Demokratie, Konsent und Selbstorganisation — wie können Wellbeing Unternehmen sich strukturieren?

Franziska Winterling
Leadership und Organisation
7 min readMar 18, 2021
Abbildung 1: Organisationsformen nach Frederic Laloux (Quelle: Eigene Darstellung)

Treiber von Nachhaltigkeit, Beschützer von Menschenrechten, faire und inklusive Arbeitgeber, Pioniere für Mental Health und Innovation gleichermaßen — Unternehmen wird in einer Wellbeing Economy einiges abverlangt. Sie sollen ein erfüllendes Ziel über Profit hinaus verfolgen, Entscheidungen zum Wohle aller treffen und das dabei erlernte Wissen über die eigenen Grenzen hinaus teilen. Um all diesen Aufgaben und Anforderungen gerecht werden zu können, braucht es vor allem zwei Dinge: Mitarbeitende und Führungskräfte, die sich diesem Ziel verbunden fühlen. Und eine Unternehmensstruktur, in der sie sich entfalten und diese Ziele vorantreiben können.

Daher setzen wir uns in diesem Beitrag zunächst mit der Organisation und Struktur von Unternehmen in der Wellbeing Economy auseinander. Im Folgenden dann mit der Rolle, die Individuen, insbesondere Führungskräfte, in diesen Strukturen spielen.

Unternehmen vs. Staat

Während nach Milton Friedman der Grundsatz galt: die “soziale Verantwortung von Unternehmen ist die Steigerung ihrer Profite”, wird diese Verantwortung in einer Wellbeing Economy deutlich erweitert und schließt auch das Wohlergehen von Mensch und Umwelt ein. Im Artikel “In Defense of Workplace Democracy: Towards a Justification of the Firm–State Analogy”¹ wird im Kontrast dazu, als Verantwortung des Staates, das Wohlergehen aller Bürger*innen gegenübergestellt. Dies legt die These nah, dass sich in einer Wellbeing Economy Unternehmen in ihren Aufgaben denen eines demokratischen Staates annähern, wie zum Beispiel das Wohlergehen aller Bürger*innen beziehungsweise Mitarbeiter*innen oder einer kollektiven Entscheidungsfindung.

Auch die weiteren Dimensionen, in denen der Artikel Unterschiede und Widersprüche zwischen Staat und Unternehmen aufzeigt, scheinen die Ansätze von Unternehmensstrukturveränderungen in einer Wellbeing Economy widerzuspiegeln.

Neben dem Ziel der Organisation stehen im Artikel an zweiter Stelle die Besitzverhältnisse. Während der Staat als öffentlicher Besitz angesehen wird und so keiner Person oder Personengruppe klar zuzuordnen ist, gehören Unternehmen doch häufig noch Gründer*innen, Investor*innen oder Aktionär*innen. Wellbeing orientierte Unternehmen sind jedoch auf der Suche nach alternativen Modellen hierzu, die ihre Organisationen in ein kollektives Besitzverhältnis bringen. In diesem Artikel gehen wir noch genauer auf das Modell des Verantwortungseigentums ein.

Des Weiteren wird die Möglichkeit einer Separierung von Besitz und Kontrolle in Unternehmen aufgezeigt. Hierbei ist jedoch fragwürdig, ob diese tatsächlich für eine langfristige Veränderung reicht, da im Endeffekt die Macht, diese Kontrolle wieder zu entziehen, bei den Besitzenden (Gründer*innen, Aktionär*innen, usw.) bleibt. Trotzdem schauen wir in der dritten und vierten Dimension genauer auf Unterschiede von Zugehörigkeit, Einverständnis und Ausstiegsmöglichkeiten in Unternehmen gegenüber dem Staat.

Im Artikel wird dabei initial der Widerspruch erklärt, Mitarbeitende seien freiwillig in einem Unternehmen und gäben daher nur durch ihre Anwesenheit ihre Zustimmung zu den Handlungen des Unternehmens, beziehungsweise könnten sie dieses verlassen, sollten sie nicht mehr einverstanden sein. In einem Staat sei dies deutlich komplizierter, weshalb Bürger*innen das Recht bräuchten, sich darüber hinaus äußern und in Entscheidungen einbringen zu können.

