Unwirkliches wagen

Matthäus Leidenfrost
Krater Magazine
Published in
4 min readApr 29, 2021
Bild: Senecio (Paul Klee, 1922)

Ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit beschleicht jene, die sich fragen, was mit uns und unserer Welt überhaupt noch anzufangen sei. Es scheint, als gäbe es kaum noch Möglichkeiten, sich dem zu entziehen, was sich uns als Wirklichkeit aufdrängt. Das Leben ist, was es ist, sagen die Realisten, und sind stolz auf diese Tautologie. Es geht darum sich im Leben zu behaupten, in dem man einsieht, was die Tatsachen sind und sich diesen stellt. Die Tatsachen, das sind die Umstände unter denen wir leben, es ist ein Blick auf die Welt, bereinigt von allen unwirklichen Störungen. Vernünftig sein, das heißt die Dinge nehmen wie sie sind, ihnen nicht mehr zuzusprechen als sie sind, nämlich bloß austauschbare Gegenstände, die ihren Wert nur in ihrem Tauschwert haben. Ein Baum, ein Bild und sogar ein Mensch haben ihren wirklichen Wert nur, insofern sie eintauschbar für andere Gegenstände sind. Man ist geneigt dieser Einschätzung zuerst zu widersprechen und zu sagen, dass Dinge auch einen Wert an sich haben, aber dieser Wert an sich ist rein subjektiv. Niemand würde dir ein Auto gegen dein subjektiv wertvollstes Gedicht tauschen. Was wir also als wirklich wertvoll erachten, ist nur was uns in der Wirklichkeit wert bringt.

Der Kulturkritiker Mark Fisher hat diese triste Wirklichkeit treffend beschrieben und dabei erkannt, dass uns so die Möglichkeit der Kunst abhanden gekommen ist. In einer Zeit, in der man sich das Ende der Welt eher vorstellen kann, als das Ende des Kapitalismus, ist Kunst nur mehr Produkt der Kulturindustrie, die nicht versucht etwas mit eigenem Wert zu erschaffen, sondern nur an dem Tauschwert des Werkes interessiert ist. Aus welchem Grund auch immer man Kunst machen mag, man wird schnell feststellen, dass nur die Kunst wirkliche Kunst ist, die einem wirklichen Wert einbringt. Der Erfolg gibt denen recht, die sich am besten verkaufen. Nur leider führt das zu einem Verlust der eigentlichen Kunst, wie Fisher festhält. Eigentlicher Kunst, die sich nicht nach der Wahrscheinlichkeit ihres Erfolges richtet, sonder sich dem Risiko der Unwahrscheinlichkeit aussetzt.

Auch Nietzsche hat schon die Kultur seiner Zeit kritisiert. Die Philister seiner Zeit waren stolz auf ihre deutsche Kultur und fanden Erbauung an den Werken der Klassik. Dabei verkannten sie aber den Wert der Kunst. Indem sie sie als abgeschlossenes Werk kanonisierten, häuften sie nur Totes aufeinander. Der eigentliche Wert lag nicht in den Resultaten der Vorherigen, sondern in ihrem sturen Versuch. Auch bei Nietzsche sind die Philister stolz auf ihr Verständnis der Wirklichkeit, auf das die Kunst bloß als ästhetisches oder unterhaltendes Produkt aufgesetzt ist. Wie die Philister unterschätzen wir die Kunst. Wir glauben nicht mehr, dass Kunst tatsächlich etwas bewirken könne, dass wir die Wirklichkeit verändern könnten. So bleibt uns heute wie damals nur die Ironie, die aus der Verzweiflung erwächst die wir verspüren, wenn wir uns der Kunst zuwenden, ohne an ihre Wirklichkeit zu glauben. Die ironische Distanz mit der wir die Welt betrachten, ist Folge der Machtlosigkeit, die wir verspüren und die jede Veränderung von vornherein sinnlos erscheinen lässt. Kunst wird so nurmehr zur Linderung konsumiert.

Aber das war nicht immer so. Nietzsche erinnert uns an eine Zeit, in der Wirklichkeit und Kunst noch nicht getrennt waren. Als der Mythos die Welt hervorbrachte waren Kunst, Kult und Wirklichkeit eins. Damals bedeutete die Welt mehr als die Summe ihrer Teile und Leben und Überleben, Technik und Kunst waren noch nicht getrennt. Seit damals sind wir Meister des Überlebens geworden, Beherrscher der Natur durch die Technik. Aber dadurch ist das Leben selbst bloß das Lösen einer Gleichung geworden. Wir können das Überleben vielleicht erträglich machen und es in die Länge ziehen, aber es fehlt der Grund. Leider ist es unmöglich einfach zu Vorherigem zurück zu kehren und das ist auch gut. Denn man darf nicht dem Fehler der Rückprojektion erliegen, die nur, weil das Jetzt makelhaft ist, das Vergangene verklärt. Aber es geht auch gar nicht darum in irgendeine mythische Vorzeit zurück zu kehren, sondern darum die Wirklichkeit zu sabotieren.

Das kann gelingen in dem man das Leben zur Kunst macht. Das bedeutet aber nicht, sich der Künstlichkeit hinzugeben, also die Wirklichkeit zu verschönern und zu verkitschen. Es bedeutet das Leben zu wagen. Sich dem Unwahrscheinlichen hingeben. Denn Kunst, wahre Kunst, ist das Unwahrscheinlichste. Sie erwächst der atemberaubenden Fähigkeit des Menschen Dinge aus dem Nichts zu erschaffen. Als Beethoven sich hinsetzte, um fast taub seine letzte Symphonie zu schreiben, hätte er es nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit und mit Blick auf die Wirklichkeit, besser sein lassen sollen. Aber der Mensch hat die Fähigkeit, sich der Wahrscheinlichkeit zu widersetzen und das Unvorstellbare hervorzubringen. Das ist der Segen des schöpferischen Prozesses, dass man am Anfang nicht weiß, was am Ende herauskommt. Nämlich mehr, als anfangs da war, denn das Leben ist eben keine Gleichung. Es kommt ein Mehr in die Welt und macht die Welt zu etwas, dass sie zuvor nicht war.

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