HAL 9000 ist der fiktive Computer des Raumschiffs Discovery im Film von Stanley Kubrick. / Foto: Piotr Siedlecki (Public Domain)

NSA-Enthüllungen rühren an Schlüsselfrage der Demokratie

Warum das Internet seit dem 5. September ein anderes ist

Marcus Schwarze
4 min readSep 6, 2013

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Die immer neuen Enthüllungen rund um die amerikanischen und britischen Geheimdienste NSA und GCHQ rühren an der Kernfrage des demokratischen Verständnisses. Darf der Staat sich schrankenlos in private Angelegenheiten seiner Bürger einmischen? Seit gestern wissen wir: Er kann es, und er tut es. Und ob er es darf, interessiert ihn nicht. Zumindest jenseits des Atlantiks.

Der Staat namens USA geht in diesem Fall sogar so weit, Veröffentlichungen über diesen, sagen wir mal: diskussionswürdigen Sachverhalt verhindern zu wollen – keine Rede von der legendären „Bill of Rights“, dem US-amerikanischen Grundrechtekatalog, der in seinem 1. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten jegliche Einschränkung der Pressefreiheit verbietet. Aus Sicherheitsgründen, so wurde den enthüllenden Zeitungen „Guardian“ und „New York Times“ sowie dem renommierten Recherchebüro „ProPublica“ mitgeteilt, sollten die Artikel nicht veröffentlicht werden. Es gebe eine Sorge, dass Zielpersonen zu stärkeren Verschlüsselungsmechanismen wechseln könnten.

Die drei Medien veröffentlichten ihre Artikel dennoch. Sie ließen aber mit Rücksicht auf diese Sicherheitsgründe Details wie die Nennung von Skype oder dem Verschlüsselungsprogramm PGP weg.

Mehrere bislang als sicher geltende Verschlüsselungsarten lassen sich umgehen

Mit ihrem neuerlichen Versuch, die Berichterstattung zu unterbinden, haben die Geheimdienste zwei Dinge eingestanden. Zum einen, dass sie tatsächlich in der Lage sind, mehrere bislang als sicher geltende Arten der Verschlüsselung zu umgehen. Das ist neu. Wer also per Skype mit seinem Enkel telefoniert, macht das ungefähr so vertraulich wie eine Kegelgruppe aus Büsum auf Reise im Großraumabteil eines ICE: Wer mithören will, wird das unauffällig können. Wobei auf einem anderen Blatt steht, warum sich Behörden dafür interessieren könnten.

Zum anderen beweisen die Geheimdienste, dass es ein paar besondere Arten der Verschlüsselung gibt, gegen die sie noch nichts oder nur mit besonders viel Aufwand etwas ausrichten könnten. Welche Verschlüsselungsmechanismen das im Einzelnen sind, wird die Fachwelt noch eine Weile beschäftigen. https, VPN, PGP – so lauten die Abkürzungen für verschiedene Verfahren der Absicherung einer Internetverbindung oder gespeicherten Daten. Dabei gibt es selbst bei jeder dieser Methoden der Verschlüsselung noch Abstufungen, besonders starke und besonders schwache. Für den Laien, der diese Begriffe vielleicht das erste Mal hört, kann zunächst nur eines klar werden: Das Internet ist seit Donnerstagabend, 5. September 2013, ein anderes geworden. Es wird zusehends ein Netz ohne Vertrauen.

Der Laie kann seit den neuen Berichten nicht mehr darauf vertrauen, dass eine im Webbrowser als https gekennzeichnete Verbindung zu seiner Bank wirklich zu hundert Prozent abgesichert ist. Er kann auch nicht mehr sicher sein, dass eine VPN-Verbindung vom heimischen Laptop zum Arbeitgeber in der Firma nicht doch durch eine ausleitende Zwischenstation irgendwo im Netz angezapft wird. Und er kann sich nicht sicher sein, dass vermeintlich geschützte Informationen wie etwa ein Arbeitszeugnis oder Versicherungsunterlagen auf dem Server seines Rechtsanwalts absolut integer im Sinne von unmanipuliert sind.

Die Integrität von Computernetzwerken wird dem Persönlichkeitsrecht zugeordnet

Mindestens im Nachhinein sind diese Datenverbindungen mitschneidbar und damit auch nachträglich auslesbar, wenn nicht gar veränderbar. Dabei hat das Recht auf die Integrität von Computernetzwerken in Deutschland eigentlich eine so hohe Stellung, dass es dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht zugeordnet wird. Es gibt einen Richtervorbehalt dafür, ähnlich wie bei der Unverletzlichkeit der Wohnung. Nur in ganz besonders begründeten Ausnahmefällen mit höheren Gefahren darf davon abgewichen werden.

In einer Demokratie gibt es dafür Kontrolle: Wenn schon nicht ein Richter vorher die Eingriffe kontrolliert, müssen zumindest vertrauenswürdige Vertreter der Bürger, zum Beispiel Parlamentarier, die Dienste streng kontrollieren. Die aber werden mit seitenweise geschwärzten Dokumenten abgefertigt und erklären dann auch noch die Diskussion für beendet.

So sehen die “deklassifizierten” Dokumente aus, die Pofalla dem #nsa abgerungen hat. pic.twitter.com/mtbQ6WTVj0

— Thomas Oppermann (@ThomasOppermann) September 3, 2013

Die Diskussion fängt gerade erst an. Es ist ein Trugschluss zu glauben, man habe ja eigentlich nichts Wichtiges an Daten, nach dem Motto: „Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten“. So lautet ein geflügeltes Wort. Menschen aber verhalten sich anders, wenn sie sich beobachtet fühlen. Sie entfalten sich nicht wirklich frei. Und wenn schon nicht aus Sorge vor der eigenen Privatheit sollte uns doch die Sorge über die Privatheit von Schutzbefohlenen und Opfern anderer Umstände davor bewahren, die Vertraulichkeit des Wortes und der persönlichen Kommunikation mit einem Schulterzucken aufzugeben. Ließen wir dies zu, wären auch der Manipulation durch staatliche Stellen Tür und Tor geöffnet, ohne Kontrolle. Etwas Anderes und überhaupt nicht vergleichbar ist, was wir selbst von uns in den Netzen frei geben.

Die jetzigen Enthüllungen haben keineswegs gezeigt, dass die US-Behörden sämtlichen Datenverkehr entschlüsseln. Sie haben nur gezeigt, dass sie es können. Sie zeigen aber auch, dass er es gerne geheim halten möchte, unter welchen Umständen die ja durchaus sinnvoll erscheinende Arbeit der Terrorismusbekämpfung kontrolliert werden könnte. Das erregt Misstrauen. Es ist ein Misstrauen, das wenig dadurch vermindert wird, dass die USA eben in den USA ihre Dinge machen und die deutschen Behörden hierzulande. Die Komplexität der Vernetzung im Netz ist so immens, dass sich keine E-Mail und keine Webseite aus nur einem Server eines Landes bedient. Das Problem lässt sich nur global lösen. Die Kernfrage ist, ob zuvorderst der Staat seinen Bürgern vertrauen sollte oder umgekehrt der Bürger seinem Staat. Ohne eine Angleichung des Verständnisses von Staat werden Europäer und Amerikaner das Problem nicht lösen, und ohne Kompromisse wird es auch nicht gehen.

Von Marcus Schwarze, Redakteur Rhein-Zeitung

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Marcus Schwarze

Onlinechef bei der Berliner Morgenpost. Zugereister. Zuvor bei der Rhein-Zeitung und der HAZ.