA-Datensatz). Von einem Datensatz im Rettungswesen könnte man nur profitieren.
Fazit
Die von uns erwähnten Punkte sollen lediglich einen kurzen Überblick geben und die Gedanken anregen, was sich in Zukunft im Rettungswesen verändern könnte. Die oben abgebildete Darstellung (siehe Abb. 2) zeigt wie einige der erwähnten Optimierungsmöglichkeiten zusammenarbeiten können.
Abschliessend ist festzuhalten, dass das Rettungswesen eine Vielzahl an digitalen Optimierungsmöglichkeiten bietet. Dadurch, dass das Rettungswesen zuvorderst in der Behandlungskette steht, bietet sich die Chance von Beginn an die korrekten und vollständigen Daten eines Einsatzes zu erfassen. Diese können einen wichtigen Anhaltspunkt geben, welche für die nachfolgende Behandlung von Nutzen sein können. Ausserdem könnte durch die Korrelation von präklinischen- mit klinischen Daten neue Erkenntnisse gezogen werden, welche die Behandlung noch effizienter und sicherer machen können.
[1] Frey M, Lobsinger M, Trede I. Rettungsdienste in der Schweiz. Strukturen, Leistungen und Fachkräfte. Obsan Bull. Januar 2017;(01/2017):1–8.
[2] RescueNet Ambulance Pad — ZOLL Medical [Internet]. RescueNet Ambulance Pad — ZOLL Medical. Verfügbar unter: https://www.zoll.com/de/produkte/datenmanagement/rescuenet-ambulance-pad
[3] Medusa Medical [Internet]. Medusa Medical. Verfügbar unter: https://www.medusamedical.com
[4] Ho JD, Dawes DM, McKay EM, Taliercio JJ, White SD, Woodbury BJ, u. a. Effect of Body-Worn Cameras on EMS Documentation Accuracy: A Pilot Study. Prehospital Emerg Care Off J Natl Assoc EMS Physicians Natl Assoc State EMS Dir. April 2017;21(2):263–71.
[5] Brice JH, Friend KD, Delbridge TR. Accuracy of EMS-Recorded Patient Demographic Data. Prehosp Emerg Care. 7. Februar 2009;12(2):187–91.