Mia San Mia! Wir suhlen uns in German Angst.

Sebastian Rothe
HERZ + HAND
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5 min readOct 15, 2015

Seit Sonntag bin ich mittendrin in der Flüchtlingskrise, als freiwilliger Helfer in Passau, dem bayerischen Flüchtlingsmekka in Süddeutschland. Es mangelt nicht an Ironie, dass gerade hier so viele Flüchtlinge ankommen, hat doch vor sieben Jahren allein der Name dieser idyllisch gelegenen Stadt ausgereicht, meinem Gegenüber einen kalten politischen Schauer über den Rücken laufen zu lassen. Und wenn ich mich auch außer Stande sehe, die Rechtslage der einheimischen Bevölkerung genau zu bestimmen, so könnte ich leicht aus eigener Erfahrung skizzieren, wie skeptisch die Einheimischen gegenüber Zugereisten sind. (Als hiesiger Student bekommt man das zu spüren.)

Ich möchte aber keine politische Diskussion anzetteln, denn was ich in der aktuellen Flüchtlingskrise sehe hat nichts mit rechts oder links zu tun. Was ich sehe ist allzu menschlich, allzu deutsch, auch wenn es sich im bayerischen Mia san mia ganz wunderbar verkleidet: German Angst.

© Sebastian Rothe

Eine diffuse Furcht lähmt das Land, dessen Zivilgesellschaft sich doch gerade erst der wichtigsten Errungenschaft seit der Wende erfreute, als dessen Bürger mit unschuldig wehenden Fahnen einem globalen Spektakel beiwohnten, welches sie in wunderbarer Gastfreundschaft auf eigenem Grund und Boden ausrichteten. Verwunderung breitete sich über den gesamten Globus aus, weil WIR, die Deutschen, zum allerersten Mal seit der Wende — wenn nicht gar seit dem Zweiten Weltkrieg — in kollektiver Unbeschwertheit auftraten.

Und nun das! Nur wenige Jahre später ist die Lage der Nation prekär, geradezu aussichtslos. Es gibt keine andere Lösung als die gemeinschaftliche Abschottung. Panisch folgt das Land dem britischen Beispiel und flüchtet sich in nationalstaatliche Interessen. Die deutsche Sorge hat die Oberhand gewonnen: Es wird gejammert und geklagt, geschimpft und geschrien, es wird protestiert und attestiert “WIR SCHAFFEN DAS NICHT”. Es ist 1993!

In unendlicher Hilflosigkeit werfen wir die sachlichsten Argumente in die Waagschale, denken das Undenkbare und sprechen das Unaussprechliche. Das muss erlaubt sein! Und wer könnte den Flüchtlingen in der Aufnahmestation — es handelt sich in Wahrheit um eine Halle der DEKRA — die Situation besser klarmachen als dieser eine Bundespolizist? Er kommt aus Rosenheim und trägt, wohl seines Charakters und seiner Frisur wegen, einen (Achtung!) hier nicht zu dokumentierenden Spitznamen.
Jetzt wundert sich der gelähmte Deutsche was den Autor zurückhält und fühlt sich, falls nötig, hoffentlich erinnert. Doch woran, was war das noch? Ach ja: Es gibt Dinge, die man nicht sagt und Dinge, die man nicht tut — keine unbedingt deutsche Tugend, aber eine, an die der Autor gern erinnert. Doch zurück zum Bundespolizisten: Dieser beantwortet, wenn er nicht gerade mit verschränkten Armen im Weg steht, mit Hochgenuss und in vor Sarkasmus triefendem Ton des Flüchtlings Frage. Deren Inhalt dreht sich höchstwahrscheinlich um Essen, Kleidung, eine Decke, oder die Möglichkeit zu telefonieren. Und wie fast alle anderen Mitflüchtenden, quält er sich die Frage in gebrochenem English heraus.
Da lässt sich der Bundespolizist nicht lumpen und erklärt ihm wie aufwendig dessen Unterbringung ist, wie wenig Platz man doch eigentlich im Land habe und wie kostspielig das alles doch wäre. Dieser Bundespolizist geigt dem Flüchtling erstmal ordentlich die politische Meinung. Und nicht nur das! Er hat auch eine ganze Reihe von Beleidigungen auf Lager — der Ton macht die Musik — und packt genüsslich aus, was er in feinstem Schulenglisch hervorzubringen vermag: Ob er denn Englisch verstehe. Ob er denn (überhaupt) lesen könne. So tut es das halbe Land.
Am besten erklären wir den Flüchtlingen noch am Feldbett — im Bus ist es leider zu eng — wie das hier läuft bei uns in Deutschland. Dass auch ja nichts schiefgeht! Wenn wir nur schnell genug sind, dann können wir das schlimmste verhindern. Und wenn wir ganz viel Glück haben, dann nimmt der Flüchtling vielleicht Reißaus und fährt nach Haus — von seinem eigenen Geld versteht sich.
Zum Glück sind nicht alle Bundespolizisten so, ganz im Gegenteil! Die meisten machen einen sehr guten Job. Sie sorgen dafür, dass die Flüchtlinge gefunden, untergebracht, erstversorgt und dann in Einrichtungen gebracht werden, die ein geringfügig menschlicheres Dasein ermöglichen, als mit 899 anderen in einer Halle auszuharren, die in Boxen aufgeteilt wurde. (Wer schon mal eine Nacht im Flughafen verbracht hat, war prima ausgestattet.)

