Salzburger Festspiele — Foto BS 2020 08

Die Salzburger Festspiele gingen in diesem Corona-Sommer mutig voran: Eine Absage wollten die Festivalmacher unbedingt vermeiden, und so entwickelten sie ein mutiges, aus der Not geborenes Festival unter Covid-19-Bedingungen: Maßstab waren die von der österreichischen Regierung maximal erlaubten eintausend Sitzplätze in den über 2.300 Besucher*innen fassenden Festspielhäusern, die in einer Art erweitertem Schachbrettmuster verkauft wurden. Etwa 80.000 statt der üblichen 240.000 Karten gelangten so in den Verkauf, allesamt personalisiert, beim Haupteingang musste man seinen Ausweis vorzeigen. Kein Programm dauerte länger als zwei Stunden, die bejubelte Cosi fan tutte mußte um einige Nummern gekürzt werden. Keine Pausen, keine Buffets und Champagnerbars vor, zwischen oder nach den Aufführungen, wenig Gelegenheit zur Selbstinszenierung der Hautevolee also. Dafür Mund-Nase-Bedeckungs-Pflicht bis und vom Sitzplatz aus und ein Fächer-Verbot. Und die Aufführenden mussten sich an ein strenges Kontrollsystem mit regelmäßigen Tests und möglichst wenigen Außenkontakten halten (und man konnte die Musiker*innen dennoch entspannt durch Salzburg streifen sehen). Krise als Chance? Ganz sicher: Das Publikum nahm an den Aufführungen gebannt und in einzigartiger Stille teil, kaum je auch nur ein kleines Hüsteln. Die Künste standen im Zentrum bei dieser denkwürdigen Jubiläumsausgabe der Salzburger Festspiele, und der beispiellose künstlerische Erfolg gab den Festivalmacher*innen recht. War dem Festival vorher noch ein zweites Ischgl vorausgesagt worden, stellte sich heraus: Keine einzige Besucherin, kein einziger Besucher unter den 80.000 hatte sich mit dem Covid-19-Virus angesteckt. Dieser Erfolg sollte der Konzertszene Vorbild sein, die Erfahrungen der Salzburger Festspiele müssten Konzert- und Opernhäusern eigentlich Auftrieb geben, mit ähnlich sorgfältigen und vorsichtigen Hygiene- und Sicherheitskonzepten mit etlichen Besucher*innen die Saison 2020/21 in Angriff zu nehmen. Mit reduzierten Publika, aber doch voller Zuversicht und Mut, dass die Musik wieder stattfinden kann.

Doch weit gefehlt. Ein Sammelsurium unterschiedlichster Auflagen und Bestimmungen, in aller Regel geboren aus Mutlosigkeit und bürokratischer Übervorsicht, macht jedenfalls die bundesdeutsche Klassikszene zu einem Flickenteppich vergeblicher Hoffnungen und vertaner Chancen. Zum Beispiel beim Berliner Pierre Boulez Saal: Dort hatte sich Intendant Ole Bækhøj zum Saison-Eröffnungskonzert mit Daniel Barenboim ein ähnliches System wie in Salzburg ausgedacht: Schachbrettmuster, also ein freier Platz vor, neben und hinter jedem Gast, mindestens 1,5 Meter Abstand, gemessen von Körpermitte zu Körpermitte wie in Salzburg, was einen Meter Abstand um jeden Sitzplatz in alle Richtungen gewährleistet — und zusätzlich sogar die Verpflichtung, während der gesamten Aufenthaltszeit im Gebäude den Mund-Nase-Schutz zu tragen, also, anders als in Salzburg (und übrigens auch in der Berliner Philharmonie), auch während der Konzerte (was mir generell eine sinnvolle Maßnahme zu sein scheint, angesichts der Studien, wonach sich Aerosole ja binnen kurzer Zeit im Raum verbreiten). Doch all die detaillierte und sorgfältige Vorarbeit war vergebens: In Berlin misst man von Körperrand zu Körperrand, basta. Und so „bat“ Bezirksstadtrat Gothe (SPD) den Boulez Saal wenige Stunden vor dem ersten Konzert dringend, die Auflagen der Berliner Kulturverwaltung zu respektieren; das Hygienekonzept des Boulez Saals lag dem zuständigen Gesundheitsamt übrigens etliche Tage vor.

