Schwierigkeiten des Denkens

Matthäus Leidenfrost
Krater Magazine
Published in
5 min readJan 14, 2022
Bild: Meditation (Alexej von Jawlensky, 1934)

Robert Musil, ein genauer Beobachter und Beschreiber, unternimmt in seinem “Mann ohne Eigenschaften” unter anderem den Versuch, dem Denken an sich auf die Spur zu kommen. Dabei ist ihm klar, dass dieses Unterfangen, einen denkenden Menschen wiederzugeben, zu den Schwierigsten der Literatur gehört. Die Gedanken, wenn sie einmal gedacht, ausgesprochen oder zu Papier gebracht sind, haben mit dem eigentlichen Denken, mit ihrem in die Welt kommen, nicht mehr viel gemein. Sie sind veräußert und starr im Vergleich zu der Flüssigkeit des Denkens selbst und verhalten sich knochentrocken zur vorausgehenden Lebendigkeit. Das Problem besteht also darin, dass wir anderen niemals unser Denken mitteilen können, sondern immer nur die Produkte, die daraus geworden sind. Aber selbst in der Introspektion, im reflexiven Verhalten zum eigenen Denken, gelingt es nicht die Entstehung fassbar zu machen. Insofern handelt es sich nicht nur um ein Problem der Kommunikation mit den Anderen sondern auch um eine Erfahrung der Andersheit in uns selbst. In der innersten Sphäre der Eigenheit, in meinem Denken, ist gar nicht so klar wer denkt oder wie gedacht wird.

Gerade der Einfall oder die Idee, also der Moment, in dem sich eine gedankliche Neuheit bemerkbar macht, die uns augenscheinlich aus sich selbst heraus überkommt, stellt die klassische Überzeugung vom denkenden Ich in Frage. Musil beschreibt diese Erfahrung, die man früher Inspiration und später Intuition nannte, als etwas Unpersönliches. Denken ist ein Raum, in dem, wie Musil schreibt, Affinitäten und Zusammengehörigkeiten der Sachen selbst aufeinandertreffen. Insofern überkommt uns ein “leicht verdutztes Gefühl …, daß sich die Gedanken selbst gemacht haben, statt auf ihren Urheber zu warten.” Für Musil besteht die Qualität des guten Denkers, der guten Denkerin, gerade in der Abwesenheit von Eigenschaften und dem Zurückhalten der Eigenheit im Prozess des Denkens. Die Kunst besteht also darin, sich beim Denken nicht selbst im Wege zu stehen. Dadurch kommt es zur wahren Flüssigkeit und Beweglichkeit, die unbehindert von starren Überzeugungen und Vormeinungen den Strom des Denkens oder des reinen Bewusstseins ausmacht. Denken wird so zu einer Einübung der Abgabe der Kontrolle über den Vorgang selbst. Gedanken zuzulassen und sie zu drehen und zu wenden ohne sie zu beschädigen wird zur Hauptaufgabe.

Hier klingt etwas an, das Roland Barthes den Tod des Autors genannt hat: Die sinnstiftende transzendente Instanz eines übergeordneten Denkens wird in Abrede gestellt. Erst in der Retrospektive lässt sich ein*e Autor*in als der*die Verfasser*in einer Sammlung von Gedanken konstruieren. Damit ist aber eine Funktion des Textes gemeint, und nicht dessen Urheberschaft. Ähnlich also wie bei Musil, der ja selbst Autor ist und über das eigene Schreiben nachdenkt und das Denken selbst als eigentlich unfassbaren und unpersönlichen Prozess beschreibt. Um die Unbeschreiblichkeit des Vorgangs zu umgehen greift Musil zur Metapher, zur Umschreibung: Ähnlich dem Hund, der mit dem zu breiten Stock durch die Tür will, versuchen die Gedanken über die Schwelle zu treten. Und wie die Hunde, so wissen auch wir nicht genau, was wir eigentlich tun, außer die Dinge ein wenig zu drehen und zu wenden, bis sie schließlich, zur eigenen Überraschung, passen. Zu erklären, wie das genau funktioniert, stellt auch für die Psychologie eine anhaltende Schwierigkeit dar. Dort spricht man von der Black Box des Denkens, in die Reize eingehen und aus der Verhalten folgt, aber das Dazwischen lässt sich naturwissenschaftlich nicht fassen.

