Farewell!

IGF Navigator
IGF Navigator
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6 min readDec 12, 2019

Mitte Juni setzte der IGF Navigator die Segel mit dem Ziel, zivilgesellschaftlichen Stimmen an Bord zu nehmen und sie zum Internet Governance Forum zu bringen, dem analogen Treffen für die digitale Zukunft.

Das Motto des IGFs 2019: One World. One Net. One Vision!

Die globalen Herausforderungen sind enorm: Wie schafft man weltweit bindende Grundsätze für diese eine Vision? Wer soll die Richtlinien bestimmen? Das Internet Governance Forum gibt nur Empfehlungen weiter, es ist die Arena für Austausch auf Augenhöhe. Der Kongress und ihre vielen Stakeholder sind nicht bindend, weder für die Politik, noch für die Internetwirtschaft. Das mag ein Grund sein, warum das IGF in den Medien so wenig Resonanz gefunden hat. Bundeskanzlerin Angela Merkel und der Generalsekretär der Vereinten Nationen Antonio Guterres halten visionäre Eröffnungsreden auf einer globalen Veranstaltung vor Tausenden Teilnehmer*innen aus aller Welt — und die Tagesschau schweigt sich aus? Einzig die Medien, die sich auf Digitalisierung spezialisiert haben, berichteten. Das IGF ist zu zahnlos — leider.

Weltweit wird viel getan, während des einwöchigen UN-Kongresses wird gebündelt, Erfahrungen und Wissen ausgetauscht. Hier ist die Zivilgesellschaft besonders stark, als gemeinwohlorientierte Brückenbauer und um Transparenz zu schaffen.

Der Austausch ist rege. Der Bundestag hat 140 Parlamentarier weltweit eingeladen am IGF teilzunehmen. Das ist zumindest ein Anfang. Die schwierige Arbeit, dem Internet und der digitalen Innovation einen gemeinwohlstiftenden Rahmen zu setzen muss konzertiert geschehen, zwischen Regierungen, mit den Wirtschaftsunternehmen. Gut wird es nur dann, wenn diese beiden großen Silos gemeinsam aus Erfahrung lernen und die Korrektive aus Zivilgesellschaft und Wissenschaft einbeziehen.

Das große Treffen internationaler Stakeholder ging in der letzten Novemberwoche zu Ende. Unzählige Panels und Workshops, über 10.000 angemeldete Besucher*innen, das Navigator-Team mittendrin, fest entschlossen, zivilgesellschaftliche Stimmen aus Deutschland sicht- und hörbarer zu machen.

Ein sehr probates Mittel: der Twitter-Staccato.

Es hat gerockt. Zusammen mit Wikimedia und Das Nettz haben wir Parlamentarier*innen und netzpolitische Akteur*innen zu Gemeinwohl und Digitalisierung befragt — sie hatten nur ein paar Minuten Zeit auf die Fragen zu antworten. Die spannenden Digital-Diskussionen, die sich daraus entwickelt haben, sind unter dem Hashtag #IGFQuestions nachzulesen.

Vor allem zu Hate Speech gab es regen Austausch — was braucht es für ein gutes Miteinander im Netz? Auffallend war Bishakha Datta — @busydot auf Twitter -, Aktivistin für Gender, sexuelle Orientierung und Frauenrechte, CEO von Point of View in Mumbai. Sie forderte, verbale Gewalt im Digitalen nicht mehr Speech — Rede — zu nennen, sondern Hass-Attacke: „Calling it speech elevates this form of hatred too much“.

MdB Thomas Heilmann (CDU) antwortet: „Auch wer selbst nicht betroffen ist, sollte genau hinsehen. Es ist erschreckend, wie oft Hassreden mit Redefreiheit gerechtfertigt sind. Hass ist keine Meinung, die es wert ist, durch unser Grundgesetz geschützt zu werden. Hass ist nicht einmal eine Meinung.“

Der Nachhaltigkeitsstand des BMWi gab Raum für Expert*innen-Dialog. Das Jugend-IGF hatte das Ministerium darauf hingewiesen, dass im 5-tägigen Programm nicht über Nachhaltigkeit gesprochen wird. Das Ministerium, als Gastgeber des UN-IGF, reagierte prompt und richtete einen umfangreichen Ausstellungsbereich zum Thema ein. Very last minute.

Es ist der deutschen Zivilgesellschaft zu verdanken, dass diese Ecke aktiv genutzt und gestaltet wurde, und die nachhaltige Entwicklung mit Blick auf Klima, Ressourcen und Menschenrechte ihren (begrenzten) Raum auf dem IGF fand. Unter anderem das WBGU, Forum Umwelt und Entwicklung, die Gesellschaft für Informatik, Das Nettz besetzten und bespielten täglich den Stand mit Mini-Panels und ausgesuchten Redner*innen.

