Dinge sind Erinnerungen. Erinnerungen sind Dinge. Mit Kurt Schwitters

Aus der Serie “Very Personal Effects” (Sehr persönliche Dinge)

Vladimir Alexeev
InterMERZ
3 min readAug 2, 2023

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Version in English.

Das Schlimmste am Festhalten der Erinnerungen ist nicht der Schmerz. Es ist die Einsamkeit, die es mit sich bringt. Erinnerungen müssen geteilt werden.

Dieses Zitat aus “The Giver” von Lois Lowry spiegelt jene seltsame Einsamkeit wider, die jedem Menschen innewohnt. Wie auch immer verbunden und von anderen Menschen umgeben man auch sein mag, seine innere Welt schwankt ständig zwischen zwei Extremen:

☞ sie will eine geheime Privatsphäre eines Individuums bleiben,
☞ sie will die Welt an sich teilhaben lassen.

Wir sind alle von unseren Erinnerungen umgeben, wir sind alle von Dingen umgeben. Die materiellen und emotionalen Konstruktionen sind in unserem Geist miteinander verwoben. Ihre ewige Metamorphose ist eine Wahrheit, mit der wir nicht gerne umgehen:

Wer mag schon die Tatsache wahrhaben, dass sich unsere Erinnerungen ständig verändern und für uns langsam zu “Fake-News” werden?

Die materiellen Dinge helfen den Erinnerungen, mehr oder weniger stabil zu bleiben. Und selbst wenn sich die Erinnerungen um die Dinge herum verändern — die Dinge tun es nicht. Deshalb möchte ich Ihnen meine ganz persönlichen Dinge vorstellen — in meiner Serie “Very Personal Effects”. Ich zeige euch Dinge und erzähle meine persönlichen Erinnerungen daran — und ihre Verflechtung mit der ganzen Welt. Meinen ersten Beitrag haben Sie sicherlich in meiner “Kremlin Experience” gelesen (wird zu Zeiten noch ins Deutsche übertragen).

Schwitters in a Cup.

Ich war einmal in einem Allerwelts-Laden. Dort gibt es viel kitschiges und altes Zeug. Kisten und Lampen für Deine nächste Gentrifizierungsparty. Besteck mit dem inneren Anspruch, als Kunstgegenstand gesehen zu werden. Bilder, die du garantiert nicht an deine Wand hängst, es sei denn, du willst deine Hipsterträume ausleben.

Verlasse das Simulakrum!

Und dann, inmitten all dieser Dinge, rief mich jemand. Es war kein menschliches Wesen. Es war ein Text.

What a b what a b what a beauty
What a b what a b what a a
What a beauty beauty be
What a beauty beauty be
What a beauty beauty beauty be be be
What a be what a b what a beauty
What a b what a b what a a
What a be be be be be
What a be be be be be
What a be be be be be be be a beauty be be be
What a beauty.

Ich kannte den Text nur zu gut. Es war ein Gedicht von Kurt Schwitters, geschrieben in Englisch 1944. Nach all seinen Peripetien (Flucht vor den Nazis, Leben auf der einsamen Insel in Norwegen, Deportation in das Hutchinson Internierungslager, “das Künstlerlager” auf der Isle of Man) lebte er bis zu diesem Zeitpunkt in London. 1944 erlitt er seinen ersten Schlaganfall.

Kurt Schwitters, Four Portraits — 1944

Es war harte Zeit, doch er sah die Schönheit im Sein. Wie immer. Beauty in the Being.

Beauty in a Be.

beauty in a b

Und jetzt — in diesem kitschigen Laden habe ich einen Kaffeebecher gefunden. Irgendein Designer hat sich überlegt, dieses weniger bekannte Gedicht eines weniger bekannten Dichters auf eine Tasse für die Massenproduktion zu übertragen.

Er oder sie rettete die Erinnerungen aus dem Sog des Vergessens und übertrug sie in die weite Welt.

Die Einsamkeit war besiegt. Alles ist miteinander verbunden.

Ich war tief berührt. Ich habe die Dialoge über Jahrhunderte hinweg gehört. Die Erinnerungen sind gerettet.

What a Beauty.

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Vladimir Alexeev
InterMERZ

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