All diese Ansätze verbindet das Problem, eine Kausalität herzustellen zwischen dem Denken selbst und den Gedanken, also zwischen dem Prozess und dem Produkt. Irgendwie müssen diese ja miteinander verbunden sein, aber in dem Moment wo der Gedanke gefasst wird, verliert er seine ursprüngliche Gegenstandslosigkeit und wird zum Objekt des Denkens. Irgendwo findet die Scheidung statt, die wir mit Jaspers die Subjekt-Objekt-Spaltung nennen können. Für Jaspers ist damit eine unüberwindbare erkenntnistheoretische Grundstruktur des menschlichen Bewusstseins begründet. Dieses findet immer nur in einem Verhältnis von Subjekt zu Objekt statt, die sich dadurch gegenseitig konstituieren. Auch uns selbst können wir im Selbstbewusstsein eben immer nur gegenständlich wahrnehmen, aber dabei verhalten wir uns eben wiederum nur zu einem von uns geschiedenen Objekt. Darin ist das Problem aller Bewusstseinsphilosophie begründet, die immer zwischen den Polen des Festen, der Position und ihrer Aufhebung, der Negation zu vermitteln sucht. Aber Musil kommt gar nicht in diese Verlegenheit, er geht lieber empirisch vor und beobachtet. Vor der Formierung des Subjekts und des Objekts steht eben der unpersönliche Kopfraum, in dem Gedanken sich selbst machen können.

Vielleicht ist es Musil auch gelungen eine Grunderfahrung der Moderne zu beschreiben, die uns bis heute beschäftigt. Geprägt ist diese Epoche von einer Vorstellung des rationalen und freien Ichs auf der einen Seite, auf dessen spekulative Existenz wir auch unser gesamtes politisch-ökonomisches System aufgebaut haben und dem Gefühl des Entgleitens dieser subjektiven Einheit auf der anderen Seite. Wenn das rationale Subjekt im Sinne Descartes der Grundstein der Aufklärung ist, dann ist die Aufklärung zugleich sein Untergang. In ihrem Fortgang bereinigt sie nach Adorno und Horkheimer die Welt von allen metaphysischen Resten und wendet sich schlussendlich gegen sich selbst. Und in dieser Selbstwendung verfährt sie auch mit dem Subjekt gnadenlos, wenn sie in ihm einen letzten Mythos erkennt, den wir uns um unserer selbst Willen erzählen. Bei genauester Betrachtung lässt sich nichts identifizieren, was diese letzte Instanz als positiv zu begründende feststellen würde. Der scheinbare Ausgangspunkt des Denkens selbst, implodiert in ein unfassbares Nichts. Ein Abgrund tut sich auf, aus dem uns die Gedanken überkommen, die wir nicht selber sind.

Vielleicht kann erst, wenn der letzte Mythos, das Ich, zerschlagen ist, der Mensch sich aus den Trümmern neu zusammenfügen. Nicht als Ausgangspunkt sondern als Endpunkt einer Vielzahl von verschiedenen Anlagen und Vermögen die in dem Kopfraum aufeinandertreffen. Selbst Herr im eigenen Kopfe zu sein, ist nicht selbstverständlich sondern eine ständige Anstrengung die uns das Leben stellt und eine Geschichte die wir uns selbst erzählen. Descartes cogito ergo sum, das paradigmatisch für die Neuzeit gilt, ist im Sinne Musils umzukehren: Ich denke, also bin ich nicht. Im Moment größter Abstraktion von allen zufälligen Eigenschaften, in der Auflösung der Person, wird eine eigentümliche Fremdheit im Strömen der reinen Negation erfahren, ein kernloser Kern in der mystischen Versenkung des totalen Denkens.

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