Marie-Luise Abshagen, Expertin für Nachhaltige Entwicklung beim Forum Umwelt und Entwicklung, sagt dazu:

Der größte blinde Fleck des IGF liegt in der Nachhaltigkeit. Zwar gibt es Austausch über die SDGs, diese bleiben jedoch weitestgehend auf dem Niveau zu überlegen, wie die Ziele mit digitalen Services und Angeboten erreicht werden können. Inwiefern die digitale Entwicklung, vor allem hinsichtlich ihres enormen und stetig wachsenden Ressourcenverbrauchs aber die Umsetzung globaler Gerechtigkeit und dem Schutz des Planeten zuwiderläuft, blieb kaum thematisiert.

Die vom BMWi eingerichtete Nachhaltigkeitsecke im Konferenzbereich, bei der durch Vorträge von NGOs und Wissenschaft über Nachhaltigkeitsfragen diskutiert wurde, war zwar recht gut besucht, lief aber außerhalb des regulären Programms. Insofern kann sie nicht als institutioneller, dokumentierter Teil des IGF gelten.

Und genau das ist bedauerlich, dass diese Diskussionen undokumentiert bleiben, da sie den Weg in die Transkripte nicht finden werden.

Ein Stakeholder hat sich nicht klein gemacht, obwohl in der Digitalpolitik lieber über ihn als mit ihm gesprochen wird: die Jugend. Panels und Workshops gab es eine Menge, die Expertiseträger dort waren leider zumeist Ü30. Dennoch sind sie es, die nach vorne segeln.

Elisabeth Schauermann von der Gesellschaft für Informatik:

Es wurde schnell klar, dass sowohl die jungen Menschen selbst als auch andere Beteiligte beim IGF die Notwendigkeit von Jugendteilhabe reflektiert einschätzen und unterstützen wollen, aber es dafür zuvor keinen globalen Rahmen gab. Mit dem Youth IGF Summit wollten wir einen Anfangspunkt schaffen und das wurde sehr positiv aufgenommen. Die Herausforderung bleibt, über das Internet Governance Forum 2019 hinaus und vor dem Hintergrund wechselnder Player einen nachhaltigen Prozess zu schaffen und auch andere Stakeholder mit ins Boot zu holen. Partizipation ist ein legitimes Kernthema der Zivilgesellschaft, muss aber von vielen Händen getragen werden, vor allem wenn es um unterrepräsentierte Gruppen geht.

Das Besondere an der Stakeholdergruppe Jugend ist, dass man ihr nicht ewig angehört — irgendwann ist man zu alt und muss der nächsten Generation das Ruder überlassen. Das fällt den Vätern des Internets schwer.

Und somit kaperte die Jugend das Open Mic bei der Closing Session. Beeindruckend war, dass mehrere Gruppen ähnliche Forderungen vertreten haben, und so mit einer globalen Stimme der jungen Generation sprachen:

Eine Redner*innen-Gruppe aus Brasilien wies auf die aktuelle Situation in ihrem Land hin, sie erzählten von Desinformation, willkürlichen Sperrungen, Diskriminierung von Minderheiten und Ausspähungen linker Aktivisten auf Plattformen.

Vertreter junger Menschen aus dem mittleren Osten und Nord-Afrika baten Marianne Franklin, Professor of Global Media and Politics aus London, dem Panel ein Statement vorzulesen:

We are a group of young people from the MENA region, and we have some questions we would like to ask:

1) all this talk about digital inclusion and connectivity, yet you failed to talk about the internet being blocked by the government and the censorship to freedom of speech and the prosecution of people who post on social media. Like what’s happening in Iraq now were over than 300 protesters were killed yet Internet blockage is preventing people from showing what the government is doing. Same goes for Egypt where the government arrests and kidnaps anyone that shares or post about human rights violation in the country.

Those big corporations like Vodafone, work with the government to oppress the people.

2) when you say one vision, who’s vision? The developed countries? And where are the developing countries from these visions?

3) all this talk about inclusion yet the major players and corporations in the forum were not when there is a talk about women, LGBTQI, youth.. etc

4) we have less than 10 years to fix what we’ve done to the environment but there was no real presence for this topic in the forum, thought all tech companies contribute in creating different types of waste that is the leading cause of climate change and global warming and other environmental issues.

Eine andere Forderung der Jugend während des Open Mic: mehr Partizipation, mehr Diversität, mehr Gleichheit für das IGF 2020 in Polen — und junge Menschen als Berater*innen in die gestaltende Runde dahinter, die Multistakeholder Advisory Group, kurz MAG, zu berufen.

Was wünscht sich der Navigator? Er will zu neuen Ufern. Er will globale Internet Governance, die das Gemeinwohl als zentralen Kompass setzt. Und dafür: Ein IGF mit Biss, mit echter Leitfunktion, ein Forum mit wegweisender Kraft für die Digitalpolitik und die Internetwirtschaft. Die Jugend in die Gremien! Zivilgesellschaft in die Entscheidungsrunden! Ein IGF, das mehr ist als eine zwar wunderbare, aber eben doch nur Fach- und Vernetzungskonferenz.

Das sind weiße Flecken auf der Karte des www, aber navigare necesse est — kartographieren kann man lernen.

Ahoi!

Nathalie Steinbart

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