Technologie ist Kreativität

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4 min readAug 26, 2018

von I. Pomini

In Italien hält sich ein merkwürdiger Gegensatz, der seinesgleichen in Europa sucht: der zwischen Geisteswissenschaftlern auf der einen und Naturwissenschaftlern, Technologen und Technikern auf der anderen Seite. Da ich weder ein Kulturhistoriker, noch ein Soziologe bin, kann ich die Gründe für dieses Phänomen nicht erklären. Ich weiß allerdings, dass dies nicht immer so war. In der Renaissance waren die größten Köpfe oft zeitgleich Humanisten, Naturwissenschaftler und Technologen. Wie beispielsweise Filippo Brunelleschi: Das Genie aus Florenz, Schöpfer der Kuppel von Santa Maria del Fiore, war ein Universalerneuerer, der dank seines vielfältigen Geistes auf außerordentliche Weise Kunst und Materialwissen, Design und Mathematik, Geometrie sowie Planungs- und Technikkompetenzen zu verbinden wusste. Oder denken wir an Leon Battista Alberti, der als „Universalmensch“ definiert wurde, „Maler, Architekt, Dichter, Gelehrter, Philosoph und Literat“. Oder an Leonardo Da Vinci natürlich.

Ich könnte ebenso Galileo in die Liste aufnehmen, einen der Gründer der modernen Wissenschaft, der nicht nur Physiker, Astronom und Mathematiker, sondern auch ein scharfsinniger Philosoph war, wie jeder weiß, der den „Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme“ gelesen hat (der im Übrigen einen tiefgreifenden Einfluss auf die italienische Sprache hatte). Matteo Ricci, der Jesuit, der dem chinesischen Reich den Westen näherbrachte (und umgekehrt), lehrte Euklid den Chinesen, war aber auch ein äußerst feinersinniger Humanist.

Aus moderneren Zeiten seien drei der größten italienischen Autoren des 20. Jahrhunderts genannt: Primo Levi, Salvatore Quasimodo und Carlo Emilio Gadda. Ersterer war Schriftsteller und herausragender Chemiker; der zweite war Literaturnobelpreisträger und Vermesser und studierte außerdem Bauingenieurwesen und letzterer war Romanschriftsteller mit einem Hochschulabschluss in Wasserbau (sodass er auch in Belgien und Argentinien arbeitete, wo er den Aufbau eines Wärmekraftwerks überwachte).

In der heutigen Zeit, die durch anhaltenden Wachstum der Spezialisierungen geprägt ist, kann allerdings keine Allwissenheit beansprucht werden, man kann selbstredend nicht in jeder wissenschaftlichen Disziplin herausragend sein. Aber der Graben, der sich zwischen den Geisteswissenschaftlern auf der einen und den Technologen, Technikern und Naturwissenschaftlern auf der anderen Seite aufgetan hat, ist besorgniserregend. Er steht einem Grundwert der italienischen kulturellen Tradition entgegen, die immer dehnbar und interdisziplinär war und sich auf den griechisch-römischen Background bezog. Es ist kein Zufall, dass man auf dem naturwissenschaftlich geprägten Gymnasium Latein lernt und auf dem klassischen Gymnasium auch Altgriechisch: Jahrhundertelang nährte die Philosophie, genauso wie Werke großer Denker wie Euklid und Archimedes, Naturwissenschaftler und Technologen in Europa.

Gerade habe ich von der „dehnbaren und interdisziplinären italienischen kulturellen Tradition“ geschrieben. Aber eigentlich steht auch unsere Unternehmenskultur im Zeichen der Anpassungsfähigkeit und Interdisziplinarität. Einige der besten Unternehmer in der Geschichte Italiens waren Erneuerer von vielseitigem Verstand. Adriano Olivetti fällt einem da sofort ein, der Unternehmer, Technologe und Visionär in Politik- und Gesellschaftsfragen war. Ich könnte auch Giovanni Agnelli nennen, der sich nach dem Abitur auf dem klassischen Gymnasium für Maschinenbau und die zweite industrielle Revolution begeisterte. Und heute brüsten sich viele der meistgeschätzten Manager des Landes in ihrem Lebenslauf mit klassischen und geisteswissenschaftlichen Schul- oder sogar Universitätsabschlüssen.

Sich mit den Gedanken Platons, den Versen Ungarettis, den Opern Verdis oder der Helldunkelmalerei Caravaggios zu beschäftigen, nützt also etwas. Form. Aber man muss auch sich auch mit Elektrotechnik befassen, Kenntnisse in Strömungsmechanik vertiefen, eine Fräse bedienen oder eine Funktion zeichnen können. Auch diese Dingen formen. Während viele das Potenzial eines Universitätsabschlusses in Literatur oder Philosophie fälschlicherweise anzweifeln, blicken viele Geisteswissenschaftler und Künstler snobistisch auf solche herab, die sich in einem Bereich des Bauingenieurwesens spezialisieren oder handwerklich begabt sind. In Zeiten, in denen alle großspurig von „Kreativität“ und „Talent“ sprechen, hält sich noch immer das Vorurteil, dass Kreativität und Talent Vorzüge von wenigen Ausgewählten sind.

Auch die härteste Wissenschaft ist oft kreativ. Sehr kreativ sogar. Und dasselbe gilt für die Technologie. Noch immer entsteht Innovation, zumindest in Italien, nicht immer in großen Laboratorien oder futuristischen Forschungszentren. Manchmal ist sie das Ergebnis der Interaktion von vermeintlich niederen (aber eigentlich großartigen) Wissensgebieten wie sie einige Fachleute vorweisen können, die technische oder berufsorientierte Schulabschlüsse gemacht haben (der Wirtschaftswissenschaftler Stefano Micelli hat diesen Punkt vortrefflich in seinem Buch „Futuro artigiano“ („Handwerkliche Zukunft“) erklärt).

Die kreative Dimension der Wissenschaft, der Technologie und der Technik wird offensichtlich in einem der Grundpfeiler des italienischen Exports: dem Automobilsektor. Die Autos, die die Geschichte der Produktion in Italien schrieben und maßgeblich zum Wohlstand und zum Ruf Italiens in der Welt beigetragen haben, vereinen Technologie, Wissenschaft und Schönheit und sind damit Ergebnis der Zusammenarbeit von Handwerkern, Technikern, Ingenieuren, Wissenschaftlern, Designern und Managern. Und sogar Literaten: Erst kürzlich habe ich erfahren, dass auch einer der namhaftesten italienischen Sprachwissenschaftler zur Namensgebung des Fiat Tipo beigetragen hat. Wenn man von Interdisziplinarität spricht…

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