Dieses Deutschland hat vergessen wie sich die Großeltern (geboren 1935) dabei fühlten, vor den Russen zu flüchten. Und wie die Großeltern sich fühlten, als die zuvor verfolgten Volkgruppen nun die Türen verschlossen hielten. Dieses Deutschland hat vergessen wie es sich anfühlt, NICHTS mehr zu besitzen, das ganze Leben neu aufbauen zu müssen. Es hat vergessen wie es ist, um eine zweite Ration Essen betteln zu müssen — MIT 50+ JAHREN — und abgewiesen zu werden. Diesem Deutschland scheint die Sonne aus dem Allerwertesten —es geht ihm verdammt gut. Doch es hat nichts Besseres zu tun, als in seiner politischen Unfähigkeit, die der einzig wahre Grund für die schlechte Infrastruktur und den in dieser Krise aufgekeimten Verteilungskampf ist, dem Flüchtling aufs Brot zu schmieren — SOWAS TUT MAN NICHT!

Es gilt, Empathie zu zeigen und eine gigantische Aufgabe zu bewältigen! Es gilt, die Flüchtlinge zu versorgen und ihnen Obdach zu gewähren! Neben einer breiten Masse gibt es den besonders gebeutelten alten Mann, der kein sauberes Stück Kleidung am Körper trägt. Und natürlich ist nicht jeder Flüchtling auch wirklich gefährdet: Es gibt auch einen, der geschniegelt und gebügelt, in Wildlederslippern und gesteppter Daunenjacke aus dem Bus steigt, als käme er gerade vom Shoppen. Das muss man sagen dürfen: Selbstverständlich können nicht alle Flüchtlinge in Deutschland bleiben!
Aber was in Gottes Namen bringt dieses Deutschland überhaupt dazu zu glauben, dass alle hierbleiben wollen? Ist dieses Land tatsächlich so herablassend geworden, anzunehmen, dass Menschen aus aller Herren Länder nicht wieder in ihre HEIMAT wollen? Wovor fürchtet sich dieses Land eigentlich? Hat es Angst, seine Identität zu verlieren? Oder ist es sich seiner Identität vielleicht noch immer nicht sicher? Geht es vielleicht noch immer im Krebsgang, während der Rest der Welt sich über seine Haltung wundert — heute mehr denn je?

Dieses Deutschland kann diese Herausforderung bewältigen, in Würde, mit der gebotenen Empathie und deutscher Sorgfalt. Es kann Mitgefühl zeigen und erhobenen Hauptes feststellen, wenn jemand kein Anrecht auf Asyl hat und dies konsequent durchsetzen. Es kann Heimat sein und Heimat werden. Und es darf sich dabei verändern, wie es das schon immer getan hat.

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