Die gefilterte Realität

Leonie Mayr
Jung von Matt TECH
Published in
4 min readAug 25, 2023

“Pass doch auf!”

Dieser Satz ist uns allen sicher schon einmal mit scharfem Unterton über die Lippen gekommen:

A) Jemand rempelt uns an (= Reiz).

B) Wir fühlen uns angegriffen (= individuelle Interpretation).

C) Wir reagieren mit Worten, die der Lösung des Konflikts nicht helfen, sondern die Situation vielleicht sogar verschlimmern (= Reaktion).

Vor allem auf einen Reiz, der uns triggert, ist es besonders schwierig, gelassen zu reagieren. Wahrscheinlich wünschen sich die meisten von uns mit solchen Situationen professioneller und entspannter umgehen zu können. Aber wie schaffen wir das?

Zunächst einmal können wir uns bewusst machen, dass wir sekündlich ganz verschiedene Reize erleben. Ein Reiz muss nicht von einer anderen Person ausgelöst werden, der Auslöser kann auch ein Sonnenstrahl oder ein Regentropfen sein. Alles, was von außen kommt, wird in diesem Kontext als Reiz bezeichnet. Unsere (implusiven) Reaktionen auf diese Reize fallen sehr individuell und in unterschiedlichster Form aus. Sie unterscheiden sich je nach aktueller Stimmung, persönlicher Erfahrungen und Beziehung von Person zu Person.

Mal freuen wir uns über den Regen, mal ärgern wir uns über den Regen.

Schon an diesem einfachen Beispiel wird ersichtlich, dass es nicht die eine richtige oder falsche Bewertung einer Situation gibt, sondern, dass die Bewertung auf unserer persönlichen Interpretation basiert.

Was uns im Umgang mit unseren Gefühlen und dem Miteinander mit Kolleg:innen, Familie, Freund:innen helfen kann, ist, sich dem Raum zwischen dem Reiz und der Reaktion bewusst zu werden.

In den meisten Situationen befinden wir uns für Millisekunden in diesem Raum und fällen unser Urteil, indem wir beispielsweise das Gesagte des Gegenübers interpretieren. Das bedeutet, unsere Bewertung des Reizes (auch Stressor genannt) findet in Millisekunden und häufig unbewusst statt. Ich unterstelle nun hiermit einmal den meisten Menschen, dass sie diesen sehr persönlichen Raum gar nicht so genau kennen. Doch genau dort passiert die Magie. Dort haben wir die Freiheit, uns einen Moment zurückzunehmen, um uns über unseren aktuellen Gefühlszustand klar zu werden. Denn während wir kurz innehalten, um eventuelle übliche Reaktionsmuster unsererseits wahrzunehmen, können wir bewusst entscheiden, wie wir dieses Mal reagieren möchten. Wir haben unsere Interpretation der Situation selbst in der Hand, unabhängig vom äußerlichen Reiz.

Im Raum des Innehaltens entsteht unsere individuelle Bewertung der Situation.

Unsere Realität setzt sich aus der objektiven Wahrnehmung und der subjektiven Beurteilung einer Situation zusammen. Es handelt sich somit um eine gefilterte Realität. Mit der Vorstellung oder dem Wissen, dass jede Person sich in der eigenen Realität befindet, kann es einfacher werden, in Konfliktsituationen Worte nicht auf sich persönlich zu beziehen und gleichzeitig auf die gegenüberstehende Person mitfühlend einzugehen. Schon allein das Verständnis, dass die gegenüberstehende Person heute bereits viel erlebt hat und durch andere Stressoren gereizt sein könnte, kann eine entspanntere Sichtweise auf die Reaktionen und Worte geben, die uns entgegengebracht werden.

Das erfordert natürlich einiges an Übung und bevor der ganz persönliche Raum in herausfordernden Situationen so genutzt werden kann, wie wir uns das wünschen, benötigt es zunächst Trainingseinheiten in Situationen, die für uns alltäglich und emotional gesehen neutral besetzt sind.

Den Raum zu nutzen, um einen Moment aus der Situation zurückzutreten, können wir einerseits während der Meditation, andererseits im Alltag lernen. Eine einfache Alltagsübung um sich über seine Gedanken, Taten, Vorurteile und Muster bewusst zu werden, ist, sich einen alltäglichen, sehr einfachen Vorgang herauszusuchen, wie z. B. die Wohnungstür aufschließen und diesen Vorgang ganz genau zu beobachten. Anhand dieses regelmäßig ausgeführten Vorgangs können wir wahrnehmen, welche Bewegungen wir in dem Moment machen, welche Muskeln wir dafür benötigen, welche Gedanken und Gefühle währenddessen auftauchen. Das hört sich vielleicht banal an. Doch auch 5–10 Minuten Meditation mit Beobachtung des Atems hört sich banal an und kann eine durchaus fordernde Praxis werden.

Mit kleinen regelmäßigen Übungen ist der erste Erfolg die bewusste Wahrnehmung unserer Reaktion, während der eigentlichen Reaktion.

Denn sobald wir eine gewisse Offenheit entwickelt haben, besteht die Möglichkeit auch in herausfordernden Situationen immer mal wieder den Blickwinkel zu wechseln. Wir können lernen, gewohnte Denkmuster wahrzunehmen und anschließend zu durchbrechen, versuchen möglichst wertfrei zu beobachten und uns von der Denkweise “Das kenn ich schon, ich weiß alles darüber” zu lösen.

Mit Meditation und den Übungen können wir gezielten Einfluss auf unseren Geist nehmen, der sich wie ein Muskel stetig verändert und weiterentwickelt. Und wer weiß — vielleicht reagierst du beim nächsten Zusammenstoß schon viel gelassener und fragst die Person sogar, ob bei ihr alles in Ordnung ist?

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