Die Berliner Philharmonie setzt die Auflagen der Kulturbehörde geradezu preußisch-pedantisch und, so scheint es, mit freudigem Eifer um: Von den 2.250 Plätzen stehen nur zwischen 20 und 25 Prozent zur Verfügung. Die Besucher*innen werden mit einem albernen Farbleitsystem an ihre Plätze geführt: Wer den „roten Pfad“ einschlagen soll, muss einmal rund um das Gebäude zum sonst nicht genutzten Hintereingang gehen. Am bisherigen Haupteingang werden Grün, Blau und Lila auf die drei Türen verteilt — am Sonntagnachmittag bildete sich vor „Grün“ eine veritable Schlange (mit nicht einmal einem Meter Abstand…), während bei Blau und Lila niemand stand — dennoch wurden die Menschen mit grünem Pfad nicht etwa auf die drei Eingangskontrollen verteilt, man zieht sein „Sicherheitskonzept“ eisern durch. Es geht darum, „eine Begegnung mit anderen Gästen zu vermeiden“, wie es auf der Homepage der Philharmonie heißt — die Farbverteilung vor dem Haupteingang erzeugt leider genau das Gegenteil. Und sobald die Besucher*innen dort die Kartenkontrolle hinter sich haben, sind sie wieder gemeinsam im dystopisch anmutenden, riesigen, leeren Eingangsbereich. Bei der Treppe zu den Sälen wird wieder farblich sortiert, grün linke, blau rechte Treppe. Auf halber Höhe allerdings werden alle auf einer gemeinsamen Treppe zusammengeführt — die Regeln sind an kafkaesker Absurdität kaum zu überbieten.

Im Saal schließlich werden die Plätze innerhalb der Blöcke zugewiesen, man kann keinen bestimmten Sitzplatz buchen; im Gegensatz zu Salzburg scheint das Reservierungssystem in Berlin noch der digitalen Steinzeit verhaftet zu sein und nicht entsprechend programmierbar zu sein. Die Garderoben sind in Berlin, anders als in Salzburg, gar nicht erst besetzt. Alle Besucher*innen müssen noch einen Fragebogen mit allen persönlichen Details inklusive Telefonnummer ausfüllen und beim Ausgang abgeben, obwohl die Tickets bereits personalisiert sind. Lang lebe die deutsche Bürokratie! Personal der outgesourcten Firma bringt dann jeden Gast einzeln an den Platz, nach uneinheitlichen Kriterien: Am Freitagnachmittag werden die Menschen von außen nach innen gesetzt, wer also als erster kommt, sitzt weit außen — first come, worst serve. Die Einteilung erfolgt nicht selten ausgesprochen unfreundlich und mit Berlin-typischer Aggressivität: Ein weiblicher Hygiene-Ayatollah beispielsweise herrscht einen älteren und etwas gehbehinderten Besucher an, er solle sich beeilen, sie habe schließlich noch zu tun. Am Freitagabend dagegen werden wir gefragt, ob wir innerhalb des Blocks lieber vorne außen oder weiter hinten, dafür mittig sitzen wollen. Und am Sonntagnachmittag haben wir von den zentralen Mittelplätzen der sechsten Reihe freie Sicht auf den Cellisten: In den fünf Reihen vor uns wurden mittig gar keine Besucher platziert.

Im Leipziger Gewandhaus dagegen? Hat man ebenso wie in Salzburg nach der üblichen Kartenkontrolle einfach so Zugang in den Saal und darf selbständig den vorher fest gebuchten Platz aufsuchen.

Generell sehnt man sich nach der heiter-freundlichen Gelassenheit zurück, mit der die Corona-Restriktionen vom Personal der Salzburger Festspiele gehandhabt wurden. Und natürlich nach wenigstens etwas volleren Sälen. Die vielleicht gut 400 Besucher*innen in der Berliner Philharmonie verteilen sich vereinzelt in dem riesigen Saal. Keiner kommt mit anderen in Berührung, alle bleiben allein. Sicher, es ist durchaus angenehm, dass das einschlägige Hustenkonzert zwischen den Sätzen ausbleibt, aber nicht nur in Rockclubs, auch in Klassiksälen kommt kein „Konzerterlebnis“, kein Gemeinschaftsgefühl auf, wenn Menschen derart weit voneinander distanziert werden. Und eine kleine Nachbemerkung: Auf dem Rückweg im Bus wie immer große Nähe der Menschen zueinander, etwa ein Viertel davon ohne Maske unterwegs oder mit „Nasenpimmel“; eine Masken-Kontrolle im Berliner ÖPNV habe ich noch nicht erlebt. Und blickt man in die Fenster von Restaurants und Bars, sieht man, wie die Corona-Regeln massiv missachtet werden, ohne dass das irgendjemand zu stören scheint. Die Übererfüllung der Corona-Sicherheitsvorkehrungen im Konzertwesen der Stadt scheint deutlich indirekt proportional zu anderen Bereichen des öffentlichen Lebens zu sein…