In Hinblick auf Unternehmen wird in diesem Kontext die Komplexität nicht beachtet wird, dass viele Mitarbeitende aus Gründen finanzieller Sicherheit nicht einfach ein Unternehmen verlassen können und dass häufig auch keine Transparenz über die Handlungen des Unternehmens herrscht, denen sie — und sei es auch nur durch ihre Anwesenheit — zustimmen könnten. In der Wellbeing Economy wird jedoch auch der Blick auf die “dem Unternehmen Zugehörigen”, also das Pendant zu Bürger*innen in einem Staat, erweitert. Nicht nur die formell angestellten Mitarbeitenden sind von den Handlungen eines Unternehmens betroffen — ebenso sind es Partner*innen und deren Angestellte in Produktions- und Lieferketten, die Menschen, die an den Standorten des Unternehmens leben und natürlich die Umwelt. Diese und weitere Gruppen haben aktuell in den meisten Unternehmen nicht die Möglichkeit ihre Zustimmung zu geben oder auch nur gehört zu werden. Hier liegt ein weiterer entscheidender Ansatzpunkt der Wellbeing Economy. Beispielsweise durch Stewardship Modelle soll diesen Gruppen eine Stimme und Entscheidungsmacht im Unternehmen gegeben werden.

Die Wellbeing Economy Alliance nennt als ein Beispiel für dieses Modell das Unternehmen Riversimple, eine Autohersteller, der als seine Mission definiert hat, die Zukunft der Mobilität so zu gestalten, dass sie mit keinerlei Schaden für den Planeten einhergeht. Riversimple wird von einem Stewards Board geführt, in welchem sechs Gruppen repräsentiert werden, die alle eine gleichwertige Stimme haben. Diese Gruppen sind Umwelt, Kund*innen, Gemeinschaften, Mitarbeitende, Investor*innen und kommerzielle Partner. Unternehmensgründer Hugo Spowers sagt dazu: “Kapitalsanteile und Kontrolle werden getrennt und separat betrachtet — der Besitz aller Anteile bedeutet für uns nicht die Kontrolle des Unternehmens.”²

Die letzte Dimension, die als unterscheidende zwischen Staat und Unternehmen aufgeführt wird, ist die Expertise. Hier wird das Argument gebracht, die Wählerschaft eines Landes benötige weniger Expertise als die Entscheidungstragenden in einem Unternehmen. Die Frage, die damit einhergeht, ist natürlich, welche Expertise für “gute Entscheidungen” in einem Unternehmen tatsächlich benötigt wird. Solange Finanzen das einzige Erfolgskriterium sind, mag es stimmen, dass auch die Personen mit den stärksten finanziellen Interessen an der Organisation als Entscheidungstragende geeignet sind.

Doch in einer Wellbeing Economy werden Entscheidungen nach einer Vielzahl weiterer Kriterien — gesunde Arbeitsbedingungen, soziale Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit — getroffen. Damit geht in vielen Organisationen die Annahme einher, dass Entscheidungen am besten dort getroffen werden, wo sie auch umgesetzt werden, also in den operativen Ebenen des Unternehmens statt durch ein höhergestelltes Management. Damit stellt sich die Frage nach Hierarchien und Struktur, auf die wir im Folgenden genauer blicken.

Die nächste Stufe der Organisationsevolution

Abbildung 2: Reinventing Organizations und die Teal Organisation (Quelle: Eigene Darstellung)

Welche Art der Unternehmensform eignet sich nun konkret dafür, all die Prämissen einer Wellbeing Economy mit Leben zu füllen? Hierfür haben wir uns mit Frederic Lalouxs “Reinventing Organisations”³ beschäftigt, insbesondere den integralen oder Teal Organisationen. Laloux geht davon aus, dass mit jedem neuen Entwicklungsstadium der Menschheit auch neue Organisationsformen und Strukturen einhergingen. In den letzten Jahrzehnten sieht er hierbei besonders in Konzernen, leistungsorientierten orangenen Organisationen, ein rein ergebnis- und profitkonzentriertes Modell, auf der anderen Seite in grünen Organisationen einen vollkommenen Fokus auf Werte und Gleichheit, die es beinahe unmöglich macht, Geschäftsmodelle zu skalieren und professionalisieren.

Das neueste Organisationsmodell ist in seinem Blick die integrale oder Teal Organisation. Diese geht auf Basis des Individuums mit einer Ablösung vom eigenen Ego einher und der Erkenntnis, Teil eines größeren Organismus zu sein, zu dessen Wohlergehen jede Einzelperson einen Beitrag leisten kann und sollte. Laloux beschreibt in diesem Zusammenhang auch, dass Anerkennung, Erfolg und finanzieller Reichtum zwar als angenehme Nebenerscheinungen betrachtet werden, jedoch nicht länger als Antrieb des Handelns genügen. Menschen in integralen Organisationen haben aus seiner Sicht “Ambitionen, ohne ambitioniert zu sein.”

