Das Katzenstreu

Waren, Wischen, das Tun und Lassen

wandrick
krachkultur zwo

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Was wiegen Waren, wie tief dringen sie ein?

Als mich heut am Gleis das Katzenstreu erblickte, meinte ich das Gewicht zu spüren. Symbiosen. Innere Warenform. Schnell noch die App gewischt.

Es war alles da.

Das Katzenstreu. Hermannplatz, 1. April 2014

Was mich eigentlich an der ganzen Debatte um wo und wie wir überwacht werden stört, ist der viel zu naive Begriff von Regierung. Warum nicht von Corporatocracy sprechen? Wie kritisch auch immer Regierungen, insbesondere die amerikanische, momentan diskutiert werden mögen, letztlich wird die „nützliche Fiktion der Demokratie“ nur noch gestützt, um Chris Hedges zu zitieren. Schließlich gibt es ja Lobbyisten. Viele. Also kurz gesagt, wenn Regierungen spionieren, dann spionieren im Prinzip Firmen. Was hat das nun mit Katzenstreu zu tun?

Vielleicht noch einen Schritt zur Seite oder nach vorn. Ich bin überwältigt von Zeynep Tufekcis Essay Is the Internet good or bad? Yes. Ein episches Eindringen in das ganz große Netz, ein so tiefes Eindringen, dass es die Enge in diesem Netz umso spürbarer macht, nicht nur im weiter schrumpfenden türkischen Netz. Tufekci greift einen Fall auf, der in den USA durch den Journalisten Charles Duhigg bekannt wurde. Einer der größten Einzelhändler der USA, Target, hatte einer Teenagerin Coupons geschickt, mit denen Produkte für Babys und Schwangere günstig zu erwerben waren. Der Vater beschwerte sich bei Target, musste sich jedoch bald wieder entschuldigen. Seine Tochter war wirklich schwanger. Durch Auswertung von Kundendaten und Konsumverhalten wusste Target bereits vor ihr davon. Wenn Target hier sogar ohne das Netz ausgekommen sein mag, sozusagen analoger Kundenkontakt, was ist dann erst im Netz möglich?

Personalisiertes Marketing ist ja nichts Neues. Die Frage ist nur, wie weit man bereit ist zu gehen, um an diese Person zu gelangen, an die potenzielle Käuferin, den potenziellen Käufer. Auch ist bekannt, wie lohnend es sein kann, ein Begehren zu schaffen, welches dann befriedigt werden will. Indem Tufekci den von mir oben behaupteten naiven Begriff von Regierung nur streift, legt sie doch einen entscheidenden Zug frei und beleuchtet die Ware von innen und außen. Ich will hier gar nicht abzielen auf einen eventuellen — und schauerlichen, abstoßenden — Gedanken von menschlicher Reproduktion in Warenform. Was mich hier umtreibt, ist die Frage nach dem Gewicht auf den Schultern, dem Gesicht als Ware, oder wie sich das anfühlt.

Platt ausgedrückt. Und als Bildbeschreibung. Jene Person am Hermannplatz, die das Katzenstreu lässig und durchaus kreativ schultert und die ich hier einfach das Katzenstreu nenne, konnte ja noch Wischen, vielleicht ab und zu daneben- oder zu früh gewischt, schließlich lastete die Ware auf den Schultern. Die Sehnen warenförmig, aber Wischen geht noch (und jetzt sind mir irgendwelche Fotovergrößerer echt egal, die nachweisen wollen, dass das Katzenstreu ja nichtmal ein Smartphone hat, sondern ein altes 5110; es geht hier ums Prinzip!). Von außen nach innen und zurück. Das „Verschwinden des Außen“ wurde jüngst im Berliner Haus der Kulturen der Welt verhandelt. Das Eindringen der Ware nicht zuletzt auch im Zuge progressiver, kreativer Selbstverständnisse. Die Kulturtechnik des Wischens ist ja wie kaum eine andere Geste verbunden mit kapitalistischen Hippies. Seraphine Meya bringt es auf den Punkt:

Man möchte meinen, es gab genug kluge Menschen, die alternative Wege erdachten. Und trotzdem sind wir heute an dem Punkt, an dem wir sind.

Was also noch tun, was lassen?

Wenn die Werkzeuge der Kritik aus dem gleichen alternativen Repertoire stammen, welches heute leicht bis schwer verdreht in mittelständischen Strategiepapieren wiederzufinden ist. Das ist, besser gesagt, das war der neue Geist des Kapitalismus, wie Chiapello und Boltanski bereits vor einer Dekade zeigten. Was ist der aktuelle Geist? Was tun, was lassen?

Milo Rau wirft diese Frage angesichts schwächelnder linker Geschichtslehrer-Romantik auf. Mit einer critique automatique kommt man nicht weiter. Ein bißchen so, wie oben angeschnitten: Die Regierung zu kritisieren, setzt voraus, dass es das noch gibt, eine neutrale Regierung. Das Herumgestichel, die geläufige Kritik an der Ware, durchaus verbreitet im Kulturbetrieb, greifen zu kurz, wie Rau zeigt:

Denn all diese Aktionen, all diese „Herausforderungen“ des Kapitalismus oder des Zuschauers, spielen natürlich das gleiche Spielchen, das die Inspektoren im real existierenden Kommunismus spielten: Sie tun so, als würde tatsächlich noch jemand glauben, dass die Dinge grosso modo okay laufen und man nur ein bißchen am Schräubchen drehen muss, damit alles schön in Ordnung bleibt.

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fotos, soweit nicht anders angegeben, sind von mir. @wondrick