Insektuelle und Literaupen

Zhu Yingchun und seine unmenschlichen Mitautor:innen

Vladimir Alexeev
InterMERZ
4 min readMay 20, 2022

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English version

Wenn Sie denken, Sie haben auf der Buchmesse bereits alles gesehen, dann warten Sie mal ab! Denn plötzlich — inmitten der digitalen Innovationen und des originalgetreuen Faksimiles von Voynich Manuskript, inmitten der AR/VR/PR-Wirrwarr, inmitten der babylonischen Sprachverwirrung stolpern Sie plötzlich über dieses gar seltsame Buch.

Das Buch besteht aus Gedichten, Kurzgeschichten samt akkuratem Inhaltsverzeichnis.

Doch in welcher Sprache ist es denn verfasst?

Eine Kunstsprache à la Codex Seraphinianus?
Falsch.
Asemisches Schreiben?
Falsch.
Kodierte Schrift?
Ebenso falsch.
Was ist das? Wer hat’s geschrieben?

Käfer. Spinnen. Und andere Vielbeiner.

Das Buch “The Language of Bugs” ist herausgegeben vom chinesischen Künstler Zhu Yingchun. Dieser bescheidene Mann, hier ganz unscheinbar am Stand der Universitären Verlagsgruppe “Guangxi Normal University Press” sitzend, ist übrigens als Künstler des Jahres 2018 in China nominiert.

Er stellte im Laufe mehrerer Jahre Unmengen von Papier seinen eigentlichen Ko-Autoren zur Verfügung: dem Ungeziefer… nein, der Begriff „Ungeziefer“ wäre eine Diskrimination. Sagen wir: Insekten.

Oder: Insektuelle und Literaupen.

Sie haben viel zu sagen.

Leicht in die Tusche getunkt, werden sie freigelassen, und wandern so durch Tabula Rasa wie Erst-Entdecker an unbekannten Pfaden des neuen Kontinents. Oder fressen sich durch die Baumblätter in arabesken Mustern.

Die unzähligen Spuren, die sie hinterließen, wurden zum Buch. Zeichen für Zeichen wurden sie zu Texten. Zhu Yingchun hat die Rolle des Beobachters übernommen, wie er in diesem Kurzfilm erklärt:

Hier nimmt er die interessante, gar dadaistische Position eines Luigi Serafini ein: die Kinder könnten dieses Buch am ehesten lesen. Und verstehen. Für sie ist das visuelle und informative, das vor-sprachliche und das vor-schriftliche noch verschmolzen. Sie kommen ohne konventionelle Verstarrtheit an die Lektüre ran.

Übrigens hatte er auch einige Lithographien aus diesen enigmatischen Zeichen erstellt. Am Stand des Verlages kann man sich selbst einen Abdruck des Insektenmeisterwerks erstellen.

Zuerst bestreicht man die aus den Käfermanuskripten erstellte Presse mit der feinsten Chinesischen Tusche.

Dann legt man das ebenso feinste chinesische Xuan-Papier darauf — dieses Papier ist extra für Kalligraphie vorbehalten.

Dann presst man das Papier reichlich mit Walze, damit die Tusche aufgesaugt wird.

Vorsichtig abziehen, damit das hauchdünne Reispapier nicht reißt.

Und fertig!

Und jetzt noch vom Autor unterschreiben lassen…

Wartet mal, ist er denn der eigentliche Autor? Ist es nicht vermessen, sich die Werke der anderen zu eigen zu machen?

Ja, er hat sich rechtlich abgesichert. Er ist der Verleger, er ist der Mäzen und Kurator, er ist auch der Autor, ohne wessen Koordination die Manuskripte nie das Licht der Welt gesehen hätten.

So wie wir, KI-Künstler, ohne deren proaktive Teilnahme die Träume der Maschinen nie publik geworden wären.

Nicht, dass ihn PETA verklagt, wie jenen Photographen mit dem Affen-Selfie.

So sitzt der bescheidene Zhu Yingchun am Stand seines Verlages und liest ein Buch. Manchmal jedoch, wie mir eine Verlagsmitarbeiterin verraten hat, geht er durch die Buchmessenhalle spazieren. Mit einer riesigen Spinne an seiner Schulter. Die Spinne bewegt sich kaum. Sie ist seine Ko-Autorin, eine der vielen. Zhu Yingchun nennt sie alle “Nachbarn”.

Diesen Beitrag habe ich 2017 geschrieben, während meiner Besuche bei der Frankfurter Buchmesse. Einige Jahre später erschien ein weiters Buch von Zhu Yingchun: Cacaform Birds. Über dieses mysteriöse Buch berichte ich Ihnen ein anderes Mal.

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Vladimir Alexeev
InterMERZ

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