Damit wir uns nicht missverstehen: Corona-Sicherheitsmaßnahmen sind absolut sinnvoll und notwendig, jeder vernünftige Mensch wird einsehen, dass Konzerte nicht einfach wieder in proppenvollen Sälen stattfinden können. Aber mit den Erfahrungen aus sechs Monaten „Coronära“ müssen Hygienemaßnahmen mit Augenmaß umgesetzt werden. Und vor allem ist es dringend notwendig, dass die Diskussion um eine weitergehende Öffnung von Konzertsälen, Theatern und Opernhäusern in der Öffentlichkeit und in Parlamenten und deren Ausschüssen geführt wird, also dort, wo sie in einer Demokratie grundsätzlich hingehören. In den ersten Wochen der Pandemie war der Verordnungsstaat sinnvoll, es ging schließlich darum, rasch die weitere Ausbreitung des Virus zu verhindern. Diese Dringlichkeit ist jedoch aktuell nicht mehr gegeben (was nicht heißt, daß sie nicht auch wieder zurückkehren kann…). Jetzt wäre es nötig, die Bedingungen des Konzertbetriebs auf breitere Schultern zu legen — und vor allem: den kulturellen Institutionen zu vertrauen. Kein Konzertsaal, kein Opernhaus, kein Theater hat doch Interesse daran, dass es im laufenden Betrieb zu Ansteckungen kommt; alle Intendanten und Verantwortlichen, die ihre Häuser besser kennen als alle anderen, werden sorgsame Hygienemaßnahmen vorbereiten, um den Menschen einen sicheren Konzertbesuch zu ermöglichen (und die jeweiligen Hygiene- und Sicherungskonzepte sind ja sowieso von den zuständigen Ämtern zu genehmigen). Und es erscheint sinnvoll, die Verantwortung für die Sicherheit der Besucher*innen und Musiker*innen mit den Intendanten der großen Bühnen zu teilen, wie es der Berliner Kultursenator diese Woche durch die Lockerung der Abstandsregel in der neuen Fassung des Berliner Hygienerahmenkonzepts für Berliner Kultureinrichtungen vorsieht.

Denn warum in Salzburg über 1.000 Menschen im Schachbrettmuster im Konzert sitzen dürfen, wenige Kilometer weiter in Bayern dagegen maximal 200 Gäste in geschlossenen Räumen erlaubt sind (mittlerweile hat Ministerpräsident Söder einen „Probebetrieb“ im Nationaltheater und im Gasteig mit bis zu 500 Menschen genehmigt, bei z.B. 2.400 Plätzen im Gasteig), in Baden-Württemberg 500, im benachbarten Basel 1.000 im für 1.300 Besucher*innen zugelassenen neuen Stadtcasino; warum im Leipziger Gewandhaus 800 Menschen eingelassen werden und in der Kölner Philharmonie dank „besonderer Rückverfolgung“ der Gäste auch ohne Mindestabstand von anderthalb Metern ein Konzertbetrieb mit bis zu 1.000 Gästen erlaubt ist, in Berlin bisher unter ähnlichen Bedingungen dagegen nur maximal 25 Prozent der Plätze belegt werden dürfen — das alles versteht kein Mensch, und es macht auch überhaupt keinen Sinn. Angst ist ein schlechter Ratgeber.

Wir benötigen eine neue Normalität im Konzertwesen — mit Augenmaß und unter Berücksichtigung aller inneren (Saalgröße, Belüftungssysteme, Zugänge usw.) und äußeren (Neuinfektionen, Entwicklung der Infektionszahlen etc.) Bedingungen, aber auch mit realistischen und bundesweit einheitlichen Kriterien — „einheitlich“ dergestalt, dass bei vergleichbaren Bedingungen (zum Beispiel Sitzplätzen und Belüftungsanlagen) auch gleich viele Menschen Zugang finden (und das natürlich auch nur solange, wie es keine regionalen Infektionscluster gibt). Natürlich ist dafür eine fest eingebaute maschinelle Belüftung, die eine Frischluftzufuhr und einen Luftaustausch entsprechend der maximalen Personenzahl gewährleistet, ebenso Voraussetzung wie das Tragen von Mund-Nase-Bedeckungen (und ob diese auch tatsächlich korrekt getragen werden, darf ruhig so freundlich wie bestimmt kontrolliert und eingefordert werden, wie es beim freundlichen und hilfsbereiten Personal der Salzburger Festspiele die Regel war). Und es sollte ein institutionalisierter Austausch über die jeweiligen Erfahrungen in den einzelnen Kommunen und Bundesländern verbindlich eingerichtet werden — von Erfahrungen der anderen (und auch der Nachbarländer) können alle lernen.

Die Pandemie erfordert von allen Menschen ein neues Denken. Aber es geht auch darum, neues Vertrauen zu gewinnen, dass vernünftige Menschen gemeinsam ein sicheres Kulturerlebnis in den Konzerthäusern, Opern und Theatern organisieren können.

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Berthold Seliger
Klassikwelten — Konzerterlebnisse in der Coronära

Publicist, writer, concert agent. Books: “Das Geschäft mit der Musik” (2013), “Klassikkampf” (2017), “Vom Imperiengeschäft” (2019). www.bseliger.de