Das damit einhergehende Organisationsmodell der integralen Organisation beruht laut Laloux auf drei Prinzipien:

  1. Macht liegt bei allen Mitarbeitenden gleichermaßen (Selbstorganisation vs. Empowerment)
  2. Eine werteorientierte Kultur und eine inspirierende Sinnausrichtung prägen das Unternehmen
  3. Verschiedener Interessengruppen werden als Ratgebende in alle Entscheidungen integriert

Ein großer Teil des Erfolgs von integralen Organisationen liege in einem vertrauensvollen Umgang mit den Mitarbeitenden. Laloux geht davon aus, dass diese, wenn ihnen Führungsaufgaben und Verantwortung übergeben werden, beides auch annehmen und sich so voll entfalten können. Ein wichtiges Kriterium ist es jedoch, dass CEO oder Geschäftsführende des Unternehmens selbst die integrale Entwicklungsstufe erreicht haben und damit voll hinter der Ausrichtung und häufig Transformation des Unternehmens stehen.

Hier einige konkrete Beispiele von Organisationsstrukturen in integralen Organisationen:

  • Unabhängig von der gesamten Größe besteht die Organisation aus kleinen (bis zu 20 Personen), selbstorganisierten Teams, die sowohl administrative als auch inhaltliche Aufgaben übernehmen (keine oder kaum zusätzliche Abteilungen für HR, Finance, etc.)
  • Regionale Manager oder ein CEO können für Rat bei Entscheidungen oder Konflikten hinzugezogen werden, halten aber keine Entscheidungsgewalt.
  • Owner*innen von Themen haben auch die Entscheidungsgewalt, in einigen Organisationen müssen sie sich vorher den Rat aller von der Entscheidung betroffenen einholen, können im Endeffekt jedoch selbst, frei entscheiden.
  • Integrale Organisationen gehen nicht von einer Gleichheit aller Mitarbeitenden aus, sondern geben Flexibilität auf Basis von Interessen und Talenten.
  • Dementsprechend ist kein Konsens aller das Ziel sondern Konsent, nach den Prinzipien der Holakratie, also das Ausgleichen von starken, begründeten Widersprüchen.
  • CEOs oder Leader in integralen Organisationen beschreibt Laloux als “person holding the broadest perspective”. Sie werden daher für große Entscheidungen zu Rate gezogen, können diese allerdings nicht treffen.
  • Integrale Organisationen handeln ausgehend von der “Theory X”: Menschen verhalten sich so, wie sie gesehen und behandelt werden.
  • In integralen Organisationen gibt es klar definierte Company Values & Grundregeln, die nicht überschritten werden dürfen und für die Konsequenzen, bis hin zu einer Entlassung, definiert sind.
  • In vielen integralen Organisationen herrscht eine Gehaltstransparenz, beispielsweise durch eigenes und gegenseitiges Rating, Gehaltsvorschläge der Mitarbeitenden, Diskussionen im Team, etc.

Empowerment oder Selbstorganisation?

Laloux macht einen klaren Unterschied zwischen beziehungsorientierten, grünen Organisationen und den integralen, Teal Organisationen. Er schreibt: “Grün ist ein starkes Paradigma, um mit alten Strukturen zu brechen, scheitert jedoch häufig daran, praktische Alternativen zu schaffen.” Ein Hauptgrund dafür liegt seiner Meinung nach darin, dass zu große Abhängigkeit zu einer Führungsperson, die in diesen Organisationen mit einer Vaterfigur gleichgesetzt wird, besteht.

Im Kontrast dazu betont er, dass es sich bei integralen Organisation um die Distanzierung aller Ego getriebenen Hierarchien und auch Jobtitel handelt — jede Person wird als Individuum betrachtet. So findet für ihn die Entwicklung von Empowerment, welches eine Führungsperson ihren Mitarbeitenden erteilt, dieses jedoch auch wieder zurückziehen kann, zu Selbstorganisation, statt in der Strukturen ohne das Zutun einer Führungsperson in einer Art entstehen, die am besten für alle Mitarbeitenden und ihre Arbeitsabläufe funktioniert.

Im nächsten Artikel werden wir uns mit Leadership und Führungsverantwortung beschäftigen und die Frage stellen, ob komplette Selbstorganisation und eine Aufgabe jeglicher Hierarchien tatsächlich möglich ist.

¹ Hélène Landemore and Isabelle Ferreras: In Defense of Workplace Democracy: Towards a Justification of the Firm–State Analogy, Political Theory , February 2016, Vol. 44, №1, February 2016, pp. 53–81.

² The Business of Wellbeing A Guide to the Alternatives to Business as Usual, Wellbeing Economy Alliance, Januar 2020.

³ Frédéric Laloux “Reinventing Organizations — A Guide to Creating Organizations Inspired by the Next Stage of Human Consciousness”, Vahlen, April 2015.

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