Der Burkini wird zum Maß europäischer Gleichberechtigung

Sebastian Rothe
HERZ + HAND
Published in
3 min readAug 24, 2016

Europa. Im Land von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, wo der Bikini zum Alltag gehört und alltägliche Kleidung immer freizügiger wird, streitet man ganz selbstverständlich darüber, wie Frau sich kleiden darf — und wie nicht. Ein unerhörter Rückschritt auf dem Weg zur Gleichberechtigung!

Quelle: https://twitter.com/lasauvagejaune

Angestachelt durch den Streit um ein simples Foto, überschlagen sich die Verantwortlichen in ranghohen öffentlichen Ämtern geradezu mit den Verboten von Kleidungsstücken, weil diese nicht der kulturellen Norm entsprechen. Und in einer undurchsichtigen Debatte, die von der Westküste Frankreichs bis an die ostdeutsche Grenze geführt wird, vergessen die meisten den Sinn jener europäischer Werte, die sie dabei so frohen Mutes in die Waagschale werfen. Zum Beispiel das Recht auf Selbstbestimmung. Was ist das eigentlich? Wie selbstbestimmt ist eine Frau, über deren Kleidung ein ganzer Kontinent zu streiten vermag? Und welchen Wert messen wir einem Begriff bei, dessen Schicksal sich am Strand zu entscheiden droht?
Selbstbestimmung verbrieft die Unabhängigkeit des Individuums, sich frei von staatlicher Gewalt und gesellschaftlichen Zwängen zu entfalten. Dieses theoretische Konstrukt ist jedoch mit einem erheblichen Mangel geboren, denn staatliche Obrigkeit und gesellschaftliche Konventionen sind allgegenwärtig. Und während sie als Basis unseres friedlichen Miteinanders unverzichtbar sind, ist die Form ihres Fortbestands immer einer reflektierten Diskussion wert. Weil das Argument der Selbstbestimmtheit unreflektiert und missverständlich ausgelegt wird, droht der Burkini-Debatte ein ähnliches Schicksal wie jener um unsere Sicherheit. Doch Freiheit in all ihren Facetten, kann nicht durch Einschränkungen gesichert oder begründet werden. Eine solche Argumentation ist in sich widersprüchlich!

Das gilt am Strand genauso wie am Flughafen. Doch während an letzterem das notwendige Maß an Freiheit erhalten bleibt, so lange Reisen möglich sind, wird sie Frauen entzogen, wenn man ihnen den Zugang zum Strand aufgrund eines Kleidungsstückes verwehrt. Diese Tatsache besteht auch vor demjenigen, der seine Argumentation auf die europäische Kultur stützt, die die — westliche — Freiheit am Strand ermöglicht. Die Freiheit europäischer Frauen am Strand sehr leicht bekleidet zu sein, begründet sich (auch) in dem puren Zufall der Säkularität unserer Gesellschaft.
Deren kirchliche Vertreter tun sich heutzutage, entgegen der ach so christlichen Betrachtung leicht, einen „Mangel“ an christlicher Lebensart festzustellen. Und der bei seiner Einführung gesellschaftlich äußerst kritisch beäugte Bikini, stellt in seinen modernen Ausführungen die kleinste Hürde dabei dar. Dessen Existenz steht hier aber nicht in Abrede, wohl aber das Argument, eine durch ihn repräsentierte Freiheit durch ein Verbot von Burkinis schützen zu müssen. Wer so argumentiert, erklärt die Freiheit zur Konvention! Und zwängt all jene in ein längst vergessenes Korsett, die im Rahmen ihrer kulturellen Konventionen größtmögliche Freiheit leben, wenn sie einen Burkini tragen.

Besagtes Kleidungsstück erlaubt Gruppen unserer Gesellschaft, mögen sie auch noch so klein und neu sein, am gesellschaftlichen Leben wie wir es kennen teilzunehmen. Ohne es, geht eine Freiheit verloren, deren Preis die meisten Europäerinnen heute nur erahnen können. So ist der Zwang zur Anpassung an europäische Standards nicht nur eine völlige Überforderung, sondern zeugt auch von ausgesprochener Ignoranz.
Und während für die Betroffenen derweil nur die Flucht in die eigenen vier Wände bleibt, müssen sich die Europäerinnen fragen, wie weit sie eigentlich gekommen sind, denn die erneute Diskussion darüber, was Frauen anziehen dürfen und was nicht, zeugt eher von Heuchelei, als dem Willen, Freiheit und Gleichberechtigung zu gewähren.
Eine solch unreflektierte Betrachtung als kulturelle Überlegenheit darzustellen ist mindestens lächerlich, höchstens aber wertend. Denn wer mit der kulturellen Keule schwingt und sich dabei überlegen fühlt, muss sich bewusst machen, dass die offenkundige Einschränkung Burkini tragender Frauen nur mit Blick durch die europäische Brille eindeutig ist. Wer seine Betrachtung kulturell erweitert, wird erkennen, dass für genau diese Frauen das Gegenteil der Fall ist.
Ein Europa, das seine Einigkeit daran misst, Ganzkörperanzüge beim Baden zu verbieten, die für Surfer ganz normal sind, hat weder das Recht auf Selbstbestimmung verinnerlicht, noch erkennt es die Leistung all jener Frauen an, die dafür einstanden und heute einstehen.

Wer nun nach einer perfekten Lösung fragt, kann nicht mehr als einen Kompromiss erwarten. Doch nur die Teilhabe an einem freien Leben, weckt die notwendigen Begehrlichkeiten dieses zu erhalten. Diese Freiheit zu verwehren dient nicht ihrem Erhalt, sondern führt dazu, dass Selbstbestimmung weder miterlebt noch gelebt werden kann. Das Miterleben ist jedoch der erste Schritt zur Integration. Wer in ihrem Sinne argumentieren will, muss ohne Burkiniverbot auskommen.

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