Moderne Verlegenheit

Matthäus Leidenfrost
Krater Magazine
Published in
4 min readJul 13, 2021
Bild: Kopf einer jungen Bäuerin (Kasimir Sewerinowitsch Malewitsch, 1912–13)

Was ist die Moderne? Eine einfache Definition wäre, sie als eine globale Epoche der großen Transformation zu bestimmen, die im 19. Jahrhundert ihren Ausgang genommen hat und die bis heute zu dauern scheint. Sie gilt gemeinhin als die Zeit der großen Veränderungen und Umbrüche: von den technologischen Erfindungen die unseren Alltag heute bestimmen; über die gesellschaftlichen Emanzipationsbestrebungen, die das Ziel verfolgen, eine freiere und gleichere Gesellschaft zu schaffen; die moderne Kunst, die ihre eigenen Regeln in Frage stellt; bis hin zu den globalen Konflikten und Krisen, die die Welt in ihrer Existenz zu bedrohen scheinen. Man könnte noch viele Aspekte aufzählen und würde trotzdem keinen befriedigenden Abschluss finden, um die Frage nach der Moderne zu klären. Aber vielleicht lohnt es sich ein Element herauszugreifen, das dann, pars pro toto, den Begriff erhellt.

Dieses Element ist nicht einfach zu bestimmen, da es sehr flüchtig und unscheinbar ist. Es handelt sich nämlich um eine Bewegung. “Nicht noch eine Bewegung” mag manche*r denken, aber hier geht es um Bewegungen im Denken. Wie ist diese Bewegung also beschaffen? Typisch für die Moderne wäre auf den ersten Blick vielleicht die geradeaus fortschreitende Bewegung. Diese ist uns die Naheliegendste, da sie auch mit dem unsere Gesellschaft noch immer bestimmenden Fortschrittsparadigma d’accord geht. Implizit erwarten wir, dass es mit der Zeit immer besser werden sollte, da die Menschen dazulernen, sich entwickeln und über sich hinauswachsen. Wenn sich dunkle Schatten über dieses unausgesprochene Versprechen legen, dann reagieren wir auf die Bedrohung, um dem richtigen Verlauf der Geschichte auf die Sprünge zu helfen. Auch wenn heute eine gewisse Zwiegespaltenheit aufgrund krisenhafter Ereignisse herrscht, bestätigt diese Enttäuschung doch, dass wir uns um den rechtmäßigen Gang zum Guten betrogen fühlen.

Aber ein solches geradliniges Streben würde der Moderne doch nicht gerecht werden, da sie sich ja gerade dadurch auszeichnet, ihre eigenen Prämissen zu hinterfragen. Die Infragestellung aller Voraussetzungen, die Kritik am Bestehenden, das seine Legitimation nur aus seinem kontingenten Bestehen, der Tradition, gewinnt, ist wohl eine der größten Tugenden des modernen Denkens. Wie genau es zu diesem Legitimationszwang gekommen ist, ist schwierig festzustellen, aber einen wichtigen Anteil daran hat vermutlich die Aufklärung, also die philosophische Strömung, deren Hauptvertreter Immanuel Kant das Motto prägte, sich seines Verstandes selbst zu bedienen. Gemeint ist damit, keine Urteile zu akzeptieren, die man nicht selbst durch den freien Vernunftgebrauch getroffen hat. Das löst eine Welle der Reflexion auf die Begründungen aus, die alles fraglich werden lässt. Durch diesen Leitsatz ist die Aufklärung nicht wirklich positiv definiert, es gibt keine Inhalte zu denen man sich bekennen könnte, kein Wesen, sondern nur die Form des Denkens selbst. Michel Foucault hat in Anlehnung an Kants Überlegungen vorgeschlagen, die Aufklärung daher nicht als eine Summe von bestimmten Überzeugungen zu fassen, sondern als eine Haltung. Eine Haltung, die sich dadurch auszeichnet, dass sie nichts Gegebenes akzeptiert und somit immer wieder den Blick zurück auf ihre eigenen Voraussetzungen wirft, und sich somit kreisförmig bewegt.

Um zu verstehen warum mir hier der Begriff Bewegung so wichtig erscheint, muss man vielleicht kurz den Philosophen des bewegten Denkens — G.W.F. Hegel — bemühen. In seinen systematischen Werken unternimmt er große Anstrengung, sich der Wahrheit anzunähern und nimmt uns mit, dem Gang seiner Überlegungen zu folgen. Dabei bemerken wir, dass unsere Vorstellung der Wahrheit, aufgrund der ihr zugrundeliegenden Widersprüche, immer wieder angepasst werden muss. Aus der Negation, also dem, was die Wahrheit nicht ist, schließen wir auf eine neue Definition, die sich dann auch wieder bewähren muss: das ist Hegels berühmte Dialektik. Aber es handelt sich dabei eben nicht um einen linearen Fortschritt, denn am Ende, in der absoluten Idee, erkennen wir, dass das eigentlich Wahre, nichts anderes ist, als die uns nun gegenständlich gewordene Bewegung unseres Denkens selbst. Es gibt keinen Inhalt der Wahrheit, kein zu entblößendes Mysterium, sondern nur ihre Form. Und zwar die Form, der sich immer wieder um ihre eigene Achse drehenden Vernunft, die einem Hund gleicht, der seinen eigenen Schwanz jagt, und erst beim letzten schmerzhaften Biss erkennt, dass er es selbst ist, den er jagt. Anders gesagt, Subjekt und Objekt der Suche nach der Wahrheit verschmelzen letztendlich miteinander im Denken, das sich selbst denkt.

Was bringt diese Einsicht? Auf den ersten Blick: Nichts. Aber eigentlich ist sie Ausdruck und vielleicht auch Auslöser unserer tiefsten Überzeugungen. Die Auflösung alles Festen und Bestehenden, das was man als die progressive Kritik an der Gesellschaft verstehen kann, lässt uns letztendlich keine positiven Inhalte mehr formulieren. Jegliche Festsetzung, zum Beispiel die Geschlechterdichotomie von Mann und Frau, beruht letztendlich auf kontingenten Gründen. Insofern wird die Aufrechterhaltung solcher Unterschiede, die nicht unbezweifelbar sind, in Frage gestellt. Die Machtstrukturen werden sichtbar gemacht und es wird möglich die kontingente Ordnung anzugreifen.

Aber aus dieser zu bejahenden Verflüssigung von gesellschaftlichen Konventionen, dieser immer wieder am Bestehenden ansetzenden Kritik, folgt auch die Verlegenheit uns selbst zu bestimmen. Niemand kann uns mehr sagen, was wir sind. Die herkömmlichen Kategorien wie Nationalität, Herkunft, Geschlecht sind in ihrer Willkürlichkeit hinfällig geworden. Darin liegt eine überwältigende Freiheit. Aber in ihrem immer schnelleren bodenlosen Kreisen, kann die Moderne zu Schwindel führen. Dann versucht man sich an den zerfließdenen Bruchstücken festzuhalten. Die Reaktion ist durchaus naheliegend. Die Angst davor Nichts zu sein, führt zu Überidentifikation mit Identitäten, die ihre Festigkeit durch die Diskriminierung Anderer gewinnen. Dabei wäre es doch moderner und einfacher, sich dem Kreisen hinzugeben und die Ruhe im Auge des Orkans zu finden.

--

--