Das Prinzip Verantwortungslosigkeit

Matthäus Leidenfrost
Krater Magazine
Published in
3 min readFeb 23, 2021

Wohin geht die Wut?” titelte die Zeit vor einigen Wochen, so als wäre das nicht schon lange offensichtlich. Die sogenannten Querdenker verbergen ihren Antisemitismus nur schlecht hinter altbekannten Codewörtern. Die Frage wohin die Wut geht, unterstellt, dass diese Wut gerechtfertigt sei und nur in der Form ihrer Äußerung problematisch (sonst würde man fragen: Warum die Wut?). Die bürgerliche Zeitung versucht die Wutbürger zu verstehen, denn wo Wut ist, muss wohl auch Unrecht sein.

Und ja Unrecht und damit Grund für Wut gibt es reichlich, die Welt ist voll davon, nur eben nicht hier; im Einfamilienhaus mit dem Benz vor der Tür. Und trotzdem ist es eben jener kleinbürgerliche Mittelstand, der heute auf die Straße geht, um gegen Merkel und Masken zu demonstrieren, als ginge es nicht um Leben und Tod. Der doch nicht so kleine Mann nimmt für sich das Recht in Anspruch, wütend zu sein und deswegen Gehör zu finden.

Dabei ist Wut schon eine Verharmlosung — Hass wäre treffender. Und dieser schlägt denen entgegen, die den Status Quo in Frage stellen. Niemand möchte daran erinnert werden, dass unser Wohlstand weder gerecht noch selbstverständlich ist. Die liebsten Freizeitbeschäftigungen wie Auto fahren, bei H&M einkaufen und sich beim wohlverdienten Billigschnitzel über Frauen, Ausländer, Schwule und so weiter amüsieren, werden plötzlich fragwürdig. Die Corona Krise und die damit einhergehenden Beschneidungen bringen das Fass zum überlaufen.

Das Leben, wie wir es hier bisher geführt haben, befindet sich in der Krise. Nicht nur ökonomisch oder infektiologisch sondern vor allem moralisch. Lange Zeit genoss man im Westen die große Freiheit materialistischer und ökonomischer Selbstverwirklichung. Den Preis dafür zahlen andere. Aber die Konsequenzen lassen sich nicht länger ignorieren: Die sogenannte Migrationskrise, eine Antwort auf die extreme Ungleichheit; die Klimakrise; das Aufbrechen der Widersprüche der angeblich freien und gleichen Gesellschaft durch Black Lives Matter und MeToo und selbst die Pandemie als menschengemachte Katastrophe des steigenden Fleischkonsums.

All diese Krisen kommen nicht von irgendwo her, wie eine Strafe Gottes, sondern sind notwendige Konsequenzen unserer Lebensumstände. Sie sind die direkte Folge der extremen Ausprägung der liberalen Konsumgesellschaft.

Die Freiheit die sie meinen

Was soll das eigentlich sein, diese Freiheit? Bild: Die Freiheit (Arnold Böcklin, 1891)

Wenn jetzt also ein Mob das Kapitol stürmt um “die Freiheit” zu beschützen, dann ist das erstaunlicherweise gar nicht falsch. Denn tatsächlich hat sich sehr langsam, bis in die höchsten Gremien des Staates, die Einsicht durchgesetzt, dass gewisse Einschränkungen der Freiheit notwendig sind, wenn sonst die Freiheit anderer gefährdet wäre. So schreibt der Philosoph Hans Jonas in seinem Ende der 1970er Jahre erschienenen Werk “Das Prinzip der Verantwortung”, dass unsere überragenden technischen Möglichkeiten, die die Welt grundlegend verändern können, uns verantwortlich für zukünftige Generationen machen. Aber an diese Verantwortung erinnert zu werden überfordert scheinbar so einige.

Zugegeben, die eigene Verantwortlichkeit ist in unserer komplexen Welt gar nicht so einfach zu erkennen, besonders wenn man absichtlich in die andere Richtung blickt. Das Ignorieren der Zusammenhänge und die Überforderung mit der Welt sind der wahre Grund für Wut und Hass. Nur wer intellektuell in den 80er Jahren stecken geblieben ist und meint, die Welt wäre doch eigentlich in Ordnung, kann sich den eigenen Wohlstand und Luxus vor dem Elend des Rests der Welt erklären.

Dass diese Ordnung heute in Frage gestellt wird (von Minderheiten!), bringt jene, die es sich darin gut eingerichtet haben, in Rage. Denn eigentlich wissen sie über die Ungerechtigkeit ihrer privilegierten Existenz ja Bescheid. Die Unhaltbarkeit der Zustände ist offensichtlich. Aber daraus entwickelt sich keine kritische Reflexion, sondern nur stupide Verschwörungstheorien, die in der Perversion der Meinungsfreiheit gedeihen. Hass und Wut sind die Antwort unmündiger Bürger*innen, die zu lange von einem System profitiert haben, das Freiheit mit Verantwortungslosigkeit gleichgesetzt hat.

Wenn heute Liberale bis Rechtsradikale den Verlust der Freiheit bejammern, dann sollten sie ganz genau schauen, was Freiheit eigentlich bedeutet: nicht zu tun und lassen, was man gerade will, sondern die Konsequenzen der eigenen Handlungen abzuwägen. Frei sein kann nur, wer sich selbst mündig seines Verstandes bedient und Einschränkungen nicht wie ein trotziges Kind aus Prinzip ablehnt, sondern ihre Gründe durchblickt.

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