Warum die Religion nicht verschwinden wird

Auch wenn die institutionelle Religion mancherorts an Bedeutung verliert — das religiöse Bedürfnis der Menschen wird bleiben.

Leon Gordo
Krater Magazine
7 min readOct 22, 2021

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Der Griff nach dem Überweltlichen. Source: Heikenwaelder Hugo, Austria, Email : heikenwaelder@aon.at, www.heikenwaelder.at, CC BY-SA 2.5, via Wikimedia Commons

Der Begriff “Säkularisierung” kann auf verschiedene Weisen verstanden werden. Zum einen beschreibt er die Trennung von Staat und Religion. Eine andere Verwendung versteht den Begriff als einen geschichtlichen Prozess, welcher in einer allmählichen Verdrängung der Religion durch die Aufklärung und Wissenschaft besteht. Eine Betrachtung der gegenwärtigen Konfessionszugehörigkeit der Weltbevölkerung zeigt jedoch, dass die Theorie hinter diesem Säkularisierungsbegriff nicht viel mit der tatsächlichen weltweiten Entwicklung von Religiosität zu tun hat. In den meisten Ländern der Erde ist der Großteil der Bevölkerung, trotz Jahrhunderten aufklärerischer Philosophie und einem weit verbreiteten wissenschaftlichen Weltbild, immer noch religiös.

Selbst wenn man sich auf einige Länder Nordwest-Europas oder China konzentriert, in denen sich ein bedeutender Anteil der Bevölkerung als konfessionslos, religiös ungebunden oder atheistisch versteht, scheint die Entwicklung nicht für die oben genannte Säkularisierungsthese zu sprechen. Aus religionswissenschaftlicher Sicht vollzieht sich in diesen Ländern vielmehr ein Prozess, der als “religiöse Individualisierung” bezeichnet wird. Hierunter wird zwar die Abkehr von religiösen Institutionen, nicht aber von der Religiosität an sich verstanden. Vor allem der Begriff “Spiritualität” spielt bei dieser Entwicklung eine wichtige Rolle. Viele Menschen verstehen sich mittlerweile als spirituell, nicht aber als religiös. Der Begriff dient offenbar als Eigenbezeichnung, um sich von der Religion abzugrenzen. Eine nähere Betrachtung spiritueller Weltbilder zeigt jedoch meistens Vorstellungen, die sich kaum von religiösen Ansichten unterscheiden lassen.

Konfessionslosigkeit oder eine persönliche Distanzierung von Religion lassen sich demnach nicht mit Areligiosität gleichsetzen. Sogar ein Bekenntnis zum Atheismus muss hiermit nicht gleichbedeutend sein, denn, wie Ronald Dworkin in seinem Buch “Religion ohne Gott” gezeigt hat, gibt es auch Formen von religiösem Atheismus. Die steigende Zahl von Menschen, die aus der Kirche austreten, sich als nicht-religiös oder atheistisch bezeichnen, sollte deshalb nicht als eine Bestätigung der oben genannten Säkularisierungsthese missverstanden werden. Die große Mehrheit der Menschheit scheint weiterhin an Weltbilder zu glauben, in denen ein Bezug zu irgendeiner Transzendenzvorstellung eine wichtige Rolle spielt.

Die Idee, dass sich Religion und Wissenschaft zwangsläufig in einem Konflikt über die Deutungshoheit der Welt befinden, scheint sich hartnäckig in den Köpfen vieler Menschen festgesetzt zu haben. Angesichts der Tatsache, dass viele religiöse Institutionen für lange Zeit diese Deutungshoheit beanspruchten und sich anmaßten, Wissenschaft und Philosophie zu zensieren oder zu verbieten, ist diese Vorstellung auch nicht restlos unverständlich. Es ist allgemein bekannt, dass viele Religionen lange Zeit den Anspruch gestellt haben, die materielle Welt und Vorgänge in der Natur zu deuten und damit aufklärerischer Philosophie und Wissenschaft einige Hindernisse in ihrer freien Entwicklung beschert haben. Auch lässt sich nicht von der Hand weisen, dass mit dem Prozess, den der Soziologe Max Weber als “Entzauberung der Welt” bezeichnet, dieser von den Religionen erhobene Deutungsanspruch zurückgedrängt wurde und sie sich gezwungenermaßen auf ihr eigentliches Kernanliegen zurückbesinnen mussten.

Neben diesen tatsächlichen historischen Auseinandersetzungen ist die Idee von dem Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft wohl auch maßgeblich dem Umstand geschuldet, dass beide Phänomene eine gemeinsame Wurzel haben. Diese Wurzel scheint interessanterweise in einem zentralen Aspekt der menschlichen Natur zu liegen. Denn sowohl die Religion als auch die Wissenschaft können bis zu einem gewissen Grad als Produkt des menschlichen Verlangens nach Sinn und Antworten verstanden werden.

Eine besondere Eigenschaft des intelligenten Bewusstseins, das wir uns selbst als menschliche Spezies zuschreiben, ist offenbar die Erkenntnis von und die Selbstreflexion über die eigene Existenz. Ein Nebenprodukt dieses Selbstbewusstseins scheint das Bedürfnis zu sein, die eigene Existenz verstehen, bzw. dieser Existenz irgendeinen Sinn geben zu wollen. Die Suche nach Sinn schlug dabei historisch gesehen scheinbar zwei unterschiedliche Richtungen ein. Einerseits trat sie als der Versuch auf, die materielle Welt verstehen und beherrschen zu wollen und mündete in dem, was wir heute als Wissenschaft bezeichnen können. Andererseits drückte sie sich auch als der Versuch aus, in der gesamten Existenz einen allem zugrundeliegenden Grund, der außerhalb der verstehbaren Welt verortet wird — man könnte sagen, einen transzendenten Sinn — zu entdecken. Diese Richtung entwickelte sich zu dem, was wir Religion nennen.

Betrachtet man die Geschichte dieser beiden Versuche, der Welt und der Existenz einen Sinn zu geben, dann fällt auf, dass sie lange Zeit nicht klar voneinander zu unterscheiden waren und zudem oftmals von den selben Personen betrieben wurden. Dass sich spätestens seit dem 20. Jahrhundert eine zunehmende Trennung der beiden Ansätze herauskristallisiert, ist dabei ein bemerkenswertes Phänomen, das tatsächlich mit dem Begriff “Säkularisierung” betitelt werden kann. Die Entwicklung der modernen Wissenschaft muss wohl auch deshalb als so einflussreich betrachtet werden, weil sie den Versuch darstellt, die Erklärung der verstehbaren Welt strikt von der Suche nach einem transzendenten Sinn zu trennen. Die Erfolgsgeschichte, die die Wissenschaft im Laufe des letzten Jahrhunderts erfuhr, kann als ein Zeugnis dafür betrachtet werden, dass diese Trennung ein lohnenswerter Schritt war.

Doch die Trennung zeigt auch deutlicher als je zuvor, dass Wissenschaft und Religion zwei unterschiedliche Anliegen verfolgen. Auch für die Religion war die Loslösung von der Wissenschaft das beste, was ihr passieren konnte. Die offensichtliche Überlegenheit wissenschaftlicher Methoden zur Erklärung der Welt brachte die Religion nämlich zwangsläufig dazu, sich auf das eigentliche Kernanliegen ihrer Sache zu konzentrieren. Dieses Kernanliegen, das wie bereits erwähnt in dem Versuch liegt, der Existenz einen transzendenten Sinn zu verleihen, ist als das eigentliche Erfolgsrezept der Religion zu verstehen und bildet zugleich den wichtigsten Unterschied zur Wissenschaft. Denn die Wissenschaft kann und will keine Antworten auf den transzendenten Sinn der Existenz liefern, sondern sich mit der Erklärung und Erforschung der materiellen Welt bzw. den Phänomenen der Natur beschäftigen. Religion befindet sich deshalb auch nicht im Konflikt mit der Wissenschaft und die Annahme, dass sich religiöse und wissenschaftliche Weltbilder gegenseitig ausschließen, ist ein Trugschluss.

In Anbetracht dieser unterschiedlichen Anliegen kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass es sich bei der religiösen Suche nach Sinn um eine bloße Lückenfüllerfunktion handelt. Denn die Spekulation über einen transzendenten Sinn des Daseins ergibt sich weniger aus den noch nicht erforschten, aber grundsätzlich verstehbaren Aspekten des Universums, sondern aus dem Gefühl, dass es ein zugrundeliegendes Prinzip gebe, das schon aufgrund der Beschaffenheit unseres menschlichen Bewusstseins niemals greif- und verstehbar sein wird. Transzendenz bedeutet diesbezüglich also nicht etwas, das noch darauf wartet entschlüsselt und erforscht zu werden, sondern etwas, das sich grundsätzlich dem Verstehbaren entzieht und demnach für immer ein Mysterium bleiben wird.

Eine grundsätzliche Änderung dieser Situation ist deshalb auch nicht durch eine fortlaufende Weiterentwicklung wissenschaftlicher Erkenntnisse denkbar. Vielmehr müsste sich der Mensch hierfür auf eine neue Bewusstseinsebene erheben, in welcher eine Suche nach einem transzendenten Sinn überflüssig geworden ist, weil sie sich dem Menschen nicht mehr aufdrängt. Abgesehen davon, dass die Vorstellung, einen solchen Zustand durch wissenschaftlichen Fortschritt zu erreichen, zwar ein persönliches Ideal, jedoch keine allgemeine Agenda der Wissenschaft darstellen kann, scheint eine solche Perspektive sich kaum noch von den teleologischen Visionen der meisten Religionen zu unterscheiden.

Es ist also gerade die Ausklammerung der Frage nach einem transzendenten Sinn oder einer endgültigen Erklärung, welche der Wissenschaft ihre Eigenständigkeit verleiht und sie nicht zu einer weiteren Spielart der Religion werden lässt. Die Wissenschaft wird die Religion also nicht verdrängen, denn das Ende der Suche nach einem transzendenten Sinn ist, wenn überhaupt, durch die schon religiös-teleologisch anmutende Idee eines weiterentwickelten Menschen denkbar, welcher diese Suche überwunden bzw. die letzten Antworten gefunden hat.

Zum Abschluss muss jedoch noch eine entscheidende Frage gestellt werden: Dass der Mensch ein Wesen ist, welches nach irgendeinem Sinn für seine Existenz verlangt und durch diesen Umstand auch die Frage nach einem transzendenten Sinn entsteht, scheint sich aus den offensichtlich gegebenen Umständen der menschlichen Situation zu ergeben. Doch suchen wirklich alle Menschen nach einem Sinn, der außerhalb der verstehbaren Tatsachen existiert? Offensichtlich ist dies nicht der Fall. Viele Menschen geben ihrem Leben durch den ausschließlichen Bezug zu einer verstehbaren Welt Sinn und leben damit ein glückliches Leben. Geht der Bezug auf einen solchen weltlichen Sinn mit der konsequenten Ausklammerung oder Negation der Suche nach einem transzendenten Sinn einher, dann lässt sich hierbei wohl am besten von einem nicht-religiösen Weltbild sprechen.

Eine Ausklammerung ist hierbei nicht mit einer Negation gleichzusetzen. Die Ausklammerung bedeutet, dass sich die entsprechende Person schlichtweg nicht mit der Frage nach einem transzendenten Sinn beschäftigt. Die Gründe hierfür sind wahrscheinlich so unterschiedlich wie die Menschen, die sie anführen. Ausklammerung bedeutet gleichzeitig keine Position zu dieser Frage zu beziehen und kann sowohl aus einem philosophisch-agnostischen Standpunkt als auch mangelndem Interesse erwachsen. Die Frage nach einem transzendenten Sinn verschwindet dadurch jedoch nicht, sondern wird vielmehr ignoriert.

Bei der Negation wird die Suche und manchmal schon die Frage nach einem transzendenten Sinn, oftmals in Bezug auf verschiedene Philosophien, als absurd, irrational, überflüssig oder als Anzeichen eines psychischen Problems gewertet und deshalb abgelehnt. Dass es sich bei beiden Varianten um legitime Geistesströmungen handelt, muss hier nicht weiter diskutiert werden. Doch, wie bereits am Anfang dieses Textes gesagt wurde, scheint sich keine weltweite Entwicklung abzuzeichnen, in der sich die beschriebenen unreligiösen Weltbilder in einem Maß durchsetzen, dass sie die Religion verdrängen. Dies ist wohl am ehesten dadurch zu erklären, dass die Frage nach einem transzendenten Sinn, trotz der Entwicklung von Wissenschaft und Aufklärung weiterhin im Raum steht und ihre Beantwortung vielen Menschen ein wichtiges Anliegen ist.

Das Argument, dass jeder Mensch das Bedürfnis nach einem transzendenten Sinn durch genug wissenschaftliche Bildung und philosophische Einsicht ablegen würde, scheint wenig überzeugend, abgesehen davon, dass es alle Menschen mit diesem Bedürfnis als ungebildet oder verblendet abwertet. Ertragreicher scheint die Einsicht, dass die Frage nach einem transzendenten Sinn für viele Menschen durch Ausklammerung oder Negation nicht befriedigend behandelt wird und sie sich deshalb religiösen Ideen zuwenden. Solange die Frage nach einem transzendenten Sinn existiert, wird es deshalb zwangsläufig Menschen geben, die sie beantworten wollen und dies wird stets Raum für religiöse Spekulationen